Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen

Von Carolin Pirich · 30.11.2012
Seit 66 Jahren gibt es den Kammerchor "Geschwister Scholl" in Fürstenwalde. Sein Repertoire umfasst Mozart und Bruckner, Volksweisen und Zeitgenössisches. Mit dem neuen Format "Geschichte, Gedichte, Gesang" will sich der Chor noch mehr in der Stadtgeschichte verwurzeln.
210 mit rotem Samt bezogene Stühle haben nicht gereicht, man hat irgendwoher weitere organisiert, jetzt sind es 300. Der Saal ist voll. Die Damen in der zweiten Reihe sehen sich im Publikum um, im festlich ausgeleuchteten Bürgersaal von Fürstenwalde.

"Der war früher mal der Tanzsaal von Fürstenwalde, bevor Fürstenwalde, sag ich jetzt mal, sozialistisch wurde. So lang wie ich denken kann, ich bin jetzt 76, gab's den Fürstenwalder Hof."

Die Damen haben sich an der Bar dunkles Bier geholt. Sie besuchen jedes Konzert des Kammerchors:

"Wir sagen mal: Fast immer. Zu Weihnachten sowieso."

Die singenden Herren tragen Smoking mit roter Fliege, die Damen das Lange Schwarze. Hinter ihnen leuchtet ein Dia an der Wand. Es zeigt das Porträtbild des Komponisten, dessen Musik sie gerade singen, seine Lebensdaten, den Titel des Stücks und einen knapper Satz, wann und wie es entstanden ist.

Wolfgang Andres: "Man muss mal was Neues erfinden. Und ich hab den Eindruck gehabt, Fürstenwalde ist zu wenig geschichtsorientiert, auf unsere eigene Stadtgeschichte. Ich hab viel mit Bad Saarow zu tun, die sind viel aktiver. Die haben auch ihre Persönlichkeiten, die man erwähnen kann. Aber Fürstenwalde hat sie auch!"

Und die will der Chor in seiner neuen Reihe vorstellen.

Wolfgang Andres ist seit 1946 Chormitglied - bis heute ohne Unterbrechung. Sein damaliger Berufsschullehrer Martin Adler hat den Chor gegründet. Gegen den Willen seiner Schüler.

Wolfgang Andres: "Da war die erste Unterrichtsstunde nach dem Krieg. Das erste, was er gemacht hat, er legte eine Liste auf den Tisch, hier tragt ihr Euch alle ein, wir werden einen Chor in der Klasse gründen. Und als dann die erste Stunde vorbei war, war da nüscht drauf, null. Fußball haben wir gespielt. Und dann hat er gesagt, na gut, dann müsst ihr eben alle singen."

Die Website des Chorslistet Wettbewerbssiege auf und CD-Aufnahmen, erzählt von den Erfolgen, als der Chor zum Doppelquartett wurde, und von Fernsehauftritten. Heute ist der Geschwister-Scholl-Chor wieder ein Kammerchor: 30 Damen, elf Herren und Rudolf Tiersch, Chorleiter seit 1987.

Rudolf Tiersch: "Das freut mich am meisten, dass in den letzten Jahren kein Ausreißer nach unten war, sie waren alle auf einem sehr guten Niveau."

Beim Konzert trägt der Chorleiter nicht wie die anderen Herren Smoking mit roter Fliege, sondern künstlerisch schwarz: Rollkragenpulli und Stoffhose, in der Hand eine Stimmgabel, die im Scheinwerferlicht aufblitzt, wenn er sie zückt, und die er wieder in die Hosentasche schiebt, bevor er das nächste Stück dirigiert.

Am Ende hebt er den Arm zum Chor, als wolle er den Applaus direkt zu seinen Sängern weiterleiten. Wenn er den ausgestreckten Arm in einer schnellen Bewegung dann senkt, setzen sich alle hin. Gleichzeitig.

Den Damen im Publikum gefällt's:

"Ein schöner Klangkörper. Vor allem: Dit sind ja fast alles Fürstenwalder!"

Guido Strohfeldt: "Wir schreiben das Jahr 1688. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm ist tot. Der nächste Kurfürst heißt Friedrich III. Er lebte ein wunderschönes Leben in Brandenburg und leerte die Kassen des Landes."

Geschichte, Gedichte, Gesang. So heißt die Reihe des Kammerchors, und deshalb tragen der Leiter des Städtischen Museums und der ehemalige Bürgermeister von Fürstenwalde zwischen den Musikstücken zeitgeschichtliche Dokumente vor, von Friedrich dem Großen, Friedrich I., und Briefe, Gedichte und Berichte von Stadtchronisten.

Manfred Reim: "Nachdem seine kurfürstliche Durchleuchtigkeit zu Brandenburg unser gnädigster Herr ja missfällig vernommen."

Das Repertoire des Chors ist groß. Und vielfältig. Sie singen Schütz und Scheidt, Mozart und Bruckner, Volksweisen und Zeitgenössisches. Jeden Montagabend kommen sie zur Probe zusammen, selbst dann, wenn sie am Vorabend ein Konzert gegeben haben.

Peggy: "Wir geben uns alle große Mühe, immer da zu sein. Sicherlich hat man mal Tage, wo man sich durchringen muss, aber wenn man dann da ist und der Rudi vor einem steht, unser Dirigent, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Ja, das gehört bei mir zum Leben dazu."

Peggy ist eine der jüngsten Sängerinnen. Mit 16 ist sie zusammen mit einer Freundin in den Chor eingetreten.

Peggy: "Meine Mama singt auch im Chor, dadurch hat man den Zusammenhang gehabt. Wir sind dann mal schnuppern gegangen und hängen geblieben. Das war nun schon vor 25 Jahren."

Am Ende des Konzerts wird Chorleiter Tiersch zufrieden sein. Die Damen aus der zweiten Reihe im Publikum sind es auch.

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.