Auf der Suche nach dem toten Vater

Rezensiert von Brigitte Neumann |
Vier Jahre nach dem Anschlag auf die World Trade Center in New York geht die Katastrophe allmählich in die Geschichte ein. Nicht nur Hollywood nimmt sich des Ereignisses an, sondern auch zahlreiche neue Romane sind dazu erschienen. Einer davon erzählt die Geschichte des neunjährigen Oscar Shell, dessen Vater am 11. September umkommt. Geschrieben wurde "Extrem laut und unglaublich nah" von Jonathan Safran Foer und ist nun auch als Hörbuch erschienen.
Manchmal hilft die richtige Stimme einer Romanfigur erst auf die Sprünge, erweckt sie zum Leben. Manchmal aber gibt es auch den Fall, da radiert der Vorleser eine Figur regelrecht aus, redet sie tot. Alexander Khuon, Schauspieler am Berliner Ensemble und Sohn des Hamburger Thalia-Intendanten, tut in der über neun Stunden dauernden Lesung von "Extrem laut und unglaublich nah" mal das eine, mal das andere.

"Ist jemand zuhause? Hallo. Hier ist Dad.
Wenn Ihr da seid, nehmt bitte ab.
Hört zu, hier ist irgendetwas passiert.
Mir geht es gut.
Wir sollen bleiben, wo wir sind und auf die Feuerwehr warten.
Wird schon gut gehen, bestimmt. "

Das sind die letzten Worte des Juweliers und Familienvaters Thomas Shell, der am 11. September 2001 im Windows on the World, dem Café im obersten Stockwerk des World Trade Center stirbt. Am Anrufbeantworter steht sein neunjähriger Sohn Oscar, der Romanheld in Jonathan Safran Foers zweitem Weltbestseller.

Thomas Schell liebte die Lieder der Beatles. Sein Sohn Oskar tut das auch. Er summt sie Nachts, wenn er nicht schlafen kann und stattdessen Sicherheitsvorkehrungen erfindet – Airbags für Wolkenkratzer zum Beispiel oder Vogelfutterhemden, damit der Mensch auch ohne Flugzeug fliegen kann – oder wenn er sich eine Pause gönnt zwischen seinen quälenden Grübeleien:
Wieso musste Dad sterben? Und: Wie soll ich ohne ihn weiterleben?

"Dad deckte mich immer richtig gut zu. Und dann erzählte er mir immer die tollsten Geschichten und wir lasen zusammen die New York Times. Super war auch, dass wir in jedem Artikel, den wir lasen, irgendeinen Fehler fanden. Ich fand es klasse, einen Dad zu haben, der schlauer als die New York Times war. Und ich fand es klasse, dass ich durch sein T-Shirt die Haare auf seiner Brust an der Wange spüren konnte. Und dass er selbst am Ende des Tages immer nach Rasieren roch.
Bei ihm kam mein Kopf zur Ruhe. Ich brauchte mir nichts mehr ausdenken! "

Der kleine Oscar, der sich wie ein Dandy nur weiß kleidet und auf seiner Visitenkarte als Profession unter anderem Tamburinspieler aufführt, ist – wie der andere große Blechtrommler der Literaturgeschichte – nicht unbedingt nur sympathisch. Wenn Oscar liebt, dann hat das etwas Doktrinäres und wenn er leidet, dann wirkt es zwanghaft.
Wieso stellte der 28-jährigen Autor Jonathan Safran Foer eine kindliche Figur in den Mittelpunkt seines Romans über 9/11?
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"Ich kann mich genau erinnern, wie ich mich nach dem 11. September fühlte. Und ich glaube, es ging vielen Leuten genau so: Ich fühlte mich sehr verwundbar und ungeschützt. Es passierte sogar, dass ich meinem Bruder sagte, wie sehr ich ihn liebe. Das hatte ich lange nicht mehr getan. Für viele Leute war es das erste Mal, dass sie weinten.
Kinder tun diese Dinge immerzu. Als Kind habe ich ziemlich häufig geweint, zum Beispiel, wenn ich einen Obdachlosen in der Straße sah.
Als ich beschloss, über 9/11 zu schreiben, wollte ich dieses Lebensgefühl der Verwundbarkeit wiederherstellen, das ich hatte, als es passierte. Es schien mir deshalb am besten, aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen. "

Oskar sucht seinen toten Vater. Und beim Durchwühlen des Kleiderschrankes findet sich tatsächlich eine Spur, der er nachgehen kann. Es ist ein kleiner Umschlag mit der Aufschrift Black und einem Schlüssel darin.

"Ich fand heraus, dass es in New York 472 Menschen namens Black gab. Sie hatten 216 verschiedene Adressen, weil ein paar Blacks unter einem Dach lebten, versteht sich von selbst.
Ich stellte folgende Rechnung auf: Wenn ich jeden Samstag zwei Blacks aufsuchen würde, was durchaus im Bereich des Möglichen lag, plus die Ferien, plus die Proben für Hamlet und andere Sachen wie Münz- und Mineralienbörsen, dann würde ich ca. drei Jahre brauchen, um alle aufzusuchen. "

Unter den Blacks sind Chinesen, Philippinos, Amerikaner, Juden, Christen, Alte und Junge – eine Zusammensetzung ähnlich wie die im World Trade Center am Tag der Katastrophe. Jedem erzählt Oskar, warum er das Schloss so dringend finden muss: weil er das Gefühl hatte, seinen Dad erst dann richtig zu lieben, wenn er es schafft, dieses Rätsel zu lösen.

Oscars Geschichte genügte Foer leider nicht. Er schuf deshalb noch etliche Nebenschauplätze: Die jüdischen Schicksale der Großeltern, die Bombennacht von Dresden, außerdem montierte er den Bericht einer Überlebenden von Hiroshima in seinen Roman. Das ist zu viel des Guten. Die Geschichte bricht genau auf diesen Nebenschauplätzen ein. Dort, wo das Buch nicht funktioniert, entlarvt Alexander Khuons Stimme es als bedeutungshubernd und wird so monoton, dass man diese Stellen guten Gewissens als nebenwirkungsfreie Einschlafhilfe vertreiben könnte.
Wo es um den neunjährigen altklugen Helden des Romans gibt, wirkt Khuons Lesung belebend und farbgebend auf die Figur.

Dieser Foer wird also noch nicht in die Weltliteratur eingehen, aber den Mann sollte man sich merken. Kann gut sein, dass er noch mal etwas zu Papier bringt, das bis ans Ende der Tage hält. Deshalb sei für dieses Mal die kleine Lösung empfohlen: "Extrem laut und unglaublich nah" als Hörbuch.

Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah
Gelesen von Alexander Khuon
Laufzeit: 541 Minuten
6 CDs mit Booklet