Aufarbeitung von Verbrechen in Kolumbien

Priester erinnert an Vertriebene und Ermordete

Von Christine Siebert · 07.11.2021
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In Kolumbien hat der Krieg zwischen der FARC-Guerilla und der Armee sowie paramilitärischen Gruppen tiefe Wunden hinterlassen. Ein katholischer Priester erinnert mit Pilgerwanderungen durch betroffene Dörfer an das Leid und ruft zur Versöhnung auf.
Ein staubiger Dorfplatz. Am Horizont grüne Berge. Der Priester Henry Ramirez Soler steht hinter einem improvisierten Altar: einem wackeligen Küchentisch. Unter seinem weißen Messgewand trägt er eine Wanderhose und Turnschuhe. Auch seine Kirchenlieder sind untypisch – immer sehr sozialkritisch.

Klare Worte eines Geistlichen

"Das Brot, das wir zur Kommunion mitgebracht haben, dieses Brot machen die Arbeiter, und der Boss nimmt es ihnen weg", singt der Priester, den hier alle einfach "Henry" nennen.
Der kolumbianische Priester Henry Ramirez trägt einen weißen Talar mit einer bunt bestickten Schärpe, er hält die rechte Hand in einer Zeigegeste erhoben, bei ihm stehen ein Mann im roten Hemd mit Schirmmütze und eine Frau in einem gelben Hemd mit ernsten Gesichtern.
Streit um Brot und Land: Der Priester und ehemalige Dorfpfarrer Henry Ramirez feiert einen Gottesdienst mit Bauern im Landkreis Landkreis El Castillo.© Deutschlandradio / Christine Siebert
Es ist die erste Station dieser Pilgerreise gegen das Vergessen. Die Pilgerschar und die Bauern, die uns empfangen, singen mit. Zwei Welten treffen hier aufeinander.

Großstädter kommen zu den Bauern

Aus kolumbianischen Großstädten sind zwei Dutzend Studenten, Professoren, Reporter alternativer Medien, Künstler und Menschenrechtsaktivisten angereist. Ein unüblicher Schritt: Viele Stadtbewohner wagen sich nicht in abgelegene Gegenden und haben wenig Ahnung davon, wie es hier auf dem Land zugeht.
Henry führt uns jedoch ganz nah hin zu diesen Orten, an denen Bäuerinnen und Bauern, ihre Töchter, ihre Söhne ermordet wurden, weil sie sich für Menschenrechte, für ein Stück Land, für soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben – weil sie angeblich der FARC-Guerilla zugearbeitet haben, weil sie politisch auf der linken Seite standen.

Padre Henry diskutiert auch mit den Paramilitärs

Auch Henry ist immer wieder von den Paramilitärs bedroht worden. Er winkt ab, wenn man ihn danach fragt, erzählt es dann auf lakonische Art:
"Es war so: Eines Tages haben die Paramilitärs mich angehalten. Sie sagten: 'Du magst uns nicht. Wir sehen das in deinem Blick! Wenn du eine Waffe hättest, dann würdest du uns umbringen.' Ich habe geantwortet: 'Das stimmt nicht. Ich bete für euch.' Ich habe ihnen gesagt: 'Wenn ihr mich jetzt tötet, dann komme ich in den Himmel, und ihr bleibt hier unten mit eurem schlechten Gewissen zurück."
Eine Gruppe von Menschen kommt einen von Bäumen gesäumten Weg entlang auf die Kamera zu: Sie tragen Transparente und Fotos von Ermordeten.
Marsch gegen das Vergessen: Die Pilger tragen Bilder von Menschen, die von Paramilitärs ermordet wurden.© Deutschlandradio / Christine Siebert
Henry hat sein Messgewand im Rucksack verstaut, sich eine Schirmmütze aufgesetzt, und wir ziehen durch das Dörfchen Puerto Esperanza – "Hafen der Hoffnung". Vor einem bunt bemalten Haus erwartet uns eine junge Frau. Elena Henao hat ihre Mutter Maria Lucero und ihren Bruder Yamid Daniel in diesem blutigen Konflikt verloren. Beide haben für die Rechte der Bauern gekämpft, dafür haben sie mit dem Leben bezahlt.

Mutter und Bruder wurden erschossen

Henry reicht Elena ein Mikrofon. Der Lautsprecher krächzt, als sie von jener grauenvollen Nacht berichtet:
"Am Abend des 6. Februar 2004 standen die Paramilitärs plötzlich hier vor diesem Fenster. Sie haben meine Mutter aus dieser Tür hier hinausgeführt. Und dann sind wir bis da vorn zu dieser Wegbiegung gegangen. Dort hat sie begonnen, sich zu verabschieden. Meine Mutter sagte mir, ich solle stark sein, ich solle nach vorn blicken. Hier haben mich die Paramilitärs von ihr getrennt. Sie sagten, wir reden zu viel."
Die Paramilitärs hielten Elenas Mutter Maria Lucero Henao und ihren sechzehnjährigen Bruder Yamid Daniel fest. Die anderen Familienmitglieder – Elena, ihre Schwestern und ihre Großmutter – mussten zurück ins Haus. Nur wenige Minuten später hörten sie Schüsse. Erst am nächsten Morgen wagten sie sich zum Ort des Verbrechens und fanden die beiden Leichen.
Vor einem einstöckigen, rot gestrichenen Haus stehen weiße Plastikstühle, ein Schotterweg führt zwischen Bäumen und Büschen den Hügel hinab. Im Hintergrund zeichnet sich ein sanft geschwungenes Bergmassiv vor dem blauen Himmel ab.
Ort des Verbrechens: Auf diesem Feldweg wurden Maria Lucero und ihr Sohn Yamid Daniel weggeführt.© Deutschlandradio / Christine Siebert
Elena holt tief Luft, blickt sich um. Es sei das erste Mal, dass sie die Einzelheiten dieser Nacht erzähle, sagt sie leise. Henry legt ihr den Arm um die Schultern. Der Priester ist ein langjähriger Freund der Familie und begleitet sie bei den aufreibenden Anstrengungen, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.

Die Wahrheitskommission erklärt die Gründe für die Rebellion

Wir gehen weiter den Feldweg entlang, auf dem die Paramilitärs Maria Lucero und Yamid Daniel weggeführt haben. Unter den Pilgern ist auch Ricardo Villamarin Ramirez: Er ist Mitglied der Wahrheitskommission. Eine Instanz, die mit dem 2016 geschlossenen Friedensvertrag geschaffen wurde. Die Mitglieder der Kommission sammeln Aussagen von Beteiligten und von Opfern des Konflikts.
"Es geht uns darum, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, und für die kolumbianische Gesellschaft die Gründe sichtbar zu machen", erklärt Ramirez. "Wie kommt es, dass dieser Konflikt über sechzig Jahre lang angedauert hat? Für uns ist klar, dass der Mangel an sozialer Gerechtigkeit und an Demokratie die Ursache ist. Es gab für manche keine andere Wahl als die Rebellion. Und so ist der Begriff des 'internen Feindes' entstanden: als wimmelte es überall von Kommunisten und Aufständischen.

Von ihrem Land vertrieben

Die sozialen Bewegungen sind stigmatisiert worden. Und die Guerillas wurden beschuldigt, Drogenhändler und Terroristen zu sein. Die Medien haben vieles zu verbergen versucht, aber wir wollen all das endlich sichtbar machen: zum Beispiel, dass einige wenige Ultra-Reiche fast den gesamten Grund und Boden in Kolumbien besitzen. Es hat keinen Sinn, von Nicht-Wiederholung zu sprechen, solange diese Themen nicht geklärt sind."
Zwei weiße Holzkreuze stehen auf miteinander verbundenen blau gestrichenen Sockeln hinter Stacheldraht am Rand eines staubigen Weges. Auf Senkrecht- und Querleisten der Kreuze sind Namen, Geburts- und Sterbedaten zweier Ermordeter eingetragen.
Kreuze erinnern an Menschen, die im blutigen Kampf um das Land ihr Leben verloren.© Deutschlandradio / Christine Siebert
Der Kampf um Grund und Boden ist der Ursprung dieses endlosen Konflikts. Kolumbianische Kleinbauern werden auch heute noch immer wieder von diesem Land vertrieben, auf das so viele es abgesehen haben, weil es Bodenschätze wie Erdöl, Kohle oder Gold birgt, und weil es sich für Agrobusiness oder Koka-Anbau eignet. Menschenrechtsorganisationen berichten von fast acht Millionen Vertriebenen.
Von den Vertreibungen ist beim Gottesdienst im Dorf La Cima die Rede. Wir haben uns auf einem Fußballfeld versammelt, sitzen auf Plastikstühlen im Kreis. In der Mitte brennen weiße Kerzen. Ein paar Kunststudenten unter den Pilgern haben sie angezündet: Die Dorfbewohner schreiben belastende Erinnerungen auf kleine Zettel und legen sie in die Flammen.

Wiederaufbau und Gedenken

Henry hat wieder die krächzende Lautsprecheranlage aufgestellt und nun berichtet der Bauer Don Erwin: "Die Leute hier arbeiten viel! Sie sind von ihrem Land vertrieben worden, sie haben ihre Häuser und ihre Tiere verloren, aber sie haben alles wieder aufgebaut. Und schauen Sie sich um, wie hier alles wächst und gedeiht! Diese Gegend ist ideal für die Landwirtschaft!"
Henry greift das Thema sofort auf: "Aufgepasst! Ich habe eine Aufgabe für euch hier aus dem Dorf. Jeder von euch nennt jetzt ein landwirtschaftliches Produkt, das ihr hier in La Cima anbaut."
Zitronen, Mangos, Maracujas, Mandarinen, Baumtomaten: Die Dorfbewohner schreien fröhlich durcheinander, und auch Henry lacht übers ganze Gesicht. Etwas später wird er wieder ernst. Er liest die Namen der Ermordeten vor, derer nun gedacht wird.
"Vergib uns, Herr, und bringe uns bei, anderen zu vergeben", wird gesungen. Kerzen flackern, Grillen zirpen und Nachtvögel zwitschern. Henry reicht Don Erwin die Hand zum Friedensgruß, legt einer alten, zierlichen Bäuerin den Arm um die Schulter.
Und fast scheint es nun, als ob dieser Friede möglich sei, nach dem sich alle so sehr sehnen: die Möglichkeit, einfach nur in Ruhe seine Felder zu bewirtschaften, zu säen, zu ernten, sich an der Schönheit dieser Landschaft zu erfreuen.
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