Auf der Welle des Reißerischen

"Skandalös gut!" – mit diesem Slogan auf dem Einband legen es die Autorinnen darauf an, einen Verkaufsschlager zu landen. Der Inhalt enttäuscht: Éléa Baucheron und Diane Routex wählen die angeblichen Skandalwerke der Kunstgeschichte recht beliebig aus - die Texte bleiben oberflächlich.
Sex sells! Das ist eine altbekannte Marketingweisheit. In der bildenden Kunst gilt dieses Credo aber nur bedingt. Der noch potentere Garant für Aufmerksamkeit ist das Skandalöse. Doch nicht nur das. Die Kunstgeschichte hat zudem bewiesen, dass viele Werke, die Aufruhr erzeugten oder gar zensiert wurden, im Rückblick wichtig sind.

So wird die Bezeichnung eines Werks als "skandalös" zum Seismograf künstlerischer Relevanz und provokanter Grenzverschiebung. Der Prestel Verlag verwandelt nun aber skandalöse Kunst in leichte Kost und lässt uns die Betroffenheit oder Verzweiflung von Künstlern, genauso wie ihren Mut für Neues oder ihren Drang, uns aufzurütteln, in gepflegter Pose auf der Couch genießen.

Knackige Themen in handlichen Happen. Es ist nicht das erste Buch, das der Verlag diesem Anliegen schuldet. Mal geht es um verschollene Kunstwerke, mal um welche mit optischer Täuschung, mal um jene, die die Kunstgeschichte der Zukunft schreiben. Und heute eben um "die unerhörtesten Skandale". Immerhin wird der Wunsch, auf der Welle des Reißerischen zu surfen, nicht verhehlt. "Skandalös gut!" ist schon auf dem Einband in großen Lettern zu lesen.

Die Autorinnen, so heißt es weiter, "erklären anhand umstrittener Werke von Michelangelo bis Ai Weiwei, warum es oft gerade Kontroversen sind, die die Kunstwelt nachhaltig prägen". So sehen wir in Holbeins Leichnahm Christi im Grabe eine schonungslos menschlich verwesende Leiche. Allzu Fleischliches anderer Art findet sich in Ingres Türkischem Bad oder in Courbets Ursprung der Welt. Skandale, so wird deutlich, sind eine Reaktion auf gebrochene Tabus, seien diese sittlicher oder künstlerischer Art, wie bei Duchamps Fountain, Manzonis Künstlerscheiße oder Pollocks Drip Painting One. Number 31.

Fragen, die sie selbst aufwerfen, verlaufen im Sande
Doch spätestens hier wird die Frage immer dringlicher, welche Kriterien die Grundlage bilden. Wie wird ein Skandal definiert? Ist ein wortgewand-bissiger Disput unter Kritikern ein solcher? Wer diente als Gradmesser, wenn wir im Falle Holbeins lesen, dass man über die seinerzeitige Rezeption kaum etwas wisse? Wie wäre zwischen einem Skandal und einfach nur empörten Gemütern zu unterscheiden, wie das Buch selbst einmal fragt? Immer wieder scheinen solche Fragen auf und verlaufen im Sande. Auch ein Versuch der Analyse oder Synthese findet nicht statt. Einzelbeispiel steht neben Einzelbeispiel, untergliedert in vier Kapitel mit kursorischer Einführung: Sakrileg, politisch inkorrekt, sexuelle Skandale, künstlerische Grenzüberschreitung.

Versuchen wir uns selbst in der Verbindung zwischen kurzfristiger Provokation und nachhaltiger Relevanz, fehlt uns Futter. Die Feststellung, Beuys habe "mit seinem Ansinnen, den Kunstbegriff zu erweitern seine Zeitgenossen schockiert", doch hätten "die gut besuchten Retrospektiven" ja nun bewiesen, dass sein Anliegen "alles andere als Schaumschlägerei war", ist zum Beispiel kaum hilfreich. Ähnlich an der Oberfläche kratzt die Einsicht, "unser Zeitalter unterscheide sich von anderen durch die rastlose Suche nach dem Skandal".

Ganze 150 Seiten später folgt der Schluss, dass "man das Überangebot schockierender Werke eigentlich nur noch zur Kenntnis nehmen" könne, da "Provokation zu einer neuen Norm geworden" sei. Aber ist ein Skandalempfinden im Dauermodus denkbar? Ist das Skandalöse als Norm möglich? Und wer macht den Skandal zum Skandal, wenn wir ihn gelassen zur Kenntnis nehmen? Immerhin verspricht uns das Buch eingangs nur die Entdeckung, dass "der Skandal weit mehr als ein Verkaufsargument" sei – und nicht warum. Doch selbst das ist zumindest in diesem Fall nicht recht zu glauben.

Besprochen von Dorothée Brill

Éléa Baucheron, Diane Routex: Skandalkunst. Zensiert, Verboten, Geächtet
Prestel Verlag, München 2013
176 Seiten, 29,95 Euro