Auf der Suche nach "Jewish Harlem"

Von Heike Wipperfürth |
Jüdische Geschäfte und Schulen - sie sind aus Harlem verschwunden. Einst standen dort mehr als 100 Synagogen. Doch wer sich auf die Suche begibt, kann die Spuren der jüdischen Geschichte in dem 400 Jahre alten Stadtteil von New York immer noch finden.
Ein Gottesdienst in der Bethel Way of the Cross Church of Christ. Etwa zwei Dutzend schwarze Gemeindemitglieder schwingen die Hüften und singen so laut sie können, um Jesus Christus als ihren Erlöser zu preisen - in einer ehemaligen Synagoge in Harlem.

Das Gebäude an der 118. Strasse mit den kleinen Türmchen auf dem Dach wurde vor 112 Jahren von polnischen Juden im maurischen Stil erbaut - mitten in "Jewish Harlem".

So wurde der vierhundert Jahre alte New Yorker Stadtteil damals genannt. Es war das weltweit drittgrößte jüdische Zentrum - nach Warschau und der Lower East Side.

"Zur Zeit des ersten Weltkriegs lebten 175.000 Juden in Harlem. Es war das zweitwichtigste jüdische Zentrum in Amerika. Das sind ungeheuer viele Menschen. Und viele Geschichten."

Das sagt Jeffrey Gurock. Der Historiker hat ein Buch über das jüdische Harlem geschrieben. Was brachte so viele Einwanderer aus Europa in die ländliche Gegend im Norden New Yorks? Platzmangel in der Lower East Side, wo sie sich nach der Flucht vor Progromen und Benachteiligung niedergelassen haben. Als sie nach Harlem zogen, haben sie das Gewerbe- und Kulturleben dort stark beeinflusst - über zwanzig Jahre lang.

Genauer gesagt: Von 1895, als die ersten Juden nach Harlem zogen, bis zum Ende des ersten Weltkriegs, als immer mehr Afroamerikaner in die preiswerten Wohnungen des schnell wachsenden Dorfes drängten - während die privilegierteren Juden auf der Suche nach Wohlstand und sozialem Gefüge in andere Wohngegenden umzogen.

Jüdische Geschäfte und Schulen - sie verschwanden wieder. Von über 100 Synagogen ganz zu schweigen. Doch ein knappes Dutzend Gotteshäuser, die in Kirchen umgewandelt wurden, führen zu einer Spurensuche in die Vergangenheit, als berühmte Juden wie der Schriftsteller Henry Roth und der Komponist Oscar Hammerstein dort wohnten, und werfen Fragen auf über Hautfarbe und Glaube.

Wo aber beginnt man mit der Suche? Bei der ehemaligen Babtist Temple Church - einer dachlosen Ruine neben neuen Wohnhäusern und kleinen Geschäften an der 116. Strasse?

Warum nicht? Doch nur wer weiß, dass die Tempelruine 1906 von ungarischen Juden erbaut wurde, sieht genauer hin. Denn der vergitterte Eingang erzählt ein Stück jüdischer Geschichte. Von langen Schlangen, die sich bildeten, weil keiner den Gesang des berühmten Kantoren Yossele Rosenblatt verpassen wollte, der hier angestellt war. Er galt als der "größte der Kantoren” und war ein Star, der nicht nur die Synagoge, sondern ganze Konzertsäle füllte.

Der Ruine schräg gegenüber auf der anderen Strassenseite: The Salvation and Deliverance Church. Der Pastor ermuntert seine Gemeinde mit einer Predigt. Davon, dass hier einmal Tora und Talmud Teil des Alltags waren, ist nichts mehr zu spüren.

Dabei lockte die Institutional Synagoge neue Besucher an - weil sie neben Gottesdiensten auch eine Bücherei, ein Gymnasium, einen Tanzsaal und ein Musikzimmer anbot. Das brachte ihr einen Spitznamen ein: "School with a pool”. Ein neues Konzept, sagt der Historiker Jeffrey Gurock.

"Es war der erste Versuch, ein sogenanntes Synagogenzentrum zu entwickeln, das Neugierde und Hoffnung wecken soll. Man konnte kommen, um ein Musikinstrument zu spielen und bleiben, um zu beten. So wollte man junge Leute für moderne Religion begeistern. Es ging nicht darum, die Theologie, sondern das soziale Leben zu betonen."

Also: Man passte sich Amerika an, ohne die religiöse Grundierung des Lebens zu verlieren. So auch im Temple Israel an der Lenox Avenue, einer Synagoge, die 1907 von deutschen Juden errichtet wurde. Auf dem Dach des Gebäudes, das an einen römischen Tempel erinnert, sind noch die Davidsterne zu erkennen. Es wurde 1925 von Mount Olivet, einer der ältesten und einflussreichsten schwarzen christlichen Gemeinden New Yorks übernommen.

Und wurde zu einem Ort, in dem sich umstrittene Redner wie der venezulanische Präsident Hugo Chavez und Präsident Robert Mugabe aus Zimbabwe die Klinke in die Hand gaben. Das wäre im Temple Israel undenkbar. Aber darum geht es ja nicht.

Koscher essen, Kippa tragen, fasten am Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag - das galt auch für die Commandment Keepers, eine Gemeinde schwarzer Juden. Sie wurde 1919 in Harlem gegründet und sieht ihre Wurzeln in Äthiopien, sagt Marlaine Glicksman, die einen Film über die sogenannten "Hüter der Gebote” gedreht hat.

"Es gibt mehr als fünfzig Hinweise auf Äthiopien im alten Testament, aber keine auf Polen. Das gefällt den Afro Amerikanern. Auch das Thema des Leidens und der Erlösung beim Auszug aus Ägypten ist im Einklang mit afroamerikanischem Leben."

Doch die ehemalige Synagoge der Commandment Keepers an der 123. Strasse steht zum Verkauf. Was fehlte, war ein Dialog, sagt Marlaine Glicksman.

"Die schwarzen Juden sagen, dass weiße Juden in ihre Synagogen kommen und ihren jüdischen Glauben in Frage stellen. Sie glauben ihnen einfach nicht, dass sie koscher essen."

Anders geht es in einem Kleinod zu, das auch heute noch als jüdisches Gotteshaus in Harlem funktioniert: Die Old Broadway Synagogue.

Das Gebäude in der Nähe der 125. Strasse ist nur einen kurzen Spaziergang vom Apollo Theater entfernt, in dem schwarze Sängerinnen wie Ella Fitzgerald, Sarah Vaughn und Billie Holiday ihre Karriere begannen.

In der Synagoge, 1923 im traditionellen Baustil von osteuropäischen Juden errichtet, scheint Hautfarbe keine grosse Rolle zu spielen. Man suche ständig neue Mitglieder, wichtig sei, dass sie sich in Harlem wohlfühlen, sagt Paul Radensky, der Präsident der Synagoge.

"Wir sind in vieler Hinsicht abseits vom Rummel. Unsere Gemeindemitglieder haben viele Hautfarben und unterschiedliche Einkommen. Wir sind einfach anders. Wer zu uns kommt, ist unternehmenslustig und will seinen Horizont erweitern."

Derlei Visionen kosten Geld. Gerade hat die Synagoge 180.000 Dollar für ein neues Dach ausgegeben. Viel mehr steht ihr nicht zur Verfügung. Doch es gibt noch viel zu tun. Dennoch ist Paul Radensky zuversichtlich.

"Ich hoffe, dass wir noch viele Jahre weitermachen können. Einfach ist das nicht. Wir müssen nicht nur das Gebäude aufrechterhalten, sondern auch die Gemeinde weiter entwickeln. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich nachts nicht schlafen."

Hoffentlich schafft es die Old Broadway Synagoge, sich zu etablieren: als jüdisches Gotteshaus, das für Menschen unterschiedlicher Hautfarben in Harlem eine religiöse Heimat bleibt. Das wäre doch ein toller Erfolg.

Link auf dradio.de:

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