Auf der Suche nach dem verlorenen Ich

Thomas Berger im Gespräch mit Katrin Heise · 25.03.2013
Im Mittelpunkt des Krimis "Zeugin der Toten" steht eine Frau ohne Vergangenheit und ohne Geschichte, gespielt von Anna Loos. Regisseur Thomas Berger, der das preisgekrönte Buch verfilmt hat, will den Zuschauer mit Spannung in die verwickelte DDR-Geschichte ziehen.
Katrin Heise: 2012, da bekam die Schriftstellerin Elisabeth Herrmann für ihren Krimi "Zeugin der Toten" den Deutschen Krimipreis. Sie ist eine westdeutsche Schriftstellerin und hat sich doch auf ostdeutsches Terrain gewagt. Sie erzählt in dem genannten Buch die Geschichte einer jungen Frau, die als Kind in ein DDR-Kinderheim kam, keine Erinnerungen mehr hat an ihre frühere Vergangenheit und erst langsam herausbekommt, wie sehr ihr Schicksal mit der deutsch-deutschen Geschichte tatsächlich verwoben ist.

Jetzt hat Regisseur und Drehbuchautor Thomas Berger den Krimi verfilmt. Heute Abend läuft er um 20:15 Uhr im ZDF. Aber bevor wir gleich mit Thomas Berger sprechen, Beitrag in Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) stellt uns erst mal Anke Schäfer den Film vor.

Katrin Heise: Und uns geht es jetzt um diesen Hintergrund. Den Film "Zeugin der Toten" fasste Anke Schäfer für uns zusammen. Der Regisseur und Drehbuchautor des Films, Thomas Berger, ist zu uns ins Studio gekommen. Ich grüße Sie, Herr Berger.

Thomas Berger: Ich grüße Sie auch.

Heise: Thriller mit realistischem Hintergrund, so ist der Film auch der Presse angekündigt worden, das ist ja offenbar ein Unterschied, also beruht eben nicht auf Tatsachen, aber beispielsweise, dass Kinder in DDR-Kinderheimen eine neue Identität übergestülpt bekommen, das ist ja wohl vorgekommen. Wie realistisch ist das Dargestellte?

Berger: Ich glaube, dass das im Hintergrund, was jetzt dieser Roman von Elisabeth Herrmann erzählt, durchaus realistisch ist. Elisabeth neigt dazu, sehr, sehr gut zu recherchieren. Sie hat sehr viele Informanten. Sie hat mir mal erzählt, dass sie, glaube ich, monatelang vorher da sitzt, bevor sie überhaupt eine Zeile schreibt. Und es betrifft ja nicht nur die Vergangenheit von Judith Kepler als Opfer in einem DDR-Kinderheim. Sie bezieht sich ja auch auf das Verschwinden, man muss in der Zwischenzeit sagen, mysteriöse Verschwinden der Rosenholz-Dateien, das heißt, Namen, Klarnamen von DDR-Agenten, oder Agenten aus der DDR raus agierend, die in Westdeutschland gesetzt worden sind.

Heise: Und vor allem eben das ganze Umfeld dieser Agenten, die eben in Westdeutschland dann danach oft davon betroffen waren. Sie sagen gerade, dass da sehr stark von Elisabeth Herrmann eben recherchiert wird, dass sie eben sogar mit IMs und so weiter sich unterhalten hat, dass sie also tatsächlich Zeugenaussagen hat, nicht nur Quellenmaterial auswertet?

Berger: Ja. Wir haben vor allem halt auch den kompletten Roman miteinander reflektiert, das war ja das Wichtige. Weil im Grunde genommen bestand die Aufgabenstellung darin, diesen Roman fürs Fernsehen zu bearbeiten, in eine fernsehtaugliche Dramaturgie zu bringen, und dafür – man muss sich vorstellen, dass dieser Roman ungefähr ein doppelt so großes, wenn nicht dreifach so großes Personal hat. Das heißt, ich musste im Grunde genommen wie ein Extrakt aus diesen ganzen Geschehnissen rausfiltern. Im Roman haben etliche Figuren mehrere Decknamen. Das heißt halt, die Figuren heißen mal so, heißen mal Stange, heißen danach Doktor Matthes. Das ist etwas, was im Fernsehen sehr, sehr untauglich ist, weil am Grunde Zuschauer dann plötzlich völlig hilflos davor sitzen und sagen, ich kapiere gar nicht mehr, wer wer ist.

Heise: Das heißt, Sie mussten da sehr viel rausnehmen, sehr viel eindampfen, um es verständlicher zu machen. Was stand für Sie bei der filmischen Umsetzung im Vordergrund?

Berger: Ich denke, sicher die Geschichte von Judith Kepler. Es war am Anfang, wenn man den Roman liest, exponiert Elisabeth Herrmann Quirin Kaiserlei, gespielt von Rainer Bock, und Judith Kepler gespielt von Anna Loos, fast gleichberechtigt. Das ist etwas, was für den Film nicht gut ist. Ich hab mich da ein bisschen natürlich, das ist meine eigene filmische Sozialisierung aus den 70er-Jahren, ich war ein großer Fan von Sidney Pollacks "Die drei Tage des Kondors" – wenn Sie sich den noch mal in Erinnerung rufen, werden Sie sehen, es erzählt komplett über die Figur von Robert Redford, der dann plötzlich in die Machenschaften der CIA reingeriet. All das, was so kompliziert ist, ich hab den Film, glaub ich, in meiner Jugend sechs Mal gesehen. Ich bin immer daran gescheitert, ihn nachzuerzählen, weil die Geschehnisse in der CIA so kompliziert waren. Trotz alledem hat das dem Film überhaupt keinen Abbruch getan. Er war so spannend, dass ich ihn sehr gerne sechs Mal gesehen habe.

Heise: Wie ist es Ihnen denn mit Ihrem eigenen Film jetzt gegangen? Wenn jemand dann irgendwann dem nicht mehr gefolgt wäre, also deswegen haben Sie Klarnamen ja beispielsweise, viele Dinge, viele Stränge dann rausgelassen, viele Personen rausgelassen. Ihnen lag ja schon auch daran, dass es das Thema, also dieses Subthema, dieses Menschen verschwinden, Identitäten werden verändert, und was macht das mit der Person? Da geht es ja um die Psyche auch der Hauptdarstellerin, der Hauptperson. Was war Ihnen da das Wichtigste?

"Ein falsches Leben gelebt"
Berger: Ich glaube, dass das für jeden sehr nachvollziehbar ist, wenn man nicht weiß, wo man herkommt. Wenn man ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne Geschichte ist. Das heißt, das, was uns durch diesen Film trägt, ist Judith Kepler, die plötzlich kapiert, dass sie gar nicht Judith Kepler ist, dass sie ein falsches Leben gelebt hat und die sich auf die Suche begibt, ihr eigenes Ich, ihre Existenz, ihre Geschichte noch einmal zu entdecken und gleichzeitig die Chance zu haben, dass die Mutter, von der sie geglaubt hat, dass sie seit Jahren tot ist, eventuell noch lebt.

Heise: Thomas Berger ist der Regisseur und Drehbuchautor des Fernsehfilms "Zeugin der Toten" nach einem Roman von Elisabeth Herrmann. Er ist unser Gast hier im Radiofeuilleton. Herr Berger, was stand für Sie eigentlich im Vordergrund? Der Thriller oder die Vermittlung historischer Vorgänge?

Berger: Ich glaube da fest dran, dass man das nicht trennen muss. Man kann das, aber da gibt es überhaupt keine Regeln. Ich vermische solche Sachen sehr gerne, hab ich so lange gemacht, so lange ich diesen Beruf ausübe. Nun gibt es aber auch durch den Roman da eine Vorgabe. Der Roman ist eindeutig ein Thriller. Und ich glaube, es wäre ein Fehler gewesen, ein gesellschaftliches Sozialdrama daraus zu machen. Das braucht es auch nicht. Ich glaube, dass ein Zuschauer durch die Spannung um die Geschichte von Judith Kepler gut durch diese Geschichte der "Zeugin der Toten" geführt wird und gleichermaßen etwas lernt oder auch auf Themen stößt, die er dann weiter verfolgt.

Heise: Würden Sie sagen, dass so populäre Spielfilme im Fernsehen, Fernsehfilme sowieso ein gutes oder vielleicht das beste Vehikel sind, um historische Themen aufzuarbeiten, eben auch vielleicht für eine jüngere Generation sie aufzuarbeiten?

Berger: Ich glaube, es ist eins. Also, wenn man dann sagt, das ist das Vehikel, das ist das Mittel, dann maßt man sich etwas an. Es ist ein sehr gutes Mittel. Ich mag das sehr gerne. Ich mag gerne halt in eine Spannung reingezogen werden, aber es ist auch wirklich nur ein Mittel. Es gibt auch die Möglichkeit, das anders zu erzählen.

Heise: Billigen Sie es dem Zuschauer auch zu, wenn er das eigentlich nur als einen Thriller sieht?

Berger: Absolut. Ja. Ohne Probleme.

Heise: Dann ist ihr Film trotzdem aufgegangen?

Berger: Ja.

Heise: Es gibt ja das Opfer und es gibt die Täter. Und das ist auch ziemlich eindeutig. Also, wenn man vor allem sich an der Hauptperson lang hangelt. Bei dem BND-Agenten ist das nicht mehr so. Da ist es durchaus zwiegespalten, wer ist hier Opfer, wer ist hier Täter. Bei Judith Kepler ist es eindeutig. Wie viel Wert konnten Sie eigentlich auf Vielgestaltigkeit, auf Widersprüchlichkeit der Personen legen, also Zwischentöne, Selbstzweifel, Reue?

Berger: Na ja, wenn Sie letztendlich die Figuren, die die ehemalige Stasi vertreten in diesem Film, anschauen – es gibt einen Satz von Avid Birnbaum, der sagt halt: Es waren damals andere Zeiten. Ich weiß nicht, ob das ausreicht, um zu verargumentieren, dass man damals auch Opfer war. Da Sie diesen Dreiteiler des ZDF erwähnen, "Unsere Väter, unsere Mütter", da sehen Sie ja auch: Die Durchmischung von Opfer und Täter liegt ganz, ganz, ganz nahe beieinander. Das ist natürlich auch in anderen Systemen genauso. Und das ist – wir konnten das nicht auserzählen, wir haben nicht dreimal 90 Minuten gehabt. Aber in der Kleinheit, wie das bei uns möglich war, haben wir versucht, die Chance zu nutzen.

Heise: In den vielen anderen Personen. Bei Judith Kepler, die ist eindeutig zu verorten.

Berger: Ja, auf jeden Fall.

Heise: Thomas Berger ist der Regisseur und Drehbuchautor von "Zeugin der Toten", einem Fernsehfilm heute Abend um 20.15 Uhr im ZDF, über deutsch-deutsche Geschichte nach einem Roman von Elisabeth Herrmann. Herr Berger, ich danke Ihnen ganz herzlich für den Besuch im Radiofeuilleton.

Berger: Ich danke auch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Informationen des ZDF über den Film "Zeugin der Toten"
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