Auf die Barrikaden im spanischen Elend

Von Julia Macher |
Sie wollen die Bürgermeisterin zu Verhandlungen zwingen, indem sie im Barceloner Stadtteil Nou Barris Häuser besetzen: Die Empörten. Spanische Aktivisten, die sich mit ihrer Situation nicht abfinden wollen: Es fehlt an Wohnraum, an Jobs, an Zukunft. Manchmal ist ihr Kampf ein Wettlauf gegen die Polizei.
Ein kleiner Platz in Nou Barris, im Norden Barcelonas. Auf einem Spielplatz tollen ein paar Kinder; der Gemüsehändler hat eine Kiste mit angedatschtem Obst auf die Straße gestellt, gratis, zum Mitnehmen.

Vor einer Betonwand, auf die jemand mit großen Lettern "A les barricades", "Auf die Barrikaden" gesprüht hat, wartet ein junger schlaksiger Mann: Francisco Garrobo, 26 Jahre alt, Web-Designer und Sozialaktivist.

"Nou Barris ist der Hintern von Barcelona. Wir sind mit Abstand das ärmste Viertel der Stadt, das mit den wenigsten öffentlichen Mitteln und das mit der größten Arbeitslosigkeit. Es gibt Kinder, die essen nur einmal am Tag, in der Schulkantine, bei manchen haben die Lehrer das Essensgeld gezahlt!"

Jede Woche trifft sich Garrobo im Nachbarschaftszentrum am Platz zur "Asamblea", zur Versammlung. In vielen spanischen Städte gibt es solcher Asambleas. Entstanden sind sie aus der Empörtenbewegung, die im Mai 2011 Spaniens Plätze eroberte. Seitdem gehört die Gruppe 15 M Nou Barris barcelonaweit zu den aktivsten, ein gutes Dutzend Bürgerinitiativen ist in ihr vertreten - Bündnisse gegen Kürzungen im Gesundheitsbereich ebenso wie ein Aktionsbüro für das Recht auf Wohnraum.

Früher unterhielt man sich in der Bar über Fußball und Formel 1, heute wird über Politik diskutiert, sagt Franciso Garrobo. Hausbesetzungen seien längst Alltag. Eine dunkelhaarige Frau nickt: Auch ihre Tochter und deren Freunde haben vor kurzem ein leerstehendes Haus besetzt: Nachdem vor einer Woche der Räumungsbefehl kam, sitzen Clara, Madeleine und Sergio jetzt buchstäblich auf der Straße.

Das Matratzenlager vor dem zweigeschossigen Wohnhaus fällt erst auf, wenn man unmittelbar davor steht. Madeleine und Clara haben ihre Schlafstätten hochkant geklappt, basteln - auf dem Boden kauernd - Ohrringe und Schlüsselanhänger für einen kleinen Verkaufsstand. Eine Passantin fragt, ob sie irgendetwas bräuchten, Essen, Trinken? Madeleine lehnt dankend ab.

"Die Leute merken, dass wir nicht aus Jux und Dollerei hier sind, sondern dass es uns um etwas geht. Die Verwaltungen versuchen immer, Armut zu verstecken. Wir wollen zeigen, dass es viele Leute gibt in unserer Situation, die vielleicht jetzt bei Freunden und Bekannten unterschlüpfen, sonst aber auf der Straße säßen."

Und so lange sich junge Leute mangels Job keine eigene Wohnung leisten können, sei es ihre einzige Chance auf Unabhängigkeit. Für Madeleine war der 15. Mai 2011 der Beginn von etwas völlig Neuem:

"Mich hat es mit 19 Jahren erwischt, plötzlich war man von Leuten umgeben, die neugierig waren, etwas verändern wollten. Da haben wir die Angst verloren, auf die Straße zu gehen. Natürlich gab es vorher schon soziale Mobilisierungen, aber der 15. Mai hat sie alle zusammengebracht."

"In diesem Viertel vielleicht mehr als anderswo", ergänzt Freundin Clara.

Ein paar Tage später ruft 15 M Nou Barris per Twitter zu einer Aktion für das Recht auf Wohnraum auf. Unter dem Vordach einer Ladenpassage drängen sich 70, 80 Leute. Hausbesetzerin Madeleine unterhält sich mit ein paar Rentnern, Clara hat ihre Mutter mitgebracht. Was genau passieren wird, weiß keiner von ihnen.

"Wir brauchen euch als Schutzschild", sagt er. Zustimmendes Nicken, dann marschiert die Gruppe im Laufschritt zu einer Neubausiedlung. Einer der Blöcke steht leer. Der Zugang ist durch einen Maschendrahtzaun versperrt.

"Heute machen sie es uns aber einfach", lacht eine Mittfünfzigerin: Zwei, drei Kniffe mit der Zange, dann kann der Zaun aus der Verankerung gelöst werden. Torre Baró, erklärt Francisco Garrobo, während er einem älteren Herrn beim Durchschlüpfen hilft, gehört dem Bezirk. 38 Wohnungen sollen sozialen Härtefällen zur Verfügung gestellt werden. Doch es sind viel zu wenig. Um das Rathaus zum Handeln zu zwingen, werden sie das Haus jetzt besetzen.

"Zu viele Familien aus dieser Gegend bleiben außen vor. Familien, die lediglich Sozialhilfe bekommen oder gar keine Einkünfte haben. Wir bleiben so lange hier, bis das Rathaus endlich genügend Wohnraum zur Verfügung stellt. Seit über einem Jahr verhandeln wir schon und jetzt reicht es uns."

Die rund 80 Männer und Frauen stellen sich wie ein Schutzwall vor die Eingangstür. Vier von ihnen rollen ein meterlanges Transparent aus: "Ein Recht auf Wohnung" steht darauf. Dahinter machen sich zwei mit einem Schweißgerät an der Gittertür zu schaffen. Ein Sicherheitsbeamter hat die Gruppe erspäht, greift zum Funkgerät. Garrobo kaut auf seiner Unterlippe. Jetzt geht es um Zeit.

Eine Minute später das Kommando: Los, alle rein! Die Tür fällt ins Schloss. Wenn die Polizei jetzt kommt, bräuchte sie zuerst einen Räumungsbefehl. Garrobo atmet auf: Besetzung geglückt.

"Reservier mir eine Dachgeschosswohnung!" scherzt er durch die Gegensprechanlage, winkt dann lachend ab. Es gehe lediglich darum, Gespräche zu erzwingen. Das gelingt. Drei Stunden nach der Besetzung fährt der Privatwagen der Bürgermeisterin vor den Block. Die Verhandlungen beginnen noch in der gleichen Nacht und zwei Tage später hat das Viertel acht offizielle Sozialwohnungen für Härtefälle mehr: Ein Etappensieg für Nou Barris und seine Empörten.