Auf der Suche nach Vorbildern

Von Rainer Burchardt |
Sind sie wirklich unserer "eigenes Gemächsel", wie Immanuel Kant in seiner "Metaphysik der Sinne" formuliert hat. Selbst gemachte Idole also, vor denen nieder zu knien oder sich vor ihnen zur Erde hinzuwerfen um der Verehrung willen, der Menschenwürde zuwiderläuft und eine Selbstdemütigung bedeutet? Leitbildverehrung auf der Suche nach Werten also das Gegenteil von Aufklärung, bar jeglicher Vernunft?
Dabei gibt es sie doch immer wieder, jene leidige Debatte um die Leitkultur. Abgesehen von der Ambivalenz dieses Begriffes wird in diesem Zusammenhang stets die Frage aufgeworfen, wer wir sind, wer oder wie wir sein wollen oder sollen. Es geht immer wieder um Orientierung, diese aber durchaus mit dem zweiten Gedanken des Integrationspostulats an andere, Fremde, Zugereiste, Eingewanderte. Das verkappte Bollwerk Leitkultur ist dabei eine wohlfeile Sinntäuschung. Letztlich geht es bei deren Adepten um nicht mehr und nicht weniger als eine verbindliche Leitbildorientierung für andere.

Dabei, und dies beweisen zahlreiche Studien der letzten Jahre, die Shell-Jugend-Studie vor allem, ist den Deutschen schon längst eine allgemeingültige Werte-Orientierung und damit auch deren Inkarnation durch Vorbilder abhanden gekommen.
Schon vor sechs Jahren stellte die Shell-Studie fest, dass "die Zeiten stabiler Leitbilder und homogener Wertestrukturen vorbei zu sein" scheinen. Gleichzeitig war verschiedenen Expertisen des Münchener IFO-Instituts zu entnehmen, dass es vor allem in der Jugend einen immer stärkeren Egozentrismus gibt, der geradezu auf die Ablehnung von Idolen hinauslaufe.

Dies steht nur scheinbar in krassem Widerspruch zu den relativ erfolgreichen TV-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar", der aus dem Kollektiv gewissermaßen eine DSDS-Gesellschaft machen will. Eher ist dies wohl neben der kommerziellen Quotenjagd auch die Erkenntnis der Medienmacher, dass die Menschen, vor allem die Jugend Vorbilder benötigen. Motto: Neue Idole braucht das Land.

Diese Erkenntnis rührt besonders aus empirischen Erhebungen, nach denen sich vor allem die Jüngeren inzwischen ihre Vorbilder nahezu ausschließlich und dies stets nur sehr kurzfristig und trendabhängig aus den Welten von Show, Pop, Sport und Kunst besorgen. Während in der zweiten Hälfte des vergangene Jahrhunderts noch globale Ikonen wie Ghandi, Mao, Kennedy, Mutter Teresa oder Willy Brandt als Vorbilder galten, sind es jetzt- und dies mit relativ kurzfristigem Verfallsdatum - Popidole wie Madonna, Britney Spears oder Eminem, Sportler wie David Beckham, Michael Schumacher oder Dirk Novitzki, Filmstars wie Tom Cruise, Jennifer Lopez oder meinetwegen auch Heike Makatsch.

Sie kommen aus dem trivialen Revier der Unterhaltung, sie sind medial allgegenwärtig und doch unerreichbar. Und so bleiben uns gerade einmal der Verehrungs- und Bewunderungskult, ja bisweilen auch das Imitationsgehabe und die Beihilfe dazu durch blanken Voyeurismus.
Letzteres übrigens mit einem zunehmenden Einfluss auf das banal alltägliche. Die Frisuren von Beckham, die Figur bewunderter Laufstegikonen, bis hin zur tödlichen Magersucht, Identifikationskopien bei Fernsehshows auf der Suche nach welchem Star auch immer: Super, Mega, Giga – gigantische Titanen werden kreiert von einer Meute zynischer Quotenjäger, die bewusst ideale und Idole verwechseln, eine Popindustrie am Laufen halten, nach dem Motto: Der Schein bestimmt das Bewusstsein.

Die Medien liefern uns täglich neue Angebote aus den Logistikzentren der Starfabriken.
Parallel zur digitalisierten Überinformation unserer All-on-demand-Gesellschaft hat sich das globale Dorf längst zu einer gigantischen Metropole entwickelt, in der jeder jedes virtuell haben aber real nur weniges besitzen kann. Ein Orientierungschaos ist die Folge. In einer derartigen Werte-Wüstenei verkommt jede Leitfigur zur Fata Morgana. Im Film mit dem Titel "Kick it like Beckham", was soviel bedeuten soll wie "Mach es wie Beckham", wird solchermaßen ein Integrationstipp angeboten. Tätiges Klonen ließe sich dies nennen, es ist das gefährliche Missverständnis vom Nacheifern. Es kann auf freiwilligen Verzicht auf die eigene Identität hinauslaufen, die Idolatrie, also die Bilderverehrung ist in diesem Sinne ein verwerflicher Götzendienst.

Doch, seien wir ehrlich: Kommen wir wirklich ohne Vorbilder, ohne Leitfiguren aus? Jede Generation hatte und hat ihre Götter auf Erden. Es ist ja nicht verwerflich, sich an anderen zu orientieren, die dem eigenen Leit- oder Wunschbild am nächsten kommen. Bedenklich wird es nur, wenn die Idole Macht über uns gewinnen. Der politische Personenkult, ob bei Hitler, Mao oder Stalin hat genau so viel individuelles Unglück gebracht wie das virtuelle Nacheifern von magersüchtigen Modells oder Killern in Computerspielen. Idole darf man haben, aber sie sollten uns möglichst fern bleiben. Sonst setzen wir unsere Vernunft im kantschen Sinne des kategorischen Imperativs aufs Spiel, wonach das eigene Handeln stets an allgemein gültigen sittlichen Normwerten orientiert sein sollte. Der Rest wäre eigenes Gemächsel.

Prof. Rainer Burchardt lehrt an der Hochschule Kiel im Bereich Medien- und Kommunikationsstrukturen. Er hat zudem seit längerer Zeit eine Honorarprofessur an der Hochschule Bremen inne. Rainer Burchardt war zuvor seit Juli 1994 Deutschlandfunk-Chefredakteur.
Vor seiner fast zwölfjährigen Tätigkeit beim Deutschlandfunk war Burchardt langjähriger ARD-Korrespondent in Brüssel, Bonn, Genf und London. Unter anderem schrieb er für DIE ZEIT, Sonntagsblatt und andere Zeitungen und ist Vorstandmitglied der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche".