Auf der Suche nach der eigenen Sexualität

Moderation: Frank Meyer · 28.03.2012
Wie finden wir eigentlich heraus, wie wir lieben wollen? Diese Frage stellt sich die lesbische Autorin Carolin Emcke in ihrem Buch "Wie wir begehren". Sie habe darin die "Geschichte eines homosexuellen Erwachsenwerdens" erzählen, aber auch mit gängigen Klischees brechen wollen.
Frank Meyer: Die Journalistin Carolin Emcke war zu einer Hochzeit eingeladen, einer Hochzeit von sehr engen Freunden. Und als sie da in den Festsaal kam, da sah sie: Die Freunde hatten sie an den Schwulen-Tisch gesetzt, zusammen mit einem schwules Paar, einer bisexuellen Frau und einer sexuell Unentschlossenen. So beschreibt Carolin Emcke das in ihrem Buch "Wie wir begehren", in dem es darum geht, wie sie entdeckt hat, erlebt hat, dass sie Frauen liebt. Jetzt ist Carolin Emcke hier bei uns im Studio, seien Sie herzlich willkommen!

Carolin Emcke: Vielen Dank!

Meyer: Wie ging Ihnen das da am Schwulen-Tisch bei dieser Hochzeit?

Emcke: Ja, man muss dazu sagen, man kommt ja nicht sofort drauf, das ist ja nicht ganz evident. Sondern ich kam an diesen Tisch … Das erste, was auffiel, war, dass es der einzige Tisch auf der gesamten Hochzeit war, bei dem Frauen neben Frauen und Männer neben Männern saßen. War schon deutlich: Es ist eine andere Ordnung an diesem Tisch. Und dann war es bei einem Pärchen relativ offensichtlich und ich dachte, das kann ja nicht wahr sein, wir sitzen jetzt am Tunten-Tisch? Also, das gibt’s doch nicht! Und … Ja, ich habe es in dem Buch auch geschrieben, also, ich habe mich noch nie so schwul gefühlt wie in dem Moment! Man schwankt so zwischen: Sollen wir jetzt einfach aufstehen und gehen und so einen Eklat provozieren oder bleiben wir da sitzen? Und wir sind dann sitzen geblieben, aber schön war’s nicht.

Meyer: Aber was hat Sie daran so geärgert, dass Sie jetzt sagen, wir hätten auch … Vielleicht hätte ich auch lieber gehen sollen?

Emcke: Das Erste, finde ich, ist, dass man sich fragt: Ja, also, ein Mensch, der mich sehr lange kennt und mit dem ich befreundet bin, wie kommt der darauf, dass das entscheidende Merkmal meiner Person meine Homosexualität ist? Dann würde ich eben sagen, ich könnte über alle möglichen Dinge sprechen – und ich meine, ich gehe jetzt erst mal davon aus, dass, wenn man zu einer Hochzeit eingeladen ist, dass man da hingeht, um zu sprechen, und nicht, um zu ficken. Also sozusagen, es ist jetzt erst mal ein bisschen ungewöhnlich, dass man dann denkt, ich müsste notwendigerweise mit anderen Homosexuellen mehr gemeinsame Themen haben als mit Heterosexuellen. Und ich glaube, man muss sich das Gedankenspiel nur mal umkehren und sich einfach mal vorstellen: Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Hochzeit, auf der nur Weiße eingeladen sind, und die einzigen Schwarzen, die es gibt bei dieser Hochzeit, sitzen alle am selben Tisch. Und weil das vielleicht nicht reicht, um einen Tisch aufzufüllen, kommen dann noch so ein paar Latinos und so ein bisschen Dunklere dazu. Und es würde jedem klar sein, warum das nicht geht. Und so hat es sich eben angefühlt für uns.

Meyer: Das ist so was wie eine Schlüsselszene auch in Ihrem Buch, glaube ich, diese Hochzeitsszene, weil es darum geht, warum funktioniert eigentlich dieses Einsortieren in diese sexuellen Schubladen - da die Homos, da die Heteros. Jetzt schreiben Sie aber ein ganzes Buch darüber, wie Sie zur lesbisch Liebenden geworden sind. Ist das nicht auch so ein Sich-selber-Einsortieren, nach draußen gehen mit der Botschaft: Ich bin eine lesbische Autorin?

Emcke: Nein, ich glaube, es sind zwei verschiedene Fragen. Also, das eine: Was war eigentlich für mich selbst das Motiv, dieses Buch zu schreiben? Die Frage, die ich bei dem Buch stelle … Ich stelle Fragen in dem Buch, also, es ist nicht so, dass ich jetzt sozusagen mit dem Label herumlaufe und sage, ich will mich jetzt endlich mal bekennen, ich bin eine homosexuelle Autorin, gar nicht. Sondern das Buch versucht, eine Geschichte zu erzählen aus einer bestimmten Jugend, nämlich aus den 70er- und 80er-Jahren. Ich versuche, die Geschichte meiner Pubertät zu erzählen, um darin aber Fragen zu stellen, die ich glaube, dass sie für alle Menschen existenziell und relevant sind. Also für Heterosexuelle oder für Homosexuelle gleichermaßen. Nämlich: Wie finden wir eigentlich heraus, wie wir lieben wollen? Wie finden wir eigentlich heraus, wie wir begehren, wie finden wir eigentlich heraus, was für eine Art von Leben wir uns vorstellen? Und das erzähle ich über das Begehren. Und in meinem Fall ist es eines, das homosexuell geworden ist, aber ich glaube, die Fragen selber stellen sich alle.

Meyer: Bei Ihnen hat das ja ziemlich lange gedauert, bis Sie dann herausgefunden haben …

Emcke: … ja, besonders schnell war ich nicht, also, ich war ein ziemlich …

Meyer: … 25 waren Sie dann …

Emcke: … genau, ich war schon 25, also, ich habe mich …

Meyer: … und warum hat es so lange gedauert?

Emcke: Das weiß ich selber nicht ganz genau, aber eine mögliche Antwort darauf ist, dass ich eben zunächst einfach erst mal … ja, mich auch so verliebt habe, wie das eben üblich war. Und vielleicht hatte ich einfach nur gar nicht die Fantasie, dass ich auch …

Meyer: … üblich heißt jetzt, in Jungs einfach verlieben, also heterosexuell …

Emcke: … genau, also, ich habe mich erst mal in Jungs und in Männer verliebt. Auch nicht unglücklich, also, muss man auch sagen, das sind jetzt keine traurigen oder schrecklichen Erfahrungen gewesen, ganz und gar nicht. Es hat mir einfach vielleicht die Fantasie gefehlt, also, ich glaube, ich habe mich auch in Frauen verliebt schon früher, ich habe es nur selber einfach gar nicht verstanden oder nicht richtig gedeutet. Und die Fragen, glaube ich, ja, die treiben, glaube ich, alle um: Wie lernen wir eigentlich unsere Bedürfnisse zu unterscheiden von dem, was die Konventionen sind, was wir uns wünschen sollen? Und das bezieht sich in diesem Fall auf Sexualität, kann sich aber, glaube ich, auch auf ganz andere Fragen des Begehrens beziehen.

Meyer: Jetzt sind wir wieder von der Frage abgekommen, ob Sie sich mit diesem Buch nicht selbst labeln als eine Frau, die … als eben homosexuelle Autorin?

Emcke: Ja, ich … Also, natürlich erzählt dieses Buch die Geschichte eines homosexuellen Erwachsenwerdens, klar. Aber was das Buch versucht, ist, genau aus diesem öffentlichen Labeling oder aus dieser Art von Zuschreibungen insofern herauszukommen, als ich versuche, eine individuelle Geschichte zu erzählen und eine in meiner Sprache, mit genau den Erfahrungen, die ich gemacht habe und von denen ich glaube, manche davon sind verallgemeinerbar und sind tatsächlich eine kollektive Erfahrung von Schwulen und Lesben. Und insofern ist das jenseits dessen, was nur die Schublade vorsieht.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, die Autorin und Journalistin Carolin Emcke ist bei uns. Wir reden über ihr Buch "Wie wir begehren" und das Buch ist zu Teilen auch ein Statement, dass lesbische Frauen nicht etwa Frauen sind, die keine Lust auf Sex haben, sondern die eben Lust auf anderen Sex haben, auf Lust mit Frauen eben. Davon war ich eigentlich, muss ich sagen, bisher immer ausgegangen. Warum meinen Sie, dass so ein Statement nötig ist?

Emcke: Ja, das ist ja gut, toll, freut mich, dass Sie das vorher schon gedacht haben! Es gibt aber doch schon sehr häufig dieses Klischee, also: Schwule Männer, das sind diejenigen, die lebenslustig und froh und promisk ein lustvolles Leben begehren, und Frauen werden oftmals noch – also lesbische Frauen –, oftmals noch so als abweichend auch von dem Lustprinzip beschrieben. Es gibt so dieses Ressentiment oder das Klischee, dass homosexuelle Frauen eben in Wahrheit einfach nur gar keine Lust auf Sex hätten. Das lohnt sich dann auch noch mal, sozusagen mit etwas lustvoller und, ja, ich glaube, einer freudigen Erzählung zu konterkarieren.

Meyer: Sie schreiben ja da auch durchaus explizit drüber, über sexuelle Erfahrungen auch mit Jungs und Männern früher, mit Frauen später. War das schwierig, mussten Sie da eine Schamgrenze überwinden?

Emcke: Komischerweise nicht. Ich fand eigentlich die Beschreibungen sozusagen, also, die jetzt mit Sexualität oder mit Lust oder mit Erotik zu tun haben, die sind mir gar nicht schwergefallen. Schwerer sind mir die Erinnerungen gefallen, die was damit zu tun haben, dass man in der Pubertät oder in dieser Zeit im Gymnasium eben auch manchmal gemein ist oder andere Kinder gedemütigt werden. Da über die eigene Rolle nachzudenken, wie viel habe ich davon eigentlich mitgemacht und zugelassen, wo hätte ich eigentlich intervenieren sollen … Das hat sehr, sehr viel mehr Überwindung gekostet, sich sowohl daran zu erinnern als auch es dann schreibend zuzugeben. Aber das waren sozusagen eher Fragen von Sich-Schämen im Sinne von Sich-schuldig-Fühlen als peinlich berührt zu sein, was preiszugeben über die eigene Sexualität.

Meyer: Die Frage nach der eigenen Rolle, die taucht ja auch wieder auf, wenn Sie von Ihren Erfahrungen bei Ihren Reisen als Journalistin berichten. Sie sind viel in Gebieten unterwegs, in denen Homosexuelle noch verfolgt werden, in muslimischen Ländern zum Beispiel. Wenn Sie da gefragt werden nach Ihrer Identität, zum Beispiel einfach schlicht die Frage: Sind Sie eigentlich verheiratet. Was sagen Sie dann?

Emcke: Ja, das ist relativ kompliziert. Die Frage, sind Sie verheiratet, ist so ein Klassiker, also, den kriege ich immer gestellt. Und man muss dazu sagen, die erwarten natürlich gar nicht, dass irgendeine Frau nicht verheiratet sein könnte, wenn sie oberhalb der 16 ist. Und das ist relativ schwierig. Also, ich kann nicht gut lügen, das ist vermutlich was, was alle Schwulen und Lesben wahrscheinlich ähnlich empfinden. Also, wer sich überhaupt zu einem solchen Leben dann entschlossen hat und in einem Umfeld lebt, in dem oftmals eben eher erwartet wird, dass man darüber schweigt, der will einfach nicht lügen. Und insofern sage ich bei der Frage, sind Sie denn verheiratet, sage ich jetzt nicht, ja, ich bin mit meinem Fotografen verheiratet, ich sage meistens einfach erst mal nur, ich bin nicht verheiratet. Und dann gibt es so peinliche Folgefragen, also gelegentlich …

Meyer: … sollen wir Ihnen einen Mann vermitteln …

Emcke: … genau, also sozusagen, möchtest du nicht meine dritte Frau werden, so? Also, das passiert häufiger. Und je nach Situation, also je nachdem, wie hoch ist dann das eigene Risiko, also wie sehr gefährde ich mich oder vielleicht auch nur, wie sehr gefährde ich meine Gesprächspartner, entschließe ich mich dann, über die eigene Homosexualität auch zu sprechen. Das ist unterschiedlich, je nachdem, wo ich bin und wirklich, wie ich den Kontext einschätze.

Meyer: In solchen Ländern ist das natürlich noch ein hoch brisantes Thema, bei uns ja viel weniger. Also, wir haben homosexuelle Ministerpräsidenten, Außenminister, lesbische Fernsehmoderatorinnen … Was würden Sie sagen, ist vor diesem Hintergrund Ihr Buch auch so ein Blick auf die Welt von gestern, als es noch viel schwieriger war, zu einer lesbischen Identität zu kommen?

Emcke: Na ja, ich würde sagen, es bleiben natürlich noch gewissen Bereiche auch hier bei uns offen. Also, wir haben immer noch keinen homosexuellen Fußballer, der sich geoutet hat, wir haben auch noch keine lesbische Politikerin, so weit ich das jetzt sehe, die sich geoutet hat. Also, auch da gibt es noch Bereiche offensichtlich, in denen das tabuisiert ist. Und ich glaube, was ich mit dem Buch eher versuche, indem ich auch eben von anderen Ländern erzähle, ist, so eine Ungleichzeitigkeit auch zu beschreiben. Zu beschreiben darüber, worüber in meiner Jugend noch geschwiegen wurde, darüber wird heute immer noch geschwiegen in anderen Ländern. Und auch – das war mir ganz wichtig – ein bisschen die Ähnlichkeiten zu beschreiben: Wie Muslime heutzutage immer genötigt werden, ihre eigene Identität zu erklären, scheint mir eben strukturell ganz ähnlich wie das Homosexuelle oder Juden oder andere Minderheiten empfinden.

Meyer: "Wie wir begehren", so heißt das Buch von Carolin Emcke, erschienen im S. Fischer Verlag, mit 250 Seiten für 20 Euro ist das Buch zu haben. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Emcke: Danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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