Adrian Lobe, Jahrgang 1988, hat in Tübingen, Heidelberg und Paris Politik- und Rechtswissenschaft studiert. Seit 2014 arbeitet er als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum (u.a. "Die Zeit", "FAZ", "NZZ", "Süddeutsche Zeitung"). 2016 wurde er für seine Artikel über Datenschutz und Überwachung mit dem Preis des Forschungsnetzwerks "Surveillance Studies" ausgezeichnet. Er ist zudem Träger des Georg von Holtzbrinck Preises für Wissenschaftsjournalismus, 2016. 2019 erschien sein Buch: "Speichern und Strafen – Die Gesellschaft im Datengefängnis".
Computerspiele ermöglichen neue Netzwerke
04:34 Minuten
Freie Information für alle! Trotz dieser Ur-Hoffnung ist das Internet eher zum digitalen Marktplatz geworden, beherrscht von Konzernen. Ein kleines Refugium der Wir-Utopie hat der Politologe Adrian Lobe dennoch entdeckt: Computerspiele.
Als während des Lockdowns im März 2020 die Hochschulen geschlossen waren, hatten Studenten der University of Pennsylvania eine findige Idee: Sie bauten ihren Campus im Computerspiel "Minecraft" nach. "Minecraft" kann man sich wie ein virtuelles Legospiel vorstellen.
Wohnheim, Food-Trucks, Hörsäle – Block für Block wurde das Hochschulgelände digital rekonstruiert. Sogar eine detailgetreue Replika der Fisher Fine Arts Library, einem markanten Backsteinbau, wurde in der virtuellen Welt kreiert. Auch andere Studenten, etwa am MIT in Boston, schufen in dem Spiel eine Digitalversion ihrer Hochschule.
Studentische Avatare treffen sich via Game in der Uni
Die digitale Rekonstruktion des Campus war jedoch kein Selbstzweck: Die Studenten wollten einen virtuellen Versammlungsort schaffen, wo man sich trotz Hochschulschließungen und Ausgangssperren austauschen konnte.
Sie trafen sich mit ihren Avataren zu virtuellen Seminaren, Workshops und Dinner-Partys. Zeitweise waren über 400 Leute auf dem Server. Im virtuellen Raum gibt es keine Kontaktbeschränkungen und auch kein Ansteckungsrisiko.
Dennoch: Computerspiele genießen in der Öffentlichkeit nicht den allerbesten Ruf, weil oft nur an Ballerspiele gedacht wird. Sie kämpfen mit dem harten Vorurteil, dass ihr Konsum verblöde, süchtig mache und antisoziale Wirkungen entfalte. Online-Games gelten bestenfalls als nerdig, schlimmstenfalls als Biotop für Extremisten.
Virtuelle Ersatzstadt in der Pandemie
Doch in der Corona-Pandemie zeigt sich, dass die Spielewelt zur Ersatzstadt werden kann.
Graduiertenfeiern, Hochzeiten, Trauermärsche, Konzerte – was sonst auf Straßen, Schulhöfen oder öffentlichen Plätzen stattfand, verlagert sich ins Netz. Schon der Kunsthistoriker Johan Huizinga wusste, dass der Mensch ein homo ludens, ein spielerisches Wesen, ist.
Und deshalb sind es längst nicht mehr bloß Nerds, die den digitalen Spielekosmos bevölkern, sondern auch Aktivisten. Gamer aus Hongkong verabredeten sich im April 2020 auf einer Privatinsel in "Animal Crossing" zu einer spontanen Kundgebung, wo sie mit ihren Avataren mit Köchern auf die Peking-treue Regierungschefin Carrie Lam eindroschen.
Neue politische und soziale Netzwerke
Computerspiele sind mittlerweile zu riesigen Communitys angewachsen. Allein "Minecraft" zählt über 100 Millionen Spieler auf der ganzen Welt. Onlinespiele gelten als die neuen sozialen Netzwerke. Wo man sich auf Facebook oder Twitter in einem sehr engen algorithmischen Korsett bewegt, ist man in Spielewelten relativ frei – sowohl in der Gestaltung als auch in den Inhalten.
So hat die Organisation Reporter ohne Grenzen in "Minecraft" eine virtuelle Bibliothek aus 12,5 Millionen Blöcken errichtet, die zensierte Artikel und Bücher aus autoritären Regimen beherbergt. So können selbst Zensuropfer in Saudi-Arabien oder Vietnam auf diese Informationen zugreifen.
Zwar wurde das populäre Spiel "Animal Crossing" in China aus den Stores entfernt. Doch im Gegensatz zu Facebook oder Twitter sind Computerspiele noch nicht so sehr von staatlichen Eingriffen betroffen. Das macht sie als transnationale Öffentlichkeit für Dissidenten besonders attraktiv.
Per Onlinespiel die Utopie der Internetpioniere verwirklichen
Auch Tier- und Umweltschützer haben die Spielearena als politisches Betätigungsfeld für sich entdeckt. So hat die Tierrechtsorganisation PETA einen Veganer-Guide veröffentlicht, der Spieler in "Animal Crossing" dazu anhält, statt zu fischen und nach Muscheln zu graben sich doch lieber von Kokosnüssen und Pfirsichen zu ernähren.
Man mag das lächerlich oder absurd finden. Doch Ernährungsfragen sind auch im virtuellen Raum politisch. In der digitalen Spielewelt werden die Themen der Realität verhandelt – und das erstaunlich gesittet. Statt sich in den dröhnenden Echokammern von Facebook und Co. anzubrüllen, kann man sich auch einfach mal in einen virtuellen Hörsaal setzen.
Die Utopie einer Cyberagora, wie sie die Internetpioniere erträumten, scheint in Online-Games ein Stück Wirklichkeit zu werden.