Auf der Suche nach dem Sinn

Ohne die Kirchen geht es nicht

04:24 Minuten
Restaurant und Event-Location "Glück und Seligkeit" in der ehemaligen evangelischen Martini-Kirche in Bielefeld
Restaurant in ehemaliger Kirche: Aber wer übernimmt jetzt die Rolle als Volkserzieher? © dpa / Robert B. Fishman
Eine Betrachtung von Martin Ahrends · 25.01.2021
Audio herunterladen
Jedes Jahr verlieren die beiden großen christlichen Kirchen Hunderttausende Mitglieder. Doch wer füllt das ethische Vakuum, dass dadurch entsteht? Der Schriftsteller Martin Ahrends glaubt nicht, dass sich so schnell Ersatz für die Kirchen findet.
Christliche "Du-sollst"-Sätze grundieren unsere Rechtsprechung. Sie sind in unserem Alltagsbewusstsein verwurzelt, auch dann, wenn wir keiner Gemeinde angehören. Unsere Klassenzimmer wurden von Katecheten erfunden, die christliche Kirche ist seit Jahrhunderten ein großer Volkserzieher. Genauer: Sie war es. Denn seit Längerem nimmt ihr Einfluss deutlich ab. Wer übernimmt statt ihrer diese Funktion?
Ist sie vakant? Brauchen wir überhaupt so ein übergeordnetes "Du sollst"? Genügt es nicht, sich an die Gesetze zu halten? Was geschieht, wenn dies angestammte Kirchenrevier nicht bestellt wird, wenn es sozusagen verwildert? Wird es von Freibeutern aller Art besetzt, die es ihren Zwecken dienstbar machen? Wird die Kirche geräuschlos abgelöst von Mächten, die sich eine massenpädagogische Funktion nie ausdrücklich zuschreiben würden?

Heerscharen von Spezialisten für Marketing und Influencing verstehen ihr Tun ganz pragmatisch und würden es weit von sich weisen, als Volkserzieher bezeichnet zu werden. Die Wirtschaft braucht Verbraucher, die in ihrem Verhalten berechenbar und manipulierbar sind, um in die Kalkulation zu passen. Menschen, die nie zufrieden sind. Unersättlich sollen sie sein.
Sie – das sind wir.

Bloß zu konsumieren erzeugt Schuldgefühle

Und siehe da: Zufriedenheit, die Todsünde des Kapitalismus, gilt uns zumindest als spießig. Das Wort "Kauflaune" hingegen ist durchaus positiv besetzt. Irgendwie, irgendwo haben wir ein diffuses Gefühl von Schuld, der selbstanklagende Stoßseufzer gehört zur westeuropäischen Lebensart dazu. Doch was halten wir von uns?
Könnte es sein, dass unser Lebensstil unser Selbstbewusstsein als Menschen längst unterminiert hat? Dass wir uns zutiefst unsympathisch geworden sind, als verbrauchte Verbraucher?
Was ich vermisse, ist gewiss nicht die sowjetische Hybris in Maxim Gorkis Satz: "Ein Mensch – wie stolz das klingt!"
Auch nicht die biblische Behauptung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Was mich ängstigt, ist eine allgemeine Misanthropie, die wir uns zugezogen haben, indem wir dem Götzen in unserer Mitte willfährig zu Diensten waren, wobei wir glauben konnten, uns von ihm bedienen zu lassen.

Die neue Macht der Wirtschaft

Die Wirtschaft braucht uns nicht als gute Menschen. Und dass wir ein reines Gewissen haben, ist in ihren Koordinaten irrelevant bis störend. Der Wirtschaft ist eine Macht in den Schoß gefallen, die ihr nicht zukommt und mit der sie nicht angemessen umgehen kann: Es ist ihre in die normative Brache vorgedrungene Macht als "Menschenbildner", ihre Macht über ein modernes Menschenbild. Die Wirtschaft ist auch in ethischer Hinsicht weit davon entfernt, ihrer Macht gerecht zu werden.
Braucht es im heutigen Westeuropa eine moralische Instanz vom Format der christlichen Kirche? Die hohen Gotteshäuser stehen da noch mitten unter uns, sie leeren sich und stellen uns dringliche Fragen. Erwarten sie eine neue Deutung von uns? Unseren Aufbruch in eine neue ethische Selbstbestimmung? Auch als Verbraucher? Sätze wie diesen: "Danke, nein, wir brauchen den ganzen Plunder nicht, den ihr uns aufschwatzen wollt?"
Menschen sind so viel mehr als eine kalkulierbare Funktion im wirtschaftlichen Getriebe. In Zeiten allgemeiner Misanthropie lasst uns empathischer, selbstbewusster auf die armen, reichen Wohlstands-Menschen schauen, zu denen wir geworden sind! Die wir haben aus uns machen lassen.
Das Menschenbild unserer Kirchen bedarf gewiss der Modernisierung – es taugt schon heute, die normative Brache in unserer Mitte nicht ganz und gar den Werbetafeln zu überlassen.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.

© privat
Mehr zum Thema