Aufbau West
Auf der Suche nach einer neuen Heimat gelangten viele Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg ins Ruhrgebiet. Doch willkommen waren sie dort nicht, hatte doch das Ruhrgebiet unverhältnismäßig schwer unter den Folgen des Krieges zu leiden. Erst mit dem Beginn des Wirtschaftswunders begann eine erfolgreiche Integration der Flüchtlinge.
"Erschöpft von der Flucht und der Ungewissheit, (…) blickten wir zu dem Land zurück, über dem fern ein blasses, verwaschenes Rot lag, und was uns diesmal erfüllte, war weniger das Gefühl, einem Untergang entkommen zu sein, als vielmehr die Ahnung, dass das (…) Fahrzeug uns für immer westwärts trug, nicht nur in eine andere Welt, sondern auch in eine andere Zeit, aus der es keine Rückkehr mehr geben würde. "
Der Schriftsteller und Ostpreußenflüchtling Siegfried Lenz lernte1945 erst einmal, dass am besten überlebet, wer seinen Besitz als "sehr vergänglich" begreift. Alles schien disponibel. Die Städte Deutschlands lagen in Trümmern, Straßen und Schienen waren schwer beschädigt, die Lebensmittel knapp. Das Land taumelte am Abgrund und wusste nicht einmal genau, wo der lag. Zudem war eine gigantische Völkerwanderung aus dem Osten im Westen angekommen. Zehntausende Flüchtlinge ohne Heimat, ohne Hoffnung und ohne Orientierung in der Fremde. Die meisten von ihnen wurden zunächst von den Besatzungsmächten in die ländlichen Gebiete Nord- und Süddeutschlands gelenkt. Dort konnten sie besser versorgt werden als in den zerstörten Städten. Doch der Empfang der Fremdlinge aus den Ostgebieten war alles andere als herzlich.
Formella: "Da standen die Leute vor der Tür, und haben gegafft, als wenn der Zirkus aufgetaucht wär, wirklich, obwohl ich ja selbst ein Dorftrottel war, das hab ich doch so empfunden, so anstößig, dass man den Hals so lang machen kann, wenn da irgendwelche kleinen Kacker endlich aus den Klauen kamen von den Russen und Polen, die uns da ja wirklich im Griff hatten. Das ist wirklich so, das es ja wirklich immer wieder vorgekommen ist, das gerade die Ostdeutschen wie die Pommeraner, auch zum Teil die Ostpreußer, das die als "Pollacken" ausgeschimpft wurden, eben nur auf Grund der geographischen Lage, sogar als Russen hat man die bezeichnet, ne. "
Der damals dreizehnjährige Hubert Formella, kam erst 1949 mit seiner Mutter und den Geschwistern aus dem nun polnischen Pommern in das schleswig-holsteinische Dorf Eutin. Auch innerhalb Nordrhein-Westfalens wurden die Vertriebenen zunächst in den ländlichen Regionen untergebracht. Doch Wohnraum rückten viele Einheimischen nur per amtliche Beschlagnahme aus, Nahrungsmittel im Tausch gegen die letzten Wertsachen. Die Flüchtlinge galten als Landplage. Vor allem das Bürgertum aus den zerstörten Städten des Ostens, das in den Dörfern der westdeutschen Provinz untergebracht wurde, empfanden viele Einheimischen als Fremde. Hinzu kam die andere Mentalität und Religion. Ostpreußische Protestanten wurden in katholische Hochburgen untergebracht
Hubert: "Das war der Reinhard Reimer, der kam aus Ostpreußen, war so alt wie ich; wir waren befreundet, aber über den Reinhard Reimer sagten die Einheimischen:
Das ist ja ein wunderbarer Kerl, nur schade, dass er ´en Lutherschen ist. Man ging auf Distanz, gemieden wurden sie nicht, aber wir hatten es als Katholiken viel einfacher. "
Der in Breslau geborene Jost Hubert kam als achtzehnjähriger aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Über Friedland reiste er zu seiner Familie, die aus Schlesien vertrieben, nun verteilt auf mehrere Bauernhöfe im Teutoburger Wald lebte.
An Rhein und Ruhr herrschte zu diesem Zeitpunkt noch eine von der britischen Militärregierung verhängte Zuzugssperre. Über die Hälfte der Wohnungen war dort den Bomben zum Opfer gefallen. Ein ähnliches Ausmaß an Zerstörung wiesen die industriellen Produktionsanlagen, vor allem aber die Verkehrsverbindungen und Versorgungseinrichtungen auf. Die am schwersten betroffenen Gebiete im Ruhrgebiet waren deshalb über Jahre für den unkontrollierten Zuzug von Vertriebenen gesperrt. Die ersten großen Flüchtlingszüge wurden am Revier vorbeigelenkt. Doch da den Briten an einem raschen Wiederaufbau der Industrie gelegen war, initiierten sie Programme zur Anwerbung von Facharbeiterkräften.
Das Landesarbeitsamt Westfalen führte deshalb unter den Flüchtlingen in allen westalliierten Zonen, Kampagnen zur Rekrutierung junger Männer durch.
Formella: "Da haben sie uns Werbefilme gezeigt, da waren die Koteletts meistens größer als die Pfanne. Und da wir ja alle doch mehr oder weniger sehr am Hungertuch genagt haben, war das natürlich unter anderem auch ein sehr großer Anreiz. "
Hubert Formella ließ sich 1952 zum Bergbau anwerben und ging als Berglehrling zur Zeche Zollern nach Dortmund. Der hohe Anteil von Zwangsarbeitern während des Krieges hatte nach dem Einmarsch der alliierten Truppen ins Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 zu einer Halbierung der Zechenbelegschaft geführt. Doch die von den Siegermächten geforderte Steigerung der Kohleförderung konnte nur mit zusätzlichen Arbeitskräften in Gang kommen. Das Ruhrgebiet nahm also eine Sonderstellung ein. Die ersten Neubergleute kamen 1946; junge Männer aus Schleswig Holstein und Bayern, vor allem aber Flüchtlinge und Vertriebene. Während die britische Militärregierung durch Sonderzulagen materielle Anreize schuf, appellierten die Zeitungen an die nationale Verantwortung:
"Kannst Du augenblicklich sagen, dass Deutschlands Wiederherstellung von Dir abhängt? Wenn Du Bergmann wärst, könntest du es sagen. "
Formella: "Weil man bestrebt war, diese Belegschaften zu verjüngen. Die hatten ja einmal durch den Krieg natürlich erhebliches Personal verloren und es hieß, es waren eigentlich nur Alte da und ganz Junge. Und da hat man gesagt okay, wir werben Leute an, die werden vernünftig untergebracht, wir wurden auch vernünftig bezahlt für damalige Verhältnisse. Nur eines hat diese Bergbaugesellschaften, eines haben die nicht berücksichtigt; die meisten sind nach Abschluss der Lehre sofort abgedreht, die haben sich einen anderen Beruf gesucht. "
Die extrem harte Arbeit unter Tage, aber auch die Unterbringung in provisorischen Unterkünften ist für viele Neubergleute ernüchternd. Während Hubert Formella, in einen Lehrlingsheim unterkommt, verbringen tausende anderer Bergleute ihre ersten Westjahre in Massenunterkünften. In drangvoller Enge, vier bis acht Mann auf einem Zimmer, lebten sie in den zecheneigenen Ledigenheimen, den so genannten "Bullenklöstern."
Formella: "Ja, das waren ja mehr für die nicht gelernten Bergleute. Im Bergbau wurden ja auch Leute angeworben, die nicht mehr als Lehrling in Frage kamen, vom Alter her, ja. Sagen wir mal ein Schlosser oder ein Schmied, oder auch ein Bauer, ganz gleich, wo der her kam, der wurde angelernt und der wurde hier zunächst als Schlepper eingesetzt, das war dann die niedrigste Arbeit im Bergbau, also von der Lohngruppe her, ja. Dafür waren denn die Bullenklöster; für erwachsene Leute, die von auswärts zugereist sind. "
Dazu gehörten zunehmend auch die Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR. Unter ihnen waren viele, die zunächst dorthin vertrieben worden waren. Sie wurden in den ersten Nachkriegsjahren ausgegrenzt und diskriminiert. Auf der ersten Sitzung des Flüchtlingsausschusses des Landtags von Nordrhein-Westfalen im Juli 1947 warnte ein Vertreter des Sozialministeriums vor der "asozialen Einwanderung" aus der sowjetischen Besatzungszone und empfahl die Einrichtung von polizeilich beaufsichtigten Lagern, in denen die "illegalen Grenzgänger", so die offizielle Bezeichnung…
"…durch Anwendung geeigneter Erziehungsmittel und durch die Vermittlung einer angemessenen Arbeit wieder zu erziehen und zu ordentlichen Menschen zu machen sind. "
Für die Flüchtlingsverwaltung waren sie nur "belastete Personen der Nazizeit, Verbrecher, Schwarzhändler und Schieber." Und der damalige Düsseldorfer Regierungspräsident ging sogar soweit, die britische Militärregierung aufzufordern
"…das Problem zu einer gerechten Endlösung zu führen. "
Zunächst wollte niemand in Westdeutschland die Endgültigkeit der Zuwanderung wahr haben. Im Grunde genommen sahen die Alteingesessenen die Neuankömmlinge wie die späteren "Gastarbeiter". Sie waren gekommen, würden aber auch bald wieder gehen. Doch sie blieben und leisteten als Arbeitskräfte ihren Beitrag zum viel zitierten Wirtschaftwunder. Aber auch viele aus Ostdeutschland geflüchtete Fabrikanten bauten ihre Betriebe im Westen neu auf. Ganze Handwerkerpopulationen und Industriezweige aus Schlesien oder Sudetenland etablierten sich mit Fleiß und altem Wissen wieder am Markt. Im Ruhrgebiet siedelte sich vor allem die Textilindustrie aus Breslau, Stettin, Lodz oder Berlin an und Karrieren ähnlich der des Unternehmers Klaus Steilmann wurden bald geläufig. 1929 in Vorpommern geboren, kam er nach dem Krieg aus der sowjetisch besetzten Zone über Berlin ins Ruhrgebiet. Der gelernte Einzelhandelskaufmann für Oberbekleidung
wagte 1958 den Sprung in die Selbständigkeit. Mit dem Ersparten der ersten Nachkriegsjahre und dem Kredit eines Bekannten suchte er einen Betrieb. Er fand ihn in Bochum Wattenscheid.
Steilmann: " Ich hab dann den Betrieb gemietet und die Maschinen gekauft und die Mitarbeiter übernommen und so das Unternehmen aufgebaut. Und die Mitarbeiter im Unternehmen waren gemischt. Es waren Ansässige, die hier geboren waren, aber wir hatten auch sehr viele Flüchtlinge hier, die hierher gekommen sind. Ich hatte sehr gute Mitarbeiter, die sehr hohe Qualität bringen konnten und da spielte das keine Rolle, wo die her kamen. "
Was zählte, waren nicht Herkunft und Biographie, sondern Ausbildung, Flexibilität und Leistungswille. Da viele Vertriebene dies mit brachten, erfreuten sie sich schnell wachsender Beliebtheit – vor allem bei den Arbeitgebern.
Steilmann: "…gearbeitet haben sie alle. Und es hat keiner in den Aufbaujahren die Frage gestellt, wie lange er arbeitet, sondern es wurde etwas geschafft, weil man eben dann vierzehn Stunden gearbeitet hat. Wir haben in der Gründungsphase jahrelang so lange gearbeitet. Die Leute wollten einfach was aufbauen, für sich selber und das Unternehmen und wenn ´s dem Unternehmen gut geht, geht’s mir auch gut. "
Überall brachten Existenzgründer, aus dem Osten Deutschlands kommend, Schwung in die Boomgesellschaft. Es waren zumeist rastlose Workaholiks, die mit einer Aufbauwut rotierten, als hätten sie wie eine Kerze, an beiden Enden gebrannt.
Sie stampften, kaum sesshaft geworden, Vorzeigemarken des neuen Aufschwungs aus dem Boden. Auch Klaus Steilmanns Unternehmen stieg schließlich zur Nummer Eins der europäischen Bekleidungsbranche auf.
Steilmann: "Das war auch ein Konzept, mit dem bei mir die Kollektionen aufgebaut wurden, das ich mir mit dem Thema "Mode für Millionen" und nicht für Millionäre, den Geschmack der Leute immer wieder erarbeitet habe. "
Kaum ein anderer Teil Deutschlands hatte unter dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen so zu leiden gehabt, wie das Ruhrgebiet. Durch die zahlreichen Bombenangriffe und die schweren Kämpfe während des Ruhrkessels 1945 war zum Kriegsende die Hälfte des Wohnungsbestandes der Ruhrstädte zerstört, in Dortmund und Duisburg sogar rund zwei Drittel. In vielen Städten hatte nur ein Viertel der Wohnungen den Krieg überstanden. Hunderttausende mussten die ersten Nachkriegsjahre in Notunterkünften, wie Baracken, Bunker oder Keller verbringen. An vielen Stadträndern entstanden zudem "wilde Flüchtlingslager". Erst mit Gründung der "Bonner Republik" und der Währungsreform kam der Wiederaufbau langsam in Gang. Wohnungsbauprogramme und staatliche Fördermittel brachten die Bauwirtschaft in Schwung. 1950 war das Baugewerbe, neben dem Bergbau, zum wichtigsten Arbeitgeber im Revier geworden. Wegen des enormen Baubedarfs herrschte akuter Bauarbeitermangel. Und so fanden viele Vertriebe und Flüchtlinge auf dem Bau sofort eine Stelle. Der Maurergeselle Jost Hubert kam Anfang der fünfziger Jahre nach Dortmund.
Hubert: "Damals gab's solche Baubuden und da hat man sich dann in der Mittagspause gut unterhalten und dann sagt einer: "Mensch, ist denn überhaupt einer hier aus Mengede?" Der Einzige, der aus Mengede kam, das war der Budenjunge. Das ist der Mann, der die Besorgungen für die Leute macht und die anderen waren alles ehemalige Kriegsgefangene, Vertriebene. Ich habe da nie einen Einheimischen kennen gelernt, auf dieser Baustelle. Polier, doch der war von hier, aber ansonsten waren es alles Flüchtlinge. "
Gearbeitet wurde in Schichten fast rund um die Uhr.
Hubert: "Ich hab ein paar Jahre schwimmenden Estrich verlegt, Wände verputzt, alles im Akkord und hab ungefähr das Doppelte verdient, was man so als Stundenlohn bekam. "
Zu Beginn der Adenauer Ära ergoss sich eine Art Füllhorn über die staunenden Flüchtlinge. Kernstück war das Lastenausgleichsgesetz, das zum ersten Mal die besonderen Opfer der Vertriebenen gesetzlich anerkannte. In Gang kam nun eine Sozialmaschine, wie sie das Land noch nicht erlebt hatte. Auf einmal schien alles möglich: Hausrats- und Vermögensentschädigungen, Ausbildungshilfe, Aufbaumittel und Wohndarlehen.
Hubert: "Lastenausgleich hab ich insofern bekommen, als ich dieses Haus bezog und ich bekam einen Kredit, einen verbilligten Kredit aus diesen Lastenausgleichsmitteln und die Flüchtlinge, die begrüßten sich mit "Schon gebaut?" In Mengede gibt es eine Siedlung, das war vor fünfundvierzig Jahren noch Acker, da wurden dann Einfamilienhäuser mit Einliegerwohnungen gebaut. Das ist die so genannte Flüchtlingssiedlung. Diese ganze Siedlung bestand nur aus Ostpreußen und Pommern und ein paar Schlesiern. "
Während die Alliierten frühzeitig auf Integration und Assimilation gedrängt hatten, bevorzugten die deutschen Behörden und Politiker später eine Politik der Absonderung. Und das hieß konkret: die vornehmlich geschlossene Ansiedlung der Vertriebenen, das Festhalten an überlieferten Traditionen und Lebensstilen und die Abdrängung in separate Organisationen, wie den Landsmannschaften, Vertriebenenverbänden und –vereinen.
Formella: "Das nannte sich "Ostdeutsche Jugend" und da konnten alle aus Ostdeutschland rein, ja. Alle aus Ostdeutschland, die hier aufgetaucht sind, die haben sich da versammelt und da wurde gewandert, Radtouren wurden gemacht und gesungen wurde sehr viel, musiziert und die haben sogar Theater gespielt, die ostdeutsche Heimatjugend damals, Laientheater, ne. Man hat sich wirklich nur um die Gegenwart gekümmert, was modern war, was man gerne gehört oder gesehen hat, das stand im Vordergrund. "
Doch viele junge Menschen aus Ostdeutschland empfanden sich im Revier bald mehr als Arbeitnehmer, denn als Vertriebener, mehr als Unternehmer denn als Flüchtling. Der wirtschaftliche Aufschwung der späten 50er und der 60er Jahre begünstigte die Eingliederung. Der expandierende Arbeitsmarkt wurde zum wichtigsten Integrationsfaktor. Hinzu kam, dass das Ruhrgebiet von jeher ein Schmelztiegel verschiedenster Nationalitäten war.
Hubert/ Steilmann: "Ich war hier nie ein Fremder. Und das hat damit zu tun, dass hier ein klassisches Zuwanderungsgebiet ist, seit 150 Jahren kommen hier Polen, Osterreicher hin, die haben sich damals im Bergbau verdingt, haben Familien gegründet und sind hier geblieben.
Ich fühl mich hier zu Hause, weil natürlich auch die Integration in diese Ruhrgebietsgesellschaft und Ruhrgebietsmentalität, die mir sehr gut gefällt, weil die Leute hier sehr offen und aufnahmebereit sind, so dass man sich sofort auch integriert fühlt, also insofern ist hier schon meine Heimat. "
Der Schriftsteller und Ostpreußenflüchtling Siegfried Lenz lernte1945 erst einmal, dass am besten überlebet, wer seinen Besitz als "sehr vergänglich" begreift. Alles schien disponibel. Die Städte Deutschlands lagen in Trümmern, Straßen und Schienen waren schwer beschädigt, die Lebensmittel knapp. Das Land taumelte am Abgrund und wusste nicht einmal genau, wo der lag. Zudem war eine gigantische Völkerwanderung aus dem Osten im Westen angekommen. Zehntausende Flüchtlinge ohne Heimat, ohne Hoffnung und ohne Orientierung in der Fremde. Die meisten von ihnen wurden zunächst von den Besatzungsmächten in die ländlichen Gebiete Nord- und Süddeutschlands gelenkt. Dort konnten sie besser versorgt werden als in den zerstörten Städten. Doch der Empfang der Fremdlinge aus den Ostgebieten war alles andere als herzlich.
Formella: "Da standen die Leute vor der Tür, und haben gegafft, als wenn der Zirkus aufgetaucht wär, wirklich, obwohl ich ja selbst ein Dorftrottel war, das hab ich doch so empfunden, so anstößig, dass man den Hals so lang machen kann, wenn da irgendwelche kleinen Kacker endlich aus den Klauen kamen von den Russen und Polen, die uns da ja wirklich im Griff hatten. Das ist wirklich so, das es ja wirklich immer wieder vorgekommen ist, das gerade die Ostdeutschen wie die Pommeraner, auch zum Teil die Ostpreußer, das die als "Pollacken" ausgeschimpft wurden, eben nur auf Grund der geographischen Lage, sogar als Russen hat man die bezeichnet, ne. "
Der damals dreizehnjährige Hubert Formella, kam erst 1949 mit seiner Mutter und den Geschwistern aus dem nun polnischen Pommern in das schleswig-holsteinische Dorf Eutin. Auch innerhalb Nordrhein-Westfalens wurden die Vertriebenen zunächst in den ländlichen Regionen untergebracht. Doch Wohnraum rückten viele Einheimischen nur per amtliche Beschlagnahme aus, Nahrungsmittel im Tausch gegen die letzten Wertsachen. Die Flüchtlinge galten als Landplage. Vor allem das Bürgertum aus den zerstörten Städten des Ostens, das in den Dörfern der westdeutschen Provinz untergebracht wurde, empfanden viele Einheimischen als Fremde. Hinzu kam die andere Mentalität und Religion. Ostpreußische Protestanten wurden in katholische Hochburgen untergebracht
Hubert: "Das war der Reinhard Reimer, der kam aus Ostpreußen, war so alt wie ich; wir waren befreundet, aber über den Reinhard Reimer sagten die Einheimischen:
Das ist ja ein wunderbarer Kerl, nur schade, dass er ´en Lutherschen ist. Man ging auf Distanz, gemieden wurden sie nicht, aber wir hatten es als Katholiken viel einfacher. "
Der in Breslau geborene Jost Hubert kam als achtzehnjähriger aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Über Friedland reiste er zu seiner Familie, die aus Schlesien vertrieben, nun verteilt auf mehrere Bauernhöfe im Teutoburger Wald lebte.
An Rhein und Ruhr herrschte zu diesem Zeitpunkt noch eine von der britischen Militärregierung verhängte Zuzugssperre. Über die Hälfte der Wohnungen war dort den Bomben zum Opfer gefallen. Ein ähnliches Ausmaß an Zerstörung wiesen die industriellen Produktionsanlagen, vor allem aber die Verkehrsverbindungen und Versorgungseinrichtungen auf. Die am schwersten betroffenen Gebiete im Ruhrgebiet waren deshalb über Jahre für den unkontrollierten Zuzug von Vertriebenen gesperrt. Die ersten großen Flüchtlingszüge wurden am Revier vorbeigelenkt. Doch da den Briten an einem raschen Wiederaufbau der Industrie gelegen war, initiierten sie Programme zur Anwerbung von Facharbeiterkräften.
Das Landesarbeitsamt Westfalen führte deshalb unter den Flüchtlingen in allen westalliierten Zonen, Kampagnen zur Rekrutierung junger Männer durch.
Formella: "Da haben sie uns Werbefilme gezeigt, da waren die Koteletts meistens größer als die Pfanne. Und da wir ja alle doch mehr oder weniger sehr am Hungertuch genagt haben, war das natürlich unter anderem auch ein sehr großer Anreiz. "
Hubert Formella ließ sich 1952 zum Bergbau anwerben und ging als Berglehrling zur Zeche Zollern nach Dortmund. Der hohe Anteil von Zwangsarbeitern während des Krieges hatte nach dem Einmarsch der alliierten Truppen ins Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 zu einer Halbierung der Zechenbelegschaft geführt. Doch die von den Siegermächten geforderte Steigerung der Kohleförderung konnte nur mit zusätzlichen Arbeitskräften in Gang kommen. Das Ruhrgebiet nahm also eine Sonderstellung ein. Die ersten Neubergleute kamen 1946; junge Männer aus Schleswig Holstein und Bayern, vor allem aber Flüchtlinge und Vertriebene. Während die britische Militärregierung durch Sonderzulagen materielle Anreize schuf, appellierten die Zeitungen an die nationale Verantwortung:
"Kannst Du augenblicklich sagen, dass Deutschlands Wiederherstellung von Dir abhängt? Wenn Du Bergmann wärst, könntest du es sagen. "
Formella: "Weil man bestrebt war, diese Belegschaften zu verjüngen. Die hatten ja einmal durch den Krieg natürlich erhebliches Personal verloren und es hieß, es waren eigentlich nur Alte da und ganz Junge. Und da hat man gesagt okay, wir werben Leute an, die werden vernünftig untergebracht, wir wurden auch vernünftig bezahlt für damalige Verhältnisse. Nur eines hat diese Bergbaugesellschaften, eines haben die nicht berücksichtigt; die meisten sind nach Abschluss der Lehre sofort abgedreht, die haben sich einen anderen Beruf gesucht. "
Die extrem harte Arbeit unter Tage, aber auch die Unterbringung in provisorischen Unterkünften ist für viele Neubergleute ernüchternd. Während Hubert Formella, in einen Lehrlingsheim unterkommt, verbringen tausende anderer Bergleute ihre ersten Westjahre in Massenunterkünften. In drangvoller Enge, vier bis acht Mann auf einem Zimmer, lebten sie in den zecheneigenen Ledigenheimen, den so genannten "Bullenklöstern."
Formella: "Ja, das waren ja mehr für die nicht gelernten Bergleute. Im Bergbau wurden ja auch Leute angeworben, die nicht mehr als Lehrling in Frage kamen, vom Alter her, ja. Sagen wir mal ein Schlosser oder ein Schmied, oder auch ein Bauer, ganz gleich, wo der her kam, der wurde angelernt und der wurde hier zunächst als Schlepper eingesetzt, das war dann die niedrigste Arbeit im Bergbau, also von der Lohngruppe her, ja. Dafür waren denn die Bullenklöster; für erwachsene Leute, die von auswärts zugereist sind. "
Dazu gehörten zunehmend auch die Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR. Unter ihnen waren viele, die zunächst dorthin vertrieben worden waren. Sie wurden in den ersten Nachkriegsjahren ausgegrenzt und diskriminiert. Auf der ersten Sitzung des Flüchtlingsausschusses des Landtags von Nordrhein-Westfalen im Juli 1947 warnte ein Vertreter des Sozialministeriums vor der "asozialen Einwanderung" aus der sowjetischen Besatzungszone und empfahl die Einrichtung von polizeilich beaufsichtigten Lagern, in denen die "illegalen Grenzgänger", so die offizielle Bezeichnung…
"…durch Anwendung geeigneter Erziehungsmittel und durch die Vermittlung einer angemessenen Arbeit wieder zu erziehen und zu ordentlichen Menschen zu machen sind. "
Für die Flüchtlingsverwaltung waren sie nur "belastete Personen der Nazizeit, Verbrecher, Schwarzhändler und Schieber." Und der damalige Düsseldorfer Regierungspräsident ging sogar soweit, die britische Militärregierung aufzufordern
"…das Problem zu einer gerechten Endlösung zu führen. "
Zunächst wollte niemand in Westdeutschland die Endgültigkeit der Zuwanderung wahr haben. Im Grunde genommen sahen die Alteingesessenen die Neuankömmlinge wie die späteren "Gastarbeiter". Sie waren gekommen, würden aber auch bald wieder gehen. Doch sie blieben und leisteten als Arbeitskräfte ihren Beitrag zum viel zitierten Wirtschaftwunder. Aber auch viele aus Ostdeutschland geflüchtete Fabrikanten bauten ihre Betriebe im Westen neu auf. Ganze Handwerkerpopulationen und Industriezweige aus Schlesien oder Sudetenland etablierten sich mit Fleiß und altem Wissen wieder am Markt. Im Ruhrgebiet siedelte sich vor allem die Textilindustrie aus Breslau, Stettin, Lodz oder Berlin an und Karrieren ähnlich der des Unternehmers Klaus Steilmann wurden bald geläufig. 1929 in Vorpommern geboren, kam er nach dem Krieg aus der sowjetisch besetzten Zone über Berlin ins Ruhrgebiet. Der gelernte Einzelhandelskaufmann für Oberbekleidung
wagte 1958 den Sprung in die Selbständigkeit. Mit dem Ersparten der ersten Nachkriegsjahre und dem Kredit eines Bekannten suchte er einen Betrieb. Er fand ihn in Bochum Wattenscheid.
Steilmann: " Ich hab dann den Betrieb gemietet und die Maschinen gekauft und die Mitarbeiter übernommen und so das Unternehmen aufgebaut. Und die Mitarbeiter im Unternehmen waren gemischt. Es waren Ansässige, die hier geboren waren, aber wir hatten auch sehr viele Flüchtlinge hier, die hierher gekommen sind. Ich hatte sehr gute Mitarbeiter, die sehr hohe Qualität bringen konnten und da spielte das keine Rolle, wo die her kamen. "
Was zählte, waren nicht Herkunft und Biographie, sondern Ausbildung, Flexibilität und Leistungswille. Da viele Vertriebene dies mit brachten, erfreuten sie sich schnell wachsender Beliebtheit – vor allem bei den Arbeitgebern.
Steilmann: "…gearbeitet haben sie alle. Und es hat keiner in den Aufbaujahren die Frage gestellt, wie lange er arbeitet, sondern es wurde etwas geschafft, weil man eben dann vierzehn Stunden gearbeitet hat. Wir haben in der Gründungsphase jahrelang so lange gearbeitet. Die Leute wollten einfach was aufbauen, für sich selber und das Unternehmen und wenn ´s dem Unternehmen gut geht, geht’s mir auch gut. "
Überall brachten Existenzgründer, aus dem Osten Deutschlands kommend, Schwung in die Boomgesellschaft. Es waren zumeist rastlose Workaholiks, die mit einer Aufbauwut rotierten, als hätten sie wie eine Kerze, an beiden Enden gebrannt.
Sie stampften, kaum sesshaft geworden, Vorzeigemarken des neuen Aufschwungs aus dem Boden. Auch Klaus Steilmanns Unternehmen stieg schließlich zur Nummer Eins der europäischen Bekleidungsbranche auf.
Steilmann: "Das war auch ein Konzept, mit dem bei mir die Kollektionen aufgebaut wurden, das ich mir mit dem Thema "Mode für Millionen" und nicht für Millionäre, den Geschmack der Leute immer wieder erarbeitet habe. "
Kaum ein anderer Teil Deutschlands hatte unter dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen so zu leiden gehabt, wie das Ruhrgebiet. Durch die zahlreichen Bombenangriffe und die schweren Kämpfe während des Ruhrkessels 1945 war zum Kriegsende die Hälfte des Wohnungsbestandes der Ruhrstädte zerstört, in Dortmund und Duisburg sogar rund zwei Drittel. In vielen Städten hatte nur ein Viertel der Wohnungen den Krieg überstanden. Hunderttausende mussten die ersten Nachkriegsjahre in Notunterkünften, wie Baracken, Bunker oder Keller verbringen. An vielen Stadträndern entstanden zudem "wilde Flüchtlingslager". Erst mit Gründung der "Bonner Republik" und der Währungsreform kam der Wiederaufbau langsam in Gang. Wohnungsbauprogramme und staatliche Fördermittel brachten die Bauwirtschaft in Schwung. 1950 war das Baugewerbe, neben dem Bergbau, zum wichtigsten Arbeitgeber im Revier geworden. Wegen des enormen Baubedarfs herrschte akuter Bauarbeitermangel. Und so fanden viele Vertriebe und Flüchtlinge auf dem Bau sofort eine Stelle. Der Maurergeselle Jost Hubert kam Anfang der fünfziger Jahre nach Dortmund.
Hubert: "Damals gab's solche Baubuden und da hat man sich dann in der Mittagspause gut unterhalten und dann sagt einer: "Mensch, ist denn überhaupt einer hier aus Mengede?" Der Einzige, der aus Mengede kam, das war der Budenjunge. Das ist der Mann, der die Besorgungen für die Leute macht und die anderen waren alles ehemalige Kriegsgefangene, Vertriebene. Ich habe da nie einen Einheimischen kennen gelernt, auf dieser Baustelle. Polier, doch der war von hier, aber ansonsten waren es alles Flüchtlinge. "
Gearbeitet wurde in Schichten fast rund um die Uhr.
Hubert: "Ich hab ein paar Jahre schwimmenden Estrich verlegt, Wände verputzt, alles im Akkord und hab ungefähr das Doppelte verdient, was man so als Stundenlohn bekam. "
Zu Beginn der Adenauer Ära ergoss sich eine Art Füllhorn über die staunenden Flüchtlinge. Kernstück war das Lastenausgleichsgesetz, das zum ersten Mal die besonderen Opfer der Vertriebenen gesetzlich anerkannte. In Gang kam nun eine Sozialmaschine, wie sie das Land noch nicht erlebt hatte. Auf einmal schien alles möglich: Hausrats- und Vermögensentschädigungen, Ausbildungshilfe, Aufbaumittel und Wohndarlehen.
Hubert: "Lastenausgleich hab ich insofern bekommen, als ich dieses Haus bezog und ich bekam einen Kredit, einen verbilligten Kredit aus diesen Lastenausgleichsmitteln und die Flüchtlinge, die begrüßten sich mit "Schon gebaut?" In Mengede gibt es eine Siedlung, das war vor fünfundvierzig Jahren noch Acker, da wurden dann Einfamilienhäuser mit Einliegerwohnungen gebaut. Das ist die so genannte Flüchtlingssiedlung. Diese ganze Siedlung bestand nur aus Ostpreußen und Pommern und ein paar Schlesiern. "
Während die Alliierten frühzeitig auf Integration und Assimilation gedrängt hatten, bevorzugten die deutschen Behörden und Politiker später eine Politik der Absonderung. Und das hieß konkret: die vornehmlich geschlossene Ansiedlung der Vertriebenen, das Festhalten an überlieferten Traditionen und Lebensstilen und die Abdrängung in separate Organisationen, wie den Landsmannschaften, Vertriebenenverbänden und –vereinen.
Formella: "Das nannte sich "Ostdeutsche Jugend" und da konnten alle aus Ostdeutschland rein, ja. Alle aus Ostdeutschland, die hier aufgetaucht sind, die haben sich da versammelt und da wurde gewandert, Radtouren wurden gemacht und gesungen wurde sehr viel, musiziert und die haben sogar Theater gespielt, die ostdeutsche Heimatjugend damals, Laientheater, ne. Man hat sich wirklich nur um die Gegenwart gekümmert, was modern war, was man gerne gehört oder gesehen hat, das stand im Vordergrund. "
Doch viele junge Menschen aus Ostdeutschland empfanden sich im Revier bald mehr als Arbeitnehmer, denn als Vertriebener, mehr als Unternehmer denn als Flüchtling. Der wirtschaftliche Aufschwung der späten 50er und der 60er Jahre begünstigte die Eingliederung. Der expandierende Arbeitsmarkt wurde zum wichtigsten Integrationsfaktor. Hinzu kam, dass das Ruhrgebiet von jeher ein Schmelztiegel verschiedenster Nationalitäten war.
Hubert/ Steilmann: "Ich war hier nie ein Fremder. Und das hat damit zu tun, dass hier ein klassisches Zuwanderungsgebiet ist, seit 150 Jahren kommen hier Polen, Osterreicher hin, die haben sich damals im Bergbau verdingt, haben Familien gegründet und sind hier geblieben.
Ich fühl mich hier zu Hause, weil natürlich auch die Integration in diese Ruhrgebietsgesellschaft und Ruhrgebietsmentalität, die mir sehr gut gefällt, weil die Leute hier sehr offen und aufnahmebereit sind, so dass man sich sofort auch integriert fühlt, also insofern ist hier schon meine Heimat. "