Auf der Suche nach der ewigen Jugend
1903 reist der 21-jährige Stefan Zweig nach Paris. "Für das erste Jahr der eroberten Freiheit hatte ich mir Paris versprochen" schreibt der junge Autor aus Wien. Und die Stadt wird all seine Erwartungen erfüllen. Zweig begeistert die Unbekümmertheit des Daseins, die Schönheit der Formen und der Reichtum an Traditionen.
"Die Grenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen waren stark verschwommen, egal wo, man hörte immer ein herzhaftes Lachen." In dem Sammelband "Erinnerungen an die Welt von Gestern" beschreibt Zweig die bürgerliche Welt, die in zwei Weltkriegen unterging.
"Paris, die Stadt der ewigen Jugend" ist seine Hommage an das lebensbejahende Paris, das er Anfang des Jahrhunderts kennen lernte. Ein Jahrhundert später, suchen immer noch viele Reisende nach dem Paris der ewigen Jugend. Wir versuchen es zu finden.
" Jedes Mal wenn ich mit dem Taxi fahre, bin ich wieder von der Schönheit dieser Stadt erschüttert. Die ist wirklich atemberaubend schön. Und man müsste schon blind sein und ein vollkommen unsinnlicher Mensch um die Schönheit dieser Stadt nicht aufnehmen zu können in sich."
Acht Uhr Morgens, auf der Place de Fêtes in Paris. Es ist Markttag. Rund um den kleinen Platz haben Händler ihre Waren ausgestellt. Üppig bestückte Obst-, Gemüse-, Fleisch- und Fischstände reihen sich aneinander. Brotlaibe und Baguettes in etlichen Formen und Längen liegen beim Bäcker in der Auslage. Zarte Törtchen mit kunstvollen Verzierungen.
Ein älterer Mann in grobem Strickpullover und gefütterter Weste verkauft Champignons, Pfifferlinge, Steinpilze. In einem kleinen Plastiktöpfchen – auch ein paar Trüffel.
"Die sind meistens etwas älter deswegen auch nicht zu teuer. Heute hat er gute Sachen Trompetenpilze, Trüffel und Schaffüße da weiß ich den Namen nicht auf deutsch - die Trüffel kosten die kleine Schachtel nur fünf Euro, die kommen aber auch aus China. Kann man ein schönes Omelett daraus machen."
Peter Haegel reibt sich die Hände, freut sich. Der schlanke Mann mit den stecknadelkurzen Haaren und der schwarzen eckigen Hornbrille liebt diesen Markt. Dreimal die Woche wird er aufgebaut. Knapp hundert Meter neben seiner Wohnung. Der 34-Jährige ist dann fast immer hier zu finden.
"Das ist eine meiner Lieblinsbeschäftigungen. Gute Stimmung ein richtiger marché populaire. Ich mag ja ungern Berlin und Paris vergleichen aber was hier super ist, ist gutes Essen einkaufen und selber zu kochen. Für das gute Leben bezahlst du in Paris weniger Geld als in Berlin für sehr hochwertige Lebensmittel."
Die Liebe lässt Peter Haegel vor drei Jahren von Berlin nach Paris umziehen. Jetzt arbeitet er als Dozent an der American University. Haegel schiebt sich an einem Mann vorbei, der - nicht besonders diskret - das Brustmaß einer Kundin unter ihrem Wintermantel nimmt. Routiniert kramt der Verkäufer einen enormen Spitzen-BH aus einem Karton, preist die filigrane Verarbeitung. Haegel grinst, eilt weiter zum benachbarten Gemüsestand.
Der entspannte Umgang zwischen den Geschlechtern amüsiert vor gut hundert Jahren auch den jungen Stefan Zweig. Nach seinem Studium in Wien reist der 23-Jährige 1904 für mehrere Monate nach Paris. Ein Aufenthalt, der ihn knapp 40 Jahre später zu dem Aufsatz "Paris, die Stadt der ewigen Jugend" inspiriert. Blumig und beschwingt beschreibt er darin die Lebenslust und Kreativität einer quirligen Stadt, die dem jungen Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kopf verdreht. Peter Hägel kennt den Text. Er verstaut den gerade erstandenen Salatkopf in der Stofftasche, sucht sich ein ruhiges Plätzchen auf einer Bank, liest aus dem Paris-Kapitel aus Zweigs Buch "Die Welt von Gestern":
"Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten; zwischen den Luxusstraßen und den schmutzigen Durchlässen daneben lief keine sichtbare Grenze, und überall ging es gleich belebt und heiter zu. Immer lag irgendwo ein Lachen in der Luft oder ein gutmütiger Zuruf. Wenn da und dort zwei Kutscher sich engeulierten, schüttelten sie sich nachher die Hände, tranken ein Glas Wein zusammen und knackten dazu ein paar der spottbilligen Austern. Nichts war schwierig oder steif. Ach was lebte man schwerelos, lebte man gut in Paris, und insbesondere wenn man jung war."
Nachsichtig schüttelt Haegel den Kopf über den Enthusiasten Zweig. Gut schon, aber schwerelos findet Haegel das Leben im heutigen Paris nicht gerade:
"Ich denke das trifft wenig zu heute. Insgesamt arbeiten die Leute sehr viel, weil die Stadt ist teuer ganz egal in welcher Schicht sie leben. Die Leichtigkeit ist wenig spürbar. Ich weiß nicht, ob es ein Klischee war, wenn man die Filme aus der Zeit guckt, da kriegst du das immer schon mit. Das war vor allem eine Qualität des Paris Populaire und das ist weit verschwunden."
Hägel weist auf den Place de Fêtes. Auf der einen Seite säumen Hochhäuser den Platz, auf der anderen herausgeputzte, drei- bis vierstöckige Häuser. Überbleibsel des 19. Jahrhunderts. "Der proletarische Osten von Paris ist das hier längst nicht mehr", sagt Hägel ein bisschen wehmütig. "Aber Austern kriegt man immer noch spottbillig". Sein Gesicht hellt sich auf. Er springt auf, läuft zum Fischstand hinüber. Ganz rechts, neben Seeigeln, Jakobsmuscheln, Langusten und Krebsen, stehen gleich fünf Eimer mit Austern. Sortiert nach Herkunft und Größe. Hägel zeigt auf eine mittlere Variante
"Die sind schön. Ein Dutzend für 4,50 – Ca va. Sonntags gibt’s immer zwei oder drei Dutzend im Sonderpack. Wenn man die einfachen Varianten wählt kann man auch drei Dutzend für vier Euro finden."
Hägel lässt sich ein Dutzend Austern einpacken. Die robuste Frau hinter dem Stand zwinkert ihm zu, verwickelt ihn in ein Gespräch. Mit ihren geröteten Wangen und der fröhlich, schnoddrigen Art erinnert sie den Deutschen ein bisschen an die Protagonisten von Zweigs Paris. Seit Ende der Siebziger Jahre schon steht Genvieve – wie sie sich Hägel vorstellt - dreimal die Woche hier.
"Das hat sich schon alles ganz schön verändert. Ist nicht mehr dieselbe Stimmung. Ist sehr bürgerlich geworden. Aber ist gibt ja auch nette Bourgeois. Wir versuchen schon noch ein bisschen zu lachen. Trotz der Krise."
Und der Austernkonsum? fragt Haegel. Genvieve lacht. "Der trotzt auch der Krise. Steigt, beständig.
"Früher hat man die nur im Sommer gegessen jetzt aber das ganze Jahr weil man eben Kühlschränke hat, dann halten die sich mindestens drei Wochen. Heute essen ja alle Leute ständig Austern. Ist überhaupt kein Luxusprodukt mehr. Früher gab es die nur Weihnachten."
Haegel packt seine Einkäufe verabschiedet sich. In zwei Stunden gibt er ein Seminar, muss vorher noch ein paar Arbeiten korrigieren
Neun Uhr. La Coupole in Montparnasse. Andere Seite der Seine. In der legendären Brasserie, Stammlokal von Hemingway drängeln sich Männer und Frauen um die Bar auf einen schnellen Kaffee. Eine Frau mit lockigen, rötlichbraunen Haaren sitzt etwas weiter an einem Tisch über Le Monde gebeugt. Vor sich eine kleine Tasse Espresso und ein Glas Wasser. Gila Lustiger, Schriftstellerin, ursprünglich aus Frankfurt am Main. Sie kommt oft hierher, sitzt fast täglich unter der großen Kuppel.
"Ich habe hier zwei Romane geschrieben als meine Kinder klein waren. Die Geräuschkulisse hat mich nicht so abgelenkt wie das Gebrüll zu Hause. Und weil mir das gefällt hier. Sie können hier immer noch zwei stunde Kaffee trinken und Zeitung lesen ohne dass einen einer stört."
Gila Lustiger lebt seit 1987 in Paris. Genau wie Stefan Zweig zieht es auch sie direkt nach dem Studium hierher. Sie nippt an ihrem Kaffee. Sie kennt den kleinen Text, den ihr Vorgänger Zweig über Paris geschrieben hat. Es gibt da ein paar hübsche Passagen - wie diese, sagt Lustiger und liest vor:
"Man konnte gekleidet sein, wie es einem beliebte, die Studenten posierten mit ihren koketten Baretts über den Boulevard Saint Michel, die rapins wiederum, die Maler, machten sich pastos mit breiten Riesenpilzen von Hüten und romantischen schwarzen Samtjacken, die Arbeiter wanderten unbesorgt in ihren blauen Blusen oder hemdärmelig über den vornehmsten Boulevard, die Ammen in ihren breit gefälteten bretonischen Hauben, die Weinschenker in ihren blauen Schürzen. Die hübschesten Mädchen schämten sich nicht mit einem pechschwarzen Neger oder einem schlitzäugigen Chinesen Arm in Arm und ins nächste petit hôtel zu gehen, Wer kümmerte sich in Paris um solche Poanze wie Rasse Klasse und Herkunft?"
Lustiger lacht. Das ist natürlich stark romantisiert sagt sie. Aber es gibt Orte in Paris, an denen sich noch immer solche Szenen abspielen können. Hier zum Beispiel. Lustiger weist auf den prunkvollen Saal.
"Hier haben sie morgens an der Theke immer noch den billigsten Kaffee in Paris früh morgens zwischen sieben und acht kommen die Penner, sich dann hier waschen dürfen dann kommen die Journalisten, dann die Geschäftsmänner die hier Meetings halten und dann die Hausfrauen, die mit ihren Freundinnen Kaffee trinken. Sie haben hier alle sozialen Klassen, die sich nicht treffen, aber doch kreuzen."
Sie winkt den Kellner heran, bezahlt ihren Espresso. Die Autorin spricht noch immer mit einem leichten deutschen Akzent. Das ist ihr egal. Im Gegensatz zu Stefan Zweig, der der französischen Kultur uneingeschränkte Bewunderung entgegenbringt, ist Lustiger deutlich mehr auf Distanz. Und das obwohl sie ursprünglich wegen der Liebe zu einem Franzosen hierher zieht.
"Cherchez la femme – suche die Frau sagt man immer, wenn man einen Beschluss nicht versteht. Bei mir war es immer cherchez l’homme. Die ersten Jahre waren für mich sehr schwer. Mein Mann ist Lyriker gewesen und ich bin in die intellektuellen Kreise gepurzelt und die haben mich weil ich mich auf französisch nicht richtig ausdrücken konnte behandelt wie den letzten Dreck – ich spreche vier Sprachen bin dreisprachig aufgewachsen und ich fand das empörend wie die mich behandelt haben nur weil mein Französisch nicht so perfekt ist –die Franzosen denken ja immer noch die einzige Kultur mit einem großen K ist die ihre."
Energisch zieht sie den Gürtel ihres Mantels zu, verlässt la Coupole.
Elf Uhr. Ein paar Metrostationen weiter. Die private American University hat eine noble Adresse. In einem schmucken, achtstöckigen Altbau, ist sie zwischen Hôtel des Invalides und Eiffelturm zuhause. Peter Haegel gibt sein Seminar im ersten Stock. In einem Spiegelsaal mit stuckverzierten hohen Decken. Langsam trudeln die letzten Studenten ein. 17- und 18-Jährige. Sie haben, wie einst Stefan Zweig, für ihr erstes Jahr in Freiheit Paris gewählt, sagt Hägel, verweist auf die entsprechende Stelle im Buch:
"Ich kannte diese unerschöpfliche Stadt nur flüchtig von zwei früheren Besuchen und wusste, dass wer als junger Mensch dort gelebt, eine unvergessliche Glückserinnerung durch sein ganzes Leben mitträgt. Nirgends empfand man mit aufgeweckten Sinnen sein Jungsein so identisch mit der Atmosphäre wie in dieser Stadt, die sich jedem gibt und die doch keiner ergründet."
Haegel nickt, von seiner These überzeugt, dass für junge Menschen die Stadt immer noch dieselbe Anziehungskraft ausübt wie früher. Vorausgesetzt natürlich das Budget stimmt.
"Ich denke da könnte man ganz gut mit unseren Studenten vergleichen. Viele kommen wegen Paris. Und viele haben sehr romantische Vorstellungen von der Stadt."
Hägel lässt seinen Blick über die 18 versammelten Studenten schweifen. Das Seminar ist komplett. 1000 Studenten hat die American University insgesamt. Ein Drittel Amerikaner, zehn Prozent Franzosen – der Rest kommt aus der ganzen Welt (*).
Punkt 11.15 Uhr beginnt der junge Dozent sein Seminar zu "Paris und die Globalisierung." Es geht um Migration, Überlebensstrategien kleiner Geschäfte und die Einflussmöglichkeiten lokaler Politik. Jeweils zwei Studenten sollen ein kurzes Referat vorbereiten. Haegel geht durch die Reihen, gibt hier und dort Strukturhilfen und Literaturtipps.
Die Erstsemester kichern, tuscheln, nach 30 Minuten lässt die konzentrierte Arbeitsatmosphäre deutlich nach. Heimlich werden Partytipps ausgetauscht, Verabredungen für den Abend getroffen. Paris ist aufregend. Das hat sich seit Stefan Zweig nicht geändert meint etwa der 18-jährige Amerikaner Carson Christmen:
"Man muss diese Stadt lieben. Ich lebe das erste mal fern von zu Hause und fühle mich hier unendlich willkommen. Der Umgang miteinander ist so herzlich. Jeder hat mit jedem zu tun. Ich habe die Stadt sofort gemocht. Jeder scheint hier die Schönheit in allem zu finden. Und alles ist schön hier: jedes Objekt, jedes Haus.Ich laufe einfach wahnsinnig viel rum. Vollkommen ziellos. Und dann landet man in diesen ganz normalen Bars an der Ecke. Allein die Leute da zu beobachten – wie die sich unterhalten macht total viel Spaß."
Christmens Tischnachbarin nickt zustimmend. Für das 17-jährige Mädchen mit dem dezenten Goldschmuck ist Paris das Tor zur Freiheit:
"Wenn ich zu Hause, in der Dominikanischen Republik, ausgehe, brauch ich einen Fahrer. Überall wo ich hingehe brauche ich jemanden, der mich begleitet. Alle wissen wer ich bin. Ich muss ständig jemanden grüßen. Und eigentlich treffe ich nie neue Leute, außer die, mit denen ich aufgewachsen bin. Das ist eine sehr kleine Community. Hier geht man mal da aus, mal da, es gibt keine Beschränkungen. Es gibt immer neue Sachen zu entdecken, überall kann man spazieren gehen. Überall gibt es nette Bars."
Paris ist zu meiner Lieblingsstadt geworden, sagt sie noch. Dann beugt sie sich wieder über ihren Laptop, erklärt Hägel den vorläufigen Aufbau ihres Referats.
14 Uhr. Saint Germain de Prés. Gila Lustiger eilt mit – wie sie sagt – "typisch pariserischem" Schritt durch das ehemalige Künstlerviertel. Sie läuft die rue Bonaparte herunter. Eine kleine, von Galerien gesäumte Straße, die direkt zur Seine führt. Lustiger ist auf dem Weg zum Louvre, auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Die Pont des arts – eine Fußgängerbrücke aus Holz – verbindet an dieser Stelle linkes und rechtes Seineufer. Rive gauche – rive droite. Lustiger bleibt in der Mitte der Brücke stehen, lässt ihren Blick über die beiden Stadthälften schweifen. Zu Stefan Zweigs Zeiten waren das noch zwei Welten, sagt sie, liest die entsprechende Passage vor.
"Bequemer war Paris kaum zu entdecken als vom Imperial, vom ersten Stock dieser breiten Karossen oder aus den offenen Droschken, die ebenfalls nicht zu hitzig fuhren. Aber von Montmartre nach Montparnasse war es damals immerhin noch eine kleine Reise und ich hielt im Hinblick auf die Sparsamkeit der Pariser Kleinbürger die Legende durchaus für glaubhaft, dass es noch Pariser der rive droite gebe, die nie auf der der rive gauche gewesen seien, und Kinder, die einzig im Luxembourg-Garten gespielt und nie den Tuileriengarten oder Parc Monceau gesehen."
Lustiger schüttelt den Kopf. Das war einmal sagt sie. Eindeutig: "Welt von gestern"
"Mittlerweile ist die ganze Stadt teuer. Er sagt ja großbürgerliche und proletarische Viertel das ist aber heute durchwirkt. Sie haben überall alle Klassen es gibt auch nicht mehr nur Wohnviertel und nur Kaufviertel."
Fröstelnd schmiegt sie sich in ihren braunen Wollmantel, schaut nachdenklich in die Ferne. "Natürlich gibt es heute auch noch Grenzen , die nicht überschritten werden" sagt sie. Aber sie verlaufen nicht durch die Stadt sondern zwischen Peripherie und Zentrum, "Vielleicht erinnern sie sich noch an die Unruhen in den Vorstädten?"
"Was mich verwundert hat war- das war ein Wutausbruch von jungen Menschen, die keinen Zugang haben zu vielen Sachen. Es gibt hier eine Luxusmeile – dass die nicht in so einem politischen Aufmüpfen dahin gegangen sind, um die Scheiben einzuschlagen. Es gab in den vororten Krawall aber die sind nicht bis hierher gekommen.Diese Grenzen verlaufen heute in den köpfen."
Langsam schlendert Lustiger weiter. Auf der dreispurigen Straße zwischen Louvre und Seine rauschen Autos vorbei. Sonst ist das Panorama dasselbe wie vor hundert Jahren. Noch immer überragt die Turmspitze der Sainte Chapelle die kleine Insel, die hier die Seine in zwei Arme teilt. Die Uhr unter der Kuppel der Academie des beaux arts zeigt unverdrossen die Zeit an – es ist 14.30 Uhr – und die Holzverschläge der Bouquinisten säumen immer noch das Ufer. "Pure Nostalgie" kommentiert die Schriftstellerin trocken die pittoresken Buchverschläge. Sie kauft ihre Bücher im Internet.
Lustiger geht weiter Richtung Louvre. Sie muss noch an einer Text-Passage feilen: Ein kleine Geschichte zu einem Gemälde, die der Louvre bei ihr in Auftrag gegeben hat.
"Ein Bouchet, ein Akt. Dieses Bild ist auch daher fantastisch weil es ein Bild ist das damals von Diderot als obszön angesehen wurde. Das ist der erste Akt in dem einfach nur eine Frau dargestellt wird.Die Frau liegt mit weit gespreizten Schenkeln auf dem Bauch, hat ihr Hemd hochgerafft, und es ist eigentlich eine erotische Szene vor oder nach dem Liebesakt."
Lustiger lacht und verabschiedet sich zum Arbeiten. Sie passiert die Touristenschlange vor dem Eingang zur Pyramide. Dank des Auftrags hat sie eine Jahreskarte fürs Museum bekommen. Sie muss hier nicht mehr anstehen.
15.30 Uhr Hotel Drouot. Peter Hägel steht vor dem berühmten Auktionshaus, raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Wenn er Nachmittags frei hat, schlendert er öfter durch die Stadt. Regelmäßig landet er dann hier. Ich bin ein e-bay Junkie, sagt er, da gehört Drouot zum Standardprogramm. Aber auch unschuldigere Naturen wie Stefan Zweig zieht es auf ihren Spaziergängen offenbar hierhin. Hägel liest amüsiert die Stelle aus dem Buch:
"Schon das Flanieren war eine war eine Lust und eine ständige Lektion, denn alles stand jedem offen – und man konnte bei einem Bouquinisten eintreten und eine Viertelstunde in den Büchern blättern, ohne dass der Händler murrte. Man konnte in die kleinen Galerien gehen und in den Bric-a-Brac Geschäften alles umständlich gustieren, konnte im Hotel Drouot bei den Versteigerungen schmarotzen und in den Gärten mit den Gouvernanten plaudern."
Schmarotzen kann man hier nicht mehr – aber gute Geschäfte machen, das geht immer noch, sagt Hägel und weist auf die Männer, die in kleinen Grüppchen vor dem Hotel Drout stehen und leise miteinander diskutieren. Einige tragen Anzüge, andere sind ganz schlicht in Jeans und Pullover gekleidet. Viele kommen von den beiden großen Flohmärkten, erklärt Hägel während er eine der Glastüren des Traditionshauses aufdrückt.
"Das Drouot Haus gibt es seit über 100 Jahren. Das ist das Versteigerungshaus der Stadt. War auch lange unter staatlicher Reglementierung aus irgendwelchen Gründen. Vor etlichen Jahren kam dann Christies und Sothebies nach Paris und da dachte man dann das geht den Bach runter. Scheint sich aber gut zu schlagen."
Hägel checkt auf den verschiedenen Bildschirmen über dem Empfangstresen die laufenden Auktionen, entscheidet sich für Möbel und Sammlerobjekte in Saal sechs. Mit der Rolltreppe fährt er in den dritten Stock, drängelt sich durch die Menschentraube die schon vor der Tür zum Saal gespannt den Versteigerungen folgt. Es geht um einen Schreibtisch von Pierre Poulain. Hägel ist durchaus interessiert.
Schnell geht der Preis nach oben. Per Kopfnicken und Blickkontakt nimmt der Auktionator die Angebote entgegen. Schließlich landet der Tisch bei knapp 1500 Euro. Zu viel, sagt Hägel abgeklärt, schlendert zum Nachbarsaal. Nach scheußlichen Motivteppichen, werden hier schnörklige Sessel aus dem 18. Jahrhundert versteigert. "Klimbim" raunt Hägel. Aber dafür steht das Haus eben auch:
"Jeder kann mit rein. Nicht so viel Attitüde nicht so was man von Sothebys kennt – ziemlich abgewrackt ist das eigentlich. Überall lungern Trödler rum. aber auch Leute, die auf hochpreisige Sachen bieten. Das ist sehr gemischt, sehr amüsant, auch nur um Atmosphäre zu schnuppern."
"Kaleidokopisch zeigt einem diese Stadt immer etwas Neues." So beschreibt Zweig die Stimmung. Hägel zieht sich zurück auf die plüschige Sitzbank im Vorraum, nimmt Platz neben einem Mann mit zerzausten Haaren und Vollbart. Der hat gerade zwei Litografien erstanden. "Zum Schnäppchenpreis," erklärt er stolz. Auch er ist ein Fan von Drouot.
"Drout ist einzigartig, ein ganz besonderer Ort. Hier sieht man die ganze Geschichte Frankreichs seit Louis 13 defilieren als Objekt, Malerei oder Geschirr. man könnte eine historische Soziologie der Objekte hier schreiben. Außerdem kommen alle hierher die Armen, die Reichen, die Snobs, die Ehrlichen, die Gauner."
Hägel nickt bestätigend. Für ihn ist heute zwar nichts dabei. Aber das macht nichts. Er fährt die Rolltreppe wieder herunter. Macht sich auf den Nachhauseweg
16:30 Uhr vor dem Palais Royal. Gila Lustiger sitzt auf einer Bank vor gepflegten Staudengärten, beißt in ein Sandwich. Die Geschichte zum geheimnisvollen Akt hat sie fast fertig. Zeit für eine kurze Pause. Vom Louvre bis zum Arkadenumsäumten Park im Innenhof des Stadtpalasts sind es nur fünf Minuten. Der Weg lohnt sich immer, sagt Lustiger.
"Ich komme hier wenn ich hier zu tun habe mal hier hin. Das ist ein Muss. Dann mach ich einen Umweg und geh hier hin. Das Palais Royal ist wunderschön. Es ist ein letzter Rest des 18. Jahrhunderts mitten in Paris. Ich mein, Sie sind hier in Zentrum und Sie hören keine Autos. Ist eine Insel der Stille. 7 ich hab hier auch Freuden die wohnen mit blick auf garten sie machen die Fenster auf und hören die Vögel was ja für einen Deutschen etwas ganz gewöhnliches ist aber für einen Franzosen der absolute Luxus."
Auch Stefan Zweig fühlt sich zu diesem Ort hingezogen, richtet sich hier in einem kleinen Hotel ein. Er liebt seine Unterkunft mit Blick auf den Garten, widmet ihr sogar ein paar Absätze. Lustiger findet die Stelle ziemlich am Anfang des Paris Kapitels:
"Durch die Galerien des Palais Royal schlendernd, entdeckte ich, dass unter den im achtzehnten Jahrhundert von Prince ègalité ebenmäßig gebauten Häusern dieses riesigen Carrés ein einziges einstmals vornehmes Haus zu einem kleinen, etwas primitiven Hotel herabgekommen war. Ich ließ mir eines der Zimmer zeigen und merkte entzückt, dass der Blick vom Fenster in den Garten des Palais Royal hinausging, der mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. Nur das leise Brausen der Stadt hörte man dann undeutlich und rythmisch wie einen ruhelosen Wogenschlag an eine ferne Küste. In diesem historischen Geviert hatten die Dichter, die Staatsmänner des neunzehnten Jahrhunderts gewohnt. Die Geschichte Frankreichs sprach hier aus jedem Stein."
Lustiger nickt, weist auf den Innenhof:
"Das stimmt, man nur mal hier herkommen und dann versteht man das. Weil diese Stadt organisch gewachsen ist – auch schon von der Form her sie hat ja die Form einer Schnecke – und wir sind hier wirklich im Zentrum. Sie haben hier wirklich alles was Macht besaß, das Schloss, die Börse. Sie haben hier Geld, Kirche und die Adligen."
Sie steht auf, läuft den Sandweg hinunter, versucht Stefan Zweigs Hotel in der Fassade zu finden.
Statt des kleinen Hotels. Eine Luxusboutique neben der anderen. Lustiger kraust verärgert die Stirn.
"Das wird jetzt umgeformt zu einer Luxusmeile. Sie haben die ganzen Designermarken, die hier einziehen und die das Stadtbild auch verändern sie haben hier Stella McCartney und Marc Jacobs und weiß der Teufel wer – da waren ganz kleine Antiqiuätenläden drin aber das ist mittlerweile in ganz Paris so. Paris wird langsam aber sicher eine Touristenstadt."
Lustiger regt das für einen Augenblick richtig auf. Aber dann lacht sie schon wieder. Schließlich entdeckt jede Generation Paris für sich neu, und für jede Generation liegt das goldene Zeitalter dann irgendwann in der Vergangenheit, sagt sie. Zweig muss mit der Machtübernahme der Nazis sein geliebtes Europa verlassen. Er begeht drei Jahre vor Ende des Zweiten Weltkriegs Selbstmord.
Für ihn ist die weise Unbekümmertheit des Daseins, die er in Paris erlebt, mit dem Tag für immer zerstört, an dem die deutschen Truppen in die französische Hauptstadt einmarschieren. Lustiger, deren jüdische Familie auch Opfer der Nazis wird, hat eine andere historische Perspektive:
"Man muss sehen, wann er das geschrieben hat. Ich würde sagen dass er aus dem Grund dieses Paris auch verklärt hat also kontrapunktisch zu dem Nazideutschland. Stadt der Freiheit, Stadt in der die Rasse keine Rolle spielt, in der jeder mit jedem befreundet sein kann. Das stimmt so natürlich nicht. Und was auch nicht stimmt ist, dass sie an Lebendigkeit verloren hat – die Stadt war halt besetzt, aber dieser Zivilisationsbruch, den sie in Berlin hatten, der hat hier nie stattgefunden."
Lustiger zeigt auf die Blumenrabatte, die geometerisch angelegten Wiesen und die zurechtgestutzten Bäume im Innern des perfekt gebauten Palais Royal. Die Schönheit der Stadt verzaubert, da gibt sie Zweig Recht. Aber sie tut es heute immer noch:
"Ich habe eine Freundin, die ist Kunsthistorikerin und es gibt ja unheimlich viele Skulpturen in dieser Stadt. Einmal sind wir durch die Stadt gelaufen und sie hat mir einfach nur die Engel gezeigt – es gibt hier an Hausfronten einfach unwahrscheinlich viele Engel. Wir sind von Engel zu Engel gegangen, ist das nicht schön?"
Sagt es und springt auf. Sie muss nach Hause, zu ihrer Tochter, die krank im Bett liegt. Durch die entdeckt sie die Stadt gerade neu, sagt sie. Mit den Augen einer 16-jährigen. Es gibt sie nämlich wirklich, sagt sie noch: "die Stadt der ewigen Jugend". Dann geht sie davon. Mit dem schnellen, "typisch pariserischem" Schritt.
(*) Nach einer Autorenkorrektur weicht das Manuskript in dieser Passage von der gesendeten Fassung ab.
"Paris, die Stadt der ewigen Jugend" ist seine Hommage an das lebensbejahende Paris, das er Anfang des Jahrhunderts kennen lernte. Ein Jahrhundert später, suchen immer noch viele Reisende nach dem Paris der ewigen Jugend. Wir versuchen es zu finden.
" Jedes Mal wenn ich mit dem Taxi fahre, bin ich wieder von der Schönheit dieser Stadt erschüttert. Die ist wirklich atemberaubend schön. Und man müsste schon blind sein und ein vollkommen unsinnlicher Mensch um die Schönheit dieser Stadt nicht aufnehmen zu können in sich."
Acht Uhr Morgens, auf der Place de Fêtes in Paris. Es ist Markttag. Rund um den kleinen Platz haben Händler ihre Waren ausgestellt. Üppig bestückte Obst-, Gemüse-, Fleisch- und Fischstände reihen sich aneinander. Brotlaibe und Baguettes in etlichen Formen und Längen liegen beim Bäcker in der Auslage. Zarte Törtchen mit kunstvollen Verzierungen.
Ein älterer Mann in grobem Strickpullover und gefütterter Weste verkauft Champignons, Pfifferlinge, Steinpilze. In einem kleinen Plastiktöpfchen – auch ein paar Trüffel.
"Die sind meistens etwas älter deswegen auch nicht zu teuer. Heute hat er gute Sachen Trompetenpilze, Trüffel und Schaffüße da weiß ich den Namen nicht auf deutsch - die Trüffel kosten die kleine Schachtel nur fünf Euro, die kommen aber auch aus China. Kann man ein schönes Omelett daraus machen."
Peter Haegel reibt sich die Hände, freut sich. Der schlanke Mann mit den stecknadelkurzen Haaren und der schwarzen eckigen Hornbrille liebt diesen Markt. Dreimal die Woche wird er aufgebaut. Knapp hundert Meter neben seiner Wohnung. Der 34-Jährige ist dann fast immer hier zu finden.
"Das ist eine meiner Lieblinsbeschäftigungen. Gute Stimmung ein richtiger marché populaire. Ich mag ja ungern Berlin und Paris vergleichen aber was hier super ist, ist gutes Essen einkaufen und selber zu kochen. Für das gute Leben bezahlst du in Paris weniger Geld als in Berlin für sehr hochwertige Lebensmittel."
Die Liebe lässt Peter Haegel vor drei Jahren von Berlin nach Paris umziehen. Jetzt arbeitet er als Dozent an der American University. Haegel schiebt sich an einem Mann vorbei, der - nicht besonders diskret - das Brustmaß einer Kundin unter ihrem Wintermantel nimmt. Routiniert kramt der Verkäufer einen enormen Spitzen-BH aus einem Karton, preist die filigrane Verarbeitung. Haegel grinst, eilt weiter zum benachbarten Gemüsestand.
Der entspannte Umgang zwischen den Geschlechtern amüsiert vor gut hundert Jahren auch den jungen Stefan Zweig. Nach seinem Studium in Wien reist der 23-Jährige 1904 für mehrere Monate nach Paris. Ein Aufenthalt, der ihn knapp 40 Jahre später zu dem Aufsatz "Paris, die Stadt der ewigen Jugend" inspiriert. Blumig und beschwingt beschreibt er darin die Lebenslust und Kreativität einer quirligen Stadt, die dem jungen Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kopf verdreht. Peter Hägel kennt den Text. Er verstaut den gerade erstandenen Salatkopf in der Stofftasche, sucht sich ein ruhiges Plätzchen auf einer Bank, liest aus dem Paris-Kapitel aus Zweigs Buch "Die Welt von Gestern":
"Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und Unten; zwischen den Luxusstraßen und den schmutzigen Durchlässen daneben lief keine sichtbare Grenze, und überall ging es gleich belebt und heiter zu. Immer lag irgendwo ein Lachen in der Luft oder ein gutmütiger Zuruf. Wenn da und dort zwei Kutscher sich engeulierten, schüttelten sie sich nachher die Hände, tranken ein Glas Wein zusammen und knackten dazu ein paar der spottbilligen Austern. Nichts war schwierig oder steif. Ach was lebte man schwerelos, lebte man gut in Paris, und insbesondere wenn man jung war."
Nachsichtig schüttelt Haegel den Kopf über den Enthusiasten Zweig. Gut schon, aber schwerelos findet Haegel das Leben im heutigen Paris nicht gerade:
"Ich denke das trifft wenig zu heute. Insgesamt arbeiten die Leute sehr viel, weil die Stadt ist teuer ganz egal in welcher Schicht sie leben. Die Leichtigkeit ist wenig spürbar. Ich weiß nicht, ob es ein Klischee war, wenn man die Filme aus der Zeit guckt, da kriegst du das immer schon mit. Das war vor allem eine Qualität des Paris Populaire und das ist weit verschwunden."
Hägel weist auf den Place de Fêtes. Auf der einen Seite säumen Hochhäuser den Platz, auf der anderen herausgeputzte, drei- bis vierstöckige Häuser. Überbleibsel des 19. Jahrhunderts. "Der proletarische Osten von Paris ist das hier längst nicht mehr", sagt Hägel ein bisschen wehmütig. "Aber Austern kriegt man immer noch spottbillig". Sein Gesicht hellt sich auf. Er springt auf, läuft zum Fischstand hinüber. Ganz rechts, neben Seeigeln, Jakobsmuscheln, Langusten und Krebsen, stehen gleich fünf Eimer mit Austern. Sortiert nach Herkunft und Größe. Hägel zeigt auf eine mittlere Variante
"Die sind schön. Ein Dutzend für 4,50 – Ca va. Sonntags gibt’s immer zwei oder drei Dutzend im Sonderpack. Wenn man die einfachen Varianten wählt kann man auch drei Dutzend für vier Euro finden."
Hägel lässt sich ein Dutzend Austern einpacken. Die robuste Frau hinter dem Stand zwinkert ihm zu, verwickelt ihn in ein Gespräch. Mit ihren geröteten Wangen und der fröhlich, schnoddrigen Art erinnert sie den Deutschen ein bisschen an die Protagonisten von Zweigs Paris. Seit Ende der Siebziger Jahre schon steht Genvieve – wie sie sich Hägel vorstellt - dreimal die Woche hier.
"Das hat sich schon alles ganz schön verändert. Ist nicht mehr dieselbe Stimmung. Ist sehr bürgerlich geworden. Aber ist gibt ja auch nette Bourgeois. Wir versuchen schon noch ein bisschen zu lachen. Trotz der Krise."
Und der Austernkonsum? fragt Haegel. Genvieve lacht. "Der trotzt auch der Krise. Steigt, beständig.
"Früher hat man die nur im Sommer gegessen jetzt aber das ganze Jahr weil man eben Kühlschränke hat, dann halten die sich mindestens drei Wochen. Heute essen ja alle Leute ständig Austern. Ist überhaupt kein Luxusprodukt mehr. Früher gab es die nur Weihnachten."
Haegel packt seine Einkäufe verabschiedet sich. In zwei Stunden gibt er ein Seminar, muss vorher noch ein paar Arbeiten korrigieren
Neun Uhr. La Coupole in Montparnasse. Andere Seite der Seine. In der legendären Brasserie, Stammlokal von Hemingway drängeln sich Männer und Frauen um die Bar auf einen schnellen Kaffee. Eine Frau mit lockigen, rötlichbraunen Haaren sitzt etwas weiter an einem Tisch über Le Monde gebeugt. Vor sich eine kleine Tasse Espresso und ein Glas Wasser. Gila Lustiger, Schriftstellerin, ursprünglich aus Frankfurt am Main. Sie kommt oft hierher, sitzt fast täglich unter der großen Kuppel.
"Ich habe hier zwei Romane geschrieben als meine Kinder klein waren. Die Geräuschkulisse hat mich nicht so abgelenkt wie das Gebrüll zu Hause. Und weil mir das gefällt hier. Sie können hier immer noch zwei stunde Kaffee trinken und Zeitung lesen ohne dass einen einer stört."
Gila Lustiger lebt seit 1987 in Paris. Genau wie Stefan Zweig zieht es auch sie direkt nach dem Studium hierher. Sie nippt an ihrem Kaffee. Sie kennt den kleinen Text, den ihr Vorgänger Zweig über Paris geschrieben hat. Es gibt da ein paar hübsche Passagen - wie diese, sagt Lustiger und liest vor:
"Man konnte gekleidet sein, wie es einem beliebte, die Studenten posierten mit ihren koketten Baretts über den Boulevard Saint Michel, die rapins wiederum, die Maler, machten sich pastos mit breiten Riesenpilzen von Hüten und romantischen schwarzen Samtjacken, die Arbeiter wanderten unbesorgt in ihren blauen Blusen oder hemdärmelig über den vornehmsten Boulevard, die Ammen in ihren breit gefälteten bretonischen Hauben, die Weinschenker in ihren blauen Schürzen. Die hübschesten Mädchen schämten sich nicht mit einem pechschwarzen Neger oder einem schlitzäugigen Chinesen Arm in Arm und ins nächste petit hôtel zu gehen, Wer kümmerte sich in Paris um solche Poanze wie Rasse Klasse und Herkunft?"
Lustiger lacht. Das ist natürlich stark romantisiert sagt sie. Aber es gibt Orte in Paris, an denen sich noch immer solche Szenen abspielen können. Hier zum Beispiel. Lustiger weist auf den prunkvollen Saal.
"Hier haben sie morgens an der Theke immer noch den billigsten Kaffee in Paris früh morgens zwischen sieben und acht kommen die Penner, sich dann hier waschen dürfen dann kommen die Journalisten, dann die Geschäftsmänner die hier Meetings halten und dann die Hausfrauen, die mit ihren Freundinnen Kaffee trinken. Sie haben hier alle sozialen Klassen, die sich nicht treffen, aber doch kreuzen."
Sie winkt den Kellner heran, bezahlt ihren Espresso. Die Autorin spricht noch immer mit einem leichten deutschen Akzent. Das ist ihr egal. Im Gegensatz zu Stefan Zweig, der der französischen Kultur uneingeschränkte Bewunderung entgegenbringt, ist Lustiger deutlich mehr auf Distanz. Und das obwohl sie ursprünglich wegen der Liebe zu einem Franzosen hierher zieht.
"Cherchez la femme – suche die Frau sagt man immer, wenn man einen Beschluss nicht versteht. Bei mir war es immer cherchez l’homme. Die ersten Jahre waren für mich sehr schwer. Mein Mann ist Lyriker gewesen und ich bin in die intellektuellen Kreise gepurzelt und die haben mich weil ich mich auf französisch nicht richtig ausdrücken konnte behandelt wie den letzten Dreck – ich spreche vier Sprachen bin dreisprachig aufgewachsen und ich fand das empörend wie die mich behandelt haben nur weil mein Französisch nicht so perfekt ist –die Franzosen denken ja immer noch die einzige Kultur mit einem großen K ist die ihre."
Energisch zieht sie den Gürtel ihres Mantels zu, verlässt la Coupole.
Elf Uhr. Ein paar Metrostationen weiter. Die private American University hat eine noble Adresse. In einem schmucken, achtstöckigen Altbau, ist sie zwischen Hôtel des Invalides und Eiffelturm zuhause. Peter Haegel gibt sein Seminar im ersten Stock. In einem Spiegelsaal mit stuckverzierten hohen Decken. Langsam trudeln die letzten Studenten ein. 17- und 18-Jährige. Sie haben, wie einst Stefan Zweig, für ihr erstes Jahr in Freiheit Paris gewählt, sagt Hägel, verweist auf die entsprechende Stelle im Buch:
"Ich kannte diese unerschöpfliche Stadt nur flüchtig von zwei früheren Besuchen und wusste, dass wer als junger Mensch dort gelebt, eine unvergessliche Glückserinnerung durch sein ganzes Leben mitträgt. Nirgends empfand man mit aufgeweckten Sinnen sein Jungsein so identisch mit der Atmosphäre wie in dieser Stadt, die sich jedem gibt und die doch keiner ergründet."
Haegel nickt, von seiner These überzeugt, dass für junge Menschen die Stadt immer noch dieselbe Anziehungskraft ausübt wie früher. Vorausgesetzt natürlich das Budget stimmt.
"Ich denke da könnte man ganz gut mit unseren Studenten vergleichen. Viele kommen wegen Paris. Und viele haben sehr romantische Vorstellungen von der Stadt."
Hägel lässt seinen Blick über die 18 versammelten Studenten schweifen. Das Seminar ist komplett. 1000 Studenten hat die American University insgesamt. Ein Drittel Amerikaner, zehn Prozent Franzosen – der Rest kommt aus der ganzen Welt (*).
Punkt 11.15 Uhr beginnt der junge Dozent sein Seminar zu "Paris und die Globalisierung." Es geht um Migration, Überlebensstrategien kleiner Geschäfte und die Einflussmöglichkeiten lokaler Politik. Jeweils zwei Studenten sollen ein kurzes Referat vorbereiten. Haegel geht durch die Reihen, gibt hier und dort Strukturhilfen und Literaturtipps.
Die Erstsemester kichern, tuscheln, nach 30 Minuten lässt die konzentrierte Arbeitsatmosphäre deutlich nach. Heimlich werden Partytipps ausgetauscht, Verabredungen für den Abend getroffen. Paris ist aufregend. Das hat sich seit Stefan Zweig nicht geändert meint etwa der 18-jährige Amerikaner Carson Christmen:
"Man muss diese Stadt lieben. Ich lebe das erste mal fern von zu Hause und fühle mich hier unendlich willkommen. Der Umgang miteinander ist so herzlich. Jeder hat mit jedem zu tun. Ich habe die Stadt sofort gemocht. Jeder scheint hier die Schönheit in allem zu finden. Und alles ist schön hier: jedes Objekt, jedes Haus.Ich laufe einfach wahnsinnig viel rum. Vollkommen ziellos. Und dann landet man in diesen ganz normalen Bars an der Ecke. Allein die Leute da zu beobachten – wie die sich unterhalten macht total viel Spaß."
Christmens Tischnachbarin nickt zustimmend. Für das 17-jährige Mädchen mit dem dezenten Goldschmuck ist Paris das Tor zur Freiheit:
"Wenn ich zu Hause, in der Dominikanischen Republik, ausgehe, brauch ich einen Fahrer. Überall wo ich hingehe brauche ich jemanden, der mich begleitet. Alle wissen wer ich bin. Ich muss ständig jemanden grüßen. Und eigentlich treffe ich nie neue Leute, außer die, mit denen ich aufgewachsen bin. Das ist eine sehr kleine Community. Hier geht man mal da aus, mal da, es gibt keine Beschränkungen. Es gibt immer neue Sachen zu entdecken, überall kann man spazieren gehen. Überall gibt es nette Bars."
Paris ist zu meiner Lieblingsstadt geworden, sagt sie noch. Dann beugt sie sich wieder über ihren Laptop, erklärt Hägel den vorläufigen Aufbau ihres Referats.
14 Uhr. Saint Germain de Prés. Gila Lustiger eilt mit – wie sie sagt – "typisch pariserischem" Schritt durch das ehemalige Künstlerviertel. Sie läuft die rue Bonaparte herunter. Eine kleine, von Galerien gesäumte Straße, die direkt zur Seine führt. Lustiger ist auf dem Weg zum Louvre, auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Die Pont des arts – eine Fußgängerbrücke aus Holz – verbindet an dieser Stelle linkes und rechtes Seineufer. Rive gauche – rive droite. Lustiger bleibt in der Mitte der Brücke stehen, lässt ihren Blick über die beiden Stadthälften schweifen. Zu Stefan Zweigs Zeiten waren das noch zwei Welten, sagt sie, liest die entsprechende Passage vor.
"Bequemer war Paris kaum zu entdecken als vom Imperial, vom ersten Stock dieser breiten Karossen oder aus den offenen Droschken, die ebenfalls nicht zu hitzig fuhren. Aber von Montmartre nach Montparnasse war es damals immerhin noch eine kleine Reise und ich hielt im Hinblick auf die Sparsamkeit der Pariser Kleinbürger die Legende durchaus für glaubhaft, dass es noch Pariser der rive droite gebe, die nie auf der der rive gauche gewesen seien, und Kinder, die einzig im Luxembourg-Garten gespielt und nie den Tuileriengarten oder Parc Monceau gesehen."
Lustiger schüttelt den Kopf. Das war einmal sagt sie. Eindeutig: "Welt von gestern"
"Mittlerweile ist die ganze Stadt teuer. Er sagt ja großbürgerliche und proletarische Viertel das ist aber heute durchwirkt. Sie haben überall alle Klassen es gibt auch nicht mehr nur Wohnviertel und nur Kaufviertel."
Fröstelnd schmiegt sie sich in ihren braunen Wollmantel, schaut nachdenklich in die Ferne. "Natürlich gibt es heute auch noch Grenzen , die nicht überschritten werden" sagt sie. Aber sie verlaufen nicht durch die Stadt sondern zwischen Peripherie und Zentrum, "Vielleicht erinnern sie sich noch an die Unruhen in den Vorstädten?"
"Was mich verwundert hat war- das war ein Wutausbruch von jungen Menschen, die keinen Zugang haben zu vielen Sachen. Es gibt hier eine Luxusmeile – dass die nicht in so einem politischen Aufmüpfen dahin gegangen sind, um die Scheiben einzuschlagen. Es gab in den vororten Krawall aber die sind nicht bis hierher gekommen.Diese Grenzen verlaufen heute in den köpfen."
Langsam schlendert Lustiger weiter. Auf der dreispurigen Straße zwischen Louvre und Seine rauschen Autos vorbei. Sonst ist das Panorama dasselbe wie vor hundert Jahren. Noch immer überragt die Turmspitze der Sainte Chapelle die kleine Insel, die hier die Seine in zwei Arme teilt. Die Uhr unter der Kuppel der Academie des beaux arts zeigt unverdrossen die Zeit an – es ist 14.30 Uhr – und die Holzverschläge der Bouquinisten säumen immer noch das Ufer. "Pure Nostalgie" kommentiert die Schriftstellerin trocken die pittoresken Buchverschläge. Sie kauft ihre Bücher im Internet.
Lustiger geht weiter Richtung Louvre. Sie muss noch an einer Text-Passage feilen: Ein kleine Geschichte zu einem Gemälde, die der Louvre bei ihr in Auftrag gegeben hat.
"Ein Bouchet, ein Akt. Dieses Bild ist auch daher fantastisch weil es ein Bild ist das damals von Diderot als obszön angesehen wurde. Das ist der erste Akt in dem einfach nur eine Frau dargestellt wird.Die Frau liegt mit weit gespreizten Schenkeln auf dem Bauch, hat ihr Hemd hochgerafft, und es ist eigentlich eine erotische Szene vor oder nach dem Liebesakt."
Lustiger lacht und verabschiedet sich zum Arbeiten. Sie passiert die Touristenschlange vor dem Eingang zur Pyramide. Dank des Auftrags hat sie eine Jahreskarte fürs Museum bekommen. Sie muss hier nicht mehr anstehen.
15.30 Uhr Hotel Drouot. Peter Hägel steht vor dem berühmten Auktionshaus, raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Wenn er Nachmittags frei hat, schlendert er öfter durch die Stadt. Regelmäßig landet er dann hier. Ich bin ein e-bay Junkie, sagt er, da gehört Drouot zum Standardprogramm. Aber auch unschuldigere Naturen wie Stefan Zweig zieht es auf ihren Spaziergängen offenbar hierhin. Hägel liest amüsiert die Stelle aus dem Buch:
"Schon das Flanieren war eine war eine Lust und eine ständige Lektion, denn alles stand jedem offen – und man konnte bei einem Bouquinisten eintreten und eine Viertelstunde in den Büchern blättern, ohne dass der Händler murrte. Man konnte in die kleinen Galerien gehen und in den Bric-a-Brac Geschäften alles umständlich gustieren, konnte im Hotel Drouot bei den Versteigerungen schmarotzen und in den Gärten mit den Gouvernanten plaudern."
Schmarotzen kann man hier nicht mehr – aber gute Geschäfte machen, das geht immer noch, sagt Hägel und weist auf die Männer, die in kleinen Grüppchen vor dem Hotel Drout stehen und leise miteinander diskutieren. Einige tragen Anzüge, andere sind ganz schlicht in Jeans und Pullover gekleidet. Viele kommen von den beiden großen Flohmärkten, erklärt Hägel während er eine der Glastüren des Traditionshauses aufdrückt.
"Das Drouot Haus gibt es seit über 100 Jahren. Das ist das Versteigerungshaus der Stadt. War auch lange unter staatlicher Reglementierung aus irgendwelchen Gründen. Vor etlichen Jahren kam dann Christies und Sothebies nach Paris und da dachte man dann das geht den Bach runter. Scheint sich aber gut zu schlagen."
Hägel checkt auf den verschiedenen Bildschirmen über dem Empfangstresen die laufenden Auktionen, entscheidet sich für Möbel und Sammlerobjekte in Saal sechs. Mit der Rolltreppe fährt er in den dritten Stock, drängelt sich durch die Menschentraube die schon vor der Tür zum Saal gespannt den Versteigerungen folgt. Es geht um einen Schreibtisch von Pierre Poulain. Hägel ist durchaus interessiert.
Schnell geht der Preis nach oben. Per Kopfnicken und Blickkontakt nimmt der Auktionator die Angebote entgegen. Schließlich landet der Tisch bei knapp 1500 Euro. Zu viel, sagt Hägel abgeklärt, schlendert zum Nachbarsaal. Nach scheußlichen Motivteppichen, werden hier schnörklige Sessel aus dem 18. Jahrhundert versteigert. "Klimbim" raunt Hägel. Aber dafür steht das Haus eben auch:
"Jeder kann mit rein. Nicht so viel Attitüde nicht so was man von Sothebys kennt – ziemlich abgewrackt ist das eigentlich. Überall lungern Trödler rum. aber auch Leute, die auf hochpreisige Sachen bieten. Das ist sehr gemischt, sehr amüsant, auch nur um Atmosphäre zu schnuppern."
"Kaleidokopisch zeigt einem diese Stadt immer etwas Neues." So beschreibt Zweig die Stimmung. Hägel zieht sich zurück auf die plüschige Sitzbank im Vorraum, nimmt Platz neben einem Mann mit zerzausten Haaren und Vollbart. Der hat gerade zwei Litografien erstanden. "Zum Schnäppchenpreis," erklärt er stolz. Auch er ist ein Fan von Drouot.
"Drout ist einzigartig, ein ganz besonderer Ort. Hier sieht man die ganze Geschichte Frankreichs seit Louis 13 defilieren als Objekt, Malerei oder Geschirr. man könnte eine historische Soziologie der Objekte hier schreiben. Außerdem kommen alle hierher die Armen, die Reichen, die Snobs, die Ehrlichen, die Gauner."
Hägel nickt bestätigend. Für ihn ist heute zwar nichts dabei. Aber das macht nichts. Er fährt die Rolltreppe wieder herunter. Macht sich auf den Nachhauseweg
16:30 Uhr vor dem Palais Royal. Gila Lustiger sitzt auf einer Bank vor gepflegten Staudengärten, beißt in ein Sandwich. Die Geschichte zum geheimnisvollen Akt hat sie fast fertig. Zeit für eine kurze Pause. Vom Louvre bis zum Arkadenumsäumten Park im Innenhof des Stadtpalasts sind es nur fünf Minuten. Der Weg lohnt sich immer, sagt Lustiger.
"Ich komme hier wenn ich hier zu tun habe mal hier hin. Das ist ein Muss. Dann mach ich einen Umweg und geh hier hin. Das Palais Royal ist wunderschön. Es ist ein letzter Rest des 18. Jahrhunderts mitten in Paris. Ich mein, Sie sind hier in Zentrum und Sie hören keine Autos. Ist eine Insel der Stille. 7 ich hab hier auch Freuden die wohnen mit blick auf garten sie machen die Fenster auf und hören die Vögel was ja für einen Deutschen etwas ganz gewöhnliches ist aber für einen Franzosen der absolute Luxus."
Auch Stefan Zweig fühlt sich zu diesem Ort hingezogen, richtet sich hier in einem kleinen Hotel ein. Er liebt seine Unterkunft mit Blick auf den Garten, widmet ihr sogar ein paar Absätze. Lustiger findet die Stelle ziemlich am Anfang des Paris Kapitels:
"Durch die Galerien des Palais Royal schlendernd, entdeckte ich, dass unter den im achtzehnten Jahrhundert von Prince ègalité ebenmäßig gebauten Häusern dieses riesigen Carrés ein einziges einstmals vornehmes Haus zu einem kleinen, etwas primitiven Hotel herabgekommen war. Ich ließ mir eines der Zimmer zeigen und merkte entzückt, dass der Blick vom Fenster in den Garten des Palais Royal hinausging, der mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. Nur das leise Brausen der Stadt hörte man dann undeutlich und rythmisch wie einen ruhelosen Wogenschlag an eine ferne Küste. In diesem historischen Geviert hatten die Dichter, die Staatsmänner des neunzehnten Jahrhunderts gewohnt. Die Geschichte Frankreichs sprach hier aus jedem Stein."
Lustiger nickt, weist auf den Innenhof:
"Das stimmt, man nur mal hier herkommen und dann versteht man das. Weil diese Stadt organisch gewachsen ist – auch schon von der Form her sie hat ja die Form einer Schnecke – und wir sind hier wirklich im Zentrum. Sie haben hier wirklich alles was Macht besaß, das Schloss, die Börse. Sie haben hier Geld, Kirche und die Adligen."
Sie steht auf, läuft den Sandweg hinunter, versucht Stefan Zweigs Hotel in der Fassade zu finden.
Statt des kleinen Hotels. Eine Luxusboutique neben der anderen. Lustiger kraust verärgert die Stirn.
"Das wird jetzt umgeformt zu einer Luxusmeile. Sie haben die ganzen Designermarken, die hier einziehen und die das Stadtbild auch verändern sie haben hier Stella McCartney und Marc Jacobs und weiß der Teufel wer – da waren ganz kleine Antiqiuätenläden drin aber das ist mittlerweile in ganz Paris so. Paris wird langsam aber sicher eine Touristenstadt."
Lustiger regt das für einen Augenblick richtig auf. Aber dann lacht sie schon wieder. Schließlich entdeckt jede Generation Paris für sich neu, und für jede Generation liegt das goldene Zeitalter dann irgendwann in der Vergangenheit, sagt sie. Zweig muss mit der Machtübernahme der Nazis sein geliebtes Europa verlassen. Er begeht drei Jahre vor Ende des Zweiten Weltkriegs Selbstmord.
Für ihn ist die weise Unbekümmertheit des Daseins, die er in Paris erlebt, mit dem Tag für immer zerstört, an dem die deutschen Truppen in die französische Hauptstadt einmarschieren. Lustiger, deren jüdische Familie auch Opfer der Nazis wird, hat eine andere historische Perspektive:
"Man muss sehen, wann er das geschrieben hat. Ich würde sagen dass er aus dem Grund dieses Paris auch verklärt hat also kontrapunktisch zu dem Nazideutschland. Stadt der Freiheit, Stadt in der die Rasse keine Rolle spielt, in der jeder mit jedem befreundet sein kann. Das stimmt so natürlich nicht. Und was auch nicht stimmt ist, dass sie an Lebendigkeit verloren hat – die Stadt war halt besetzt, aber dieser Zivilisationsbruch, den sie in Berlin hatten, der hat hier nie stattgefunden."
Lustiger zeigt auf die Blumenrabatte, die geometerisch angelegten Wiesen und die zurechtgestutzten Bäume im Innern des perfekt gebauten Palais Royal. Die Schönheit der Stadt verzaubert, da gibt sie Zweig Recht. Aber sie tut es heute immer noch:
"Ich habe eine Freundin, die ist Kunsthistorikerin und es gibt ja unheimlich viele Skulpturen in dieser Stadt. Einmal sind wir durch die Stadt gelaufen und sie hat mir einfach nur die Engel gezeigt – es gibt hier an Hausfronten einfach unwahrscheinlich viele Engel. Wir sind von Engel zu Engel gegangen, ist das nicht schön?"
Sagt es und springt auf. Sie muss nach Hause, zu ihrer Tochter, die krank im Bett liegt. Durch die entdeckt sie die Stadt gerade neu, sagt sie. Mit den Augen einer 16-jährigen. Es gibt sie nämlich wirklich, sagt sie noch: "die Stadt der ewigen Jugend". Dann geht sie davon. Mit dem schnellen, "typisch pariserischem" Schritt.
(*) Nach einer Autorenkorrektur weicht das Manuskript in dieser Passage von der gesendeten Fassung ab.