"Auf die Zeitgenossen hat er doch einen großen Einfluss gehabt"

Paul Runge im Gespräch mit Katrin Heise |
"Seine Hauptintention war eben, eine innerliche Kunst zu schaffen, die die Menschen auf ganz andere Weise berühren kann als bisher", so der Kinder- und Jugendpsychiater Paul Runge über seinen Urururgroßvater. Auf seine Zeitgenossen habe der Maler und Dichter großen Einfluss gehabt - so habe auch Goethe Philipp Otto Runge sehr geschätzt.
Katrin Heise: Heute ist der 200. Todestag des Romantikers Philipp Otto Runge. Bei der Vorbereitung zu diesem Thema hatte ich die ganze Zeit sein Bild "Die Hülsenbeckschen Kinder" vor Augen. An diesem Bild der drei pausbäckigen Kleinen, die mit Peitsche und Bollerwagen spielen, wurde uns in der Schule die romantische Kinderporträt-Malerei nahegebracht. Ob der Maler Philipp Otto Runge den Kindern beim Malen seine Märchen erzählt hat, um sie bei der Stange zu halten, wer weiß. Denn Runge war ebenso Dichter wie Maler. Von ihm stammt das Märchen "Von dem Fischer un syner Fru", das er den Gebrüdern Grimm vermachte. Das Märchen von der Frau Ilsebill, die ihren Mann, einen armen Fischer, zwingt, von einem verwunschenen Prinzen in Gestalt eines Butts sich immer hochfliegendere Wünsche erfüllen zu lassen. Wer kennt nicht den verzweifelten Ruf, den Philipp Otto Runge dem Fischer in den Mund legte? Im "Radiofeuilleton" jetzt gerufen vom Plattdeutsch sprechenden Moderator Gerd Spiekermann: "Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru, de Ilsebill, die will nich so, as ik wol will." Ich freu mich nun, mit Paul Runge sprechen zu können. Er ist Kinderpsychiater und ein Urururenkel des Künstlers. Ich grüße Sie, Herr Runge!

Paul Runge: Guten Morgen!

Heise: Herr Runge, Ihr Urahn ist heute vor 200 Jahren ja sehr jung, nämlich 33-jährig gestorben, also von Großvater irgendwie ist das gar nicht vorstellbar. Wie präsent war er in Ihrer Familie?

Runge: Ja, dazu muss ich sagen, dass ich als Kind eigentlich keine Ahnung hatte von diesem berühmten Vorfahren. In unserer Wohnung hingen zwar großformatige Bilder, aber mit denen konnte ich nichts anfangen. Das waren diese abstrakten Malereien der Tageszeiten, und meine Mutter sagte immer: Übrigens, mein Vater ist leider im Krieg geblieben. Du hast einen ganz berühmten Vorfahren, du musst stolz darauf sein. Aber das konnte ich einfach nicht nachvollziehen. Und dann, wesentlich später, ich war etwa 15, da stöberte ich eines Tages in unserer umfangreichen Runge-Bibliothek und fand zwei alte Bände, ganz vergriffen, und ich dachte: Was hebt man diese Bände noch auf, die sollte man auf jeden Fall mal wieder herrichten. Aber sehr neugierig schaute ich dann auf die erste Seite rein, und da las ich Zeilen, die mich im Innersten aufgewühlt haben.

Heise: Das heißt, es waren weniger die Bilder als mehr sein dichterisches Schaffen, was Sie als Jugendlicher interessierte?

Runge: Ja, das ist richtig.

Heise: Was haben Sie denn da gelesen?

Runge: Ja, also der erste Band beginnt mit dieser ganz wesentlichen Stelle von ihm, wo er sagt: Ich habe mich immer von Jugend auf danach gesehnt, Worte zu finden oder Zeichen oder irgendetwas, womit ich mein inneres Gefühl, das eigentlich, was sich in meinen schönsten Stunden so ruhig und lebendig in mir auf und ab bewegt, anderen deutlich machen könnte, und habe immer bei mir gedacht, wenn sich auch niemand für dein Gefühl sonderlich interessiert, das muss der andere doch auch haben.

Heise: Jetzt haben die Romantiker ja nach der Zeit der Aufklärung dieses Innenleben, das Gefühl, die Seele des Menschen quasi wiederentdeckt. Sie sind Kinderpsychiater und beschäftigen sich ja beruflich mit den manchmal unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele. Das heißt, da besteht eine direkte Nähe zu Philipp Otto Runge?

Runge: Ja. Ganz besonders in diesem Ausspruch, den er immer wiederholte: Kinder müssen wir werden, wollen wir das Beste erreichen. Bisher hatte ich erlebt, dass man eben Kinder relativ nebenbei behandelt hat, und was sie sagen, das kann man nicht so ganz ernst nehmen. Aber für mich als Kinderpsychiater war es eben sehr eindrucksvoll, dass Kinder etwas aussprechen können, was also wirklich philosophisch nur zu verstehen ist, aber was die Erwachsenen eben häufig sehr geringschätzen. Und diese Sache, dass man auch heute noch nicht recht weiß, was in dem Kind wirklich vorgeht, wenn es in die Welt kommt, wie es sich entwickelt, das hat mich als Kinderpsychiater natürlich besonders beschäftigt.

Ein bekannter Psychotherapeut sagte mir mal, er hätte also von Philipp Otto Runge mehr gelernt als von vielen seiner Fachkollegen. Und ich hatte eine Märchen-Therapeutin, die eben diese Märchen erzählt hat, und das Interessanteste war, sie hat eben auch ganz kleinen Kindern, Ein- bis Zweijährigen, diese Märchen vorgelesen. Und dann war es so bei einem Mädchen, nach fünf Jahren sagte es zu seiner Mutter: Ich möchte gerne ein bestimmtes Märchen an meinem Geburtstag erzählen. Und dieses Märchen hatte das Kind als einjähriges Mädchen aufgenommen und hat dieses Märchen fast wortwörtlich erzählen können. Das heißt, Kinder nehmen unbewusst unglaublich viel mehr auf, als wir ahnen, und es prägt ihr ganzes Leben. Das kann man eigentlich gar nicht verstehen, weil das nicht in dem bewussten Gedächtnis vorhanden ist, sondern in dem, was wir neuerdings als das implizite Gedächtnis bezeichnen, was dem Bewusstsein nicht zugänglich ist, und dass man eben mit diesen Märchen auf dieses Unbewusste einwirken kann, indem wieder ganz neue Dinge wachgerufen werden.

Heise: Mit dem Urururenkel des Romantikers Philipp Otto Runge, dem Kinderpsychiater Paul Runge, spreche ich über seinen Vorfahren. Runge ist ja vor allem durch seine Bilder bekannt geworden, dass er Märchen verfasst hat, darunter eben dieses berühmte vorhin erwähnte Märchen vom Fischer und syn Fru. Die Geschichte vom Fischer und syn Fru ist ja die, dass die arme Fischerin ihren Mann, der einen Fisch gefangen hat, der ein verwunschener Prinz ist, immer wieder schickt, um neue Wünsche anzumelden, was der Fisch ihr alles erfüllen soll. Am Ende möchte sie der Papst und möchte sie Gott sein. Also zu viel vom Leben verlangen, nicht mit dem Wünschen aufhören können, unzufrieden sein, dabei aber untätig, das ist die Rolle der Frau, denn sie schickt ja schließlich ihren Mann, sie sitzt in der Zeit immer nur zu Hause und meckert, und sie scheitert. Oder ist das ein bisschen einfach interpretiert, was dieses Märchen beinhaltet?

Runge: Also ich möchte mal so sagen: Der Fischer ist ein ganz anderer Mensch, ein sehr introvertierter Mensch, der in sich lauscht. Und damit kommt er überhaupt nicht weiter, das respektiert seine Frau nicht, und sie will immer mehr, immer mehr, immer mehr. Schließlich will sie eben sein wie Gott. Und diese Vermessenheit des Menschen, der also auch heute mit der Technik glaubt, etwas erreichen zu können, was frühere Menschen eigentlich einem anderen überlassen haben, das, denke ich, das ist schon etwas ganz Besonderes, was Kinder eben noch in dieser Weise viel innerlicher verstehen können als wir heute.

Heise: Also dass man es direkt auch auf die heutige Zeit übertragen kann. Man kann dieses Märchen ja auch so ein bisschen als Kritik am materiellen Besitz lesen, also wie gesellschaftskritisch war Philipp Otto Runge denn tatsächlich?

Runge: Er hat sich politisch nicht sehr viel eingemischt, möchte ich mal so sagen. Er war sich zwar sicher, dass – auch was die Kunst anbetrifft – wir vor einem Neuanfang stehen, dass es also so nicht weitergehen kann. Seine Hauptintention war eben, eine innerliche Kunst zu schaffen, die die Menschen auf ganz andere Weise berühren kann als bisher. Freiheitskämpfer oder so etwas war er nicht, weil er war eigentlich zu sehr mit seiner Kunst, mit der Ausbildung eines neuen Kunstideals beschäftigt.

Heise: Wie sehr hat er denn die Menschen damals damit erreicht?

Runge: Seine Zeitgenossen, die haben seine Impulse sehr, sehr geschätzt. Es ist ja auch bekannt, dass Goethe, der ein recht zwiespältiges Verhältnis zur Romantik hatte, ihn aber doch sehr geschätzt hat. Und auf die Zeitgenossen hat er doch einen großen Einfluss gehabt, insbesondere durch das einzige Bild, was größere Verbreitung gefunden hat – es waren eben die "Tageszeiten", die in Kupferstichen veröffentlicht wurden.

Heise: Der Kinder- und Jugendpsychiater Paul Runge über seinen Urururgroßvater, den Maler und Dichter Philipp Otto Runge, der heute vor 200 Jahren starb. Danke schön, Herr Runge, für dieses Gespräch!

Runge: Ich danke auch!