Auf der Suche nach dem Metaphysischen

Von Michael Hollenbach · 12.01.2013
Christian Lehnert gilt als einer der profiliertesten Dichter der deutschen Gegenwartslyrik. Er ist zugleich Leiter des Leipziger Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und wurde wurde 2012 mit dem Hölty-Lyrik-Preis ausgezeichnet.
Die Katzen haschen nach dem Ahornblatt,
das auf der Wiese treibt vor dem Gewitter.
Ich aß fast nichts am Abend und bin satt
Die ganze Nacht, am Morgen schmecken bitter
Die Zungenwurzel und das Augenlicht.
Ich weiß nicht, was ich heute beten soll -
In Bitten fassen, was an Sinn gebricht?
Ich lese, lese mir den Rachen voll.


Christian Lehnert ist ein Suchender. Der 43-jährige Theologe verkündet in seinen Gedichten keine Glaubensgewissheiten. Er schreibt über Gott, ohne ihn zu benennen.

"Wir können ja nicht mehr so tun, als würden wir im 17. Jahrhundert leben und diese Worte einfach so fraglos verwenden können. Wir haben ja ganz andere Erfahrungen damit. Ich glaube, dass Lobpreis und Zweifel in unserer heutigen spirituellen Situation zwei Dinge sind, die grundsätzlich zusammenhängen. Es gibt kein Lobpreis jenseits des Zweifels. Der Zweifel hat immer einen Bezugspunkt. Die entscheidende spirituelle Form unserer heutigen Religiosität ist, dass wir zweifeln. Das ist ein Ausdruck unseres Glaubens."

Die Lyrik helfe ihm bei seinen Predigten, sagt der Leiter des lutherischen Liturgiewissenschaftlichen Instituts: vor allem, weil er als Poet nicht mit vorgestanzten Antworten an einen Bibeltext herangehe:

"Das Entscheidende ist, dass die Lyrik mich immer wieder in eine Offenheit führt, immer wieder auf den Punkt führt, dass ich keine Sprache habe; Gedichte entstehen ja dann, wenn ich um Worte ringe, wenn ich stammle, wenn ich Worte suchen, dann fängt der Motor an zu laufen."

Verkündigung habe für ihn aber nichts mit Lyrik zu tun. Zumal Verkündigen und Predigen ein schlechtes Image hätten. Sie stehen unter dem Verdacht, anderen eine Meinung aufzudrücken.

"Die Lyrik spricht in einen offenen Raum. Die Lyrik hofft auf Resonanzen beim Leser, der sich in meine subjektiven Darstellungsweisen einschwingt, der seine eigene Wahrheit in meiner Wahrheit findet. Das ist eine andere Situation als Verkündigung."

Der Pfarrerdichter redet selten direkt von Gott; er ist eher auf der Suche nach dem Metaphysischen. Aber Christian Lehnert weiß, dass er aus dem Rahmen des Lyrikbetriebs fällt. In einer säkularisierten Welt wirken Verse vom christlichen Glauben fast wie ein Anachronismus.

"Als Theologe steht man sofort unter Ideologieverdacht, ist man sofort in einer Schublade. Man kann ein simples Liebesgedicht schreiben, und sofort mutmaßt der Kritiker, was das für ein mystisches Gedicht wäre. Man ist in einer gewissen Rezeptionsschublade. Damit habe ich gelernt umzugehen."

Aber Lehnert spielt auch mit seinem theologischen Erfahrungsschatz. Zum Beispiel, wenn er eine Variation auf die Seligpreisungen der Bergpredigt dichtet: Verse, die sich auf die ersten Lebensmonate seiner Tochter beziehen.

Selig, die etwas anfängt und nie zu Ende bringt,
die das Rad nicht kennt und keine Schrift,
die nichts vom aufrechten Gang weiß und mit vier
freien Händen nach dem Mond greift. ( ... )
Selig, die ein Brummen beruhigt
in der Dunkelheit über dem hallenden Schmerz
im Leib. Selig, die von der Stimme, in der sie
wochenlang schwamm, das Heimweh der Laute lernte.


Der Dresdener Christian Lehnert stammt aus keinem besonders religiösen Elternhaus. Erst als Jugendlicher entdeckte er sein Interesse am christlichen Glauben und schloss sich der Jungen Gemeinde an:

"Das war für mich eine ganz andere Welt, eine neue Sprachform, eine ganz neue Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit, eine ganze andere Öffentlichkeit, die jenseits dessen sich bewegte, was in der DDR möglich war. Es war eine Jugendgruppe, wo man frei reden konnte, wo die Worte eine andere Bedeutung hatten."

Christian Lehnert wollte eigentlich Medizin studieren. Doch als Kriegsdienstverweigerer, als Bausoldat, blieb ihm dieses Studium versperrt. So entschied er sich für Religionswissenschaften, evangelische Theologie und Orientalistik.

"Was mich wirklich geprägt hat, ist das Studium der alten Sprachen. Mit dem Hebräischen eine Sprache zu lernen, die ganz anders tickt, die ganz anders aufgebaut ist, ganz andere Wirklichkeitszugänge zulässt, die kaum Abstraktes kennt und ganz unklare Zeitformen, sodass sich Wahrnehmungsformen verändern können und das war für mich ganz entscheidend."

Besonders das einjährige Studium in Israel hat ihn nachhaltig geprägt.

"Das würde ich ( ... ) als eine wirkliche Zäsur in meinem religiösen Dasein verstehen. Bis dahin war es ein Spiel (..) es war alles in der Probierphase, der Testlauf. Dort in Israel ist mir zum ersten Mal so ein selbstverständliches, tief im Menschen verwurzeltes religiöses Leben begegnet, was zugleich völlig in der Moderne beheimatet war."

Neben der Theologie und der Lyrik ist Christian Lehnert auch der Musik eng verbunden.

Musik: Oper Phaedra

So schrieb er für mehrere Opern die Libretti - unter anderem für Hans Werner Henzes Konzertoper Phaedra.

Musik: Oper Phaedra

Vielleicht liegt es an seinem theologischen und altphilologischen Hintergrund, dass seine Lyrik modern und zugleich sehr traditionell wirkt.

"Meine Gedichte folgen nicht der postmodernen Dauerschleife der Infragestellung des Autors oder einer fundamentalen Sprachkritik. Ich habe mich immer mehr reingeschrieben in ein ganz naives Vertrauen in die Sprache, die etwas zu tun hat mit: Im Anfang war das Wort."

Der Pfarrerdichter betont, er wolle nicht einem Kulturpessimismus das Wort rede, aber er mache sich schon Sorgen um die Zukunft der Lyrik. Einerseits seien Lesungen sehr gut besucht. Das hänge vielleicht auch mit dem Boom des poetry slam zusammen. Doch zugleich würden die Verkaufszahlen von Gedichtbänden weiter sinken.

"Und das Andere ist, dass generell die Lyrik eine Gattung ist, die eine Nähe zur Philosophie und zur Theologie hat, und dass sie damit in einem Dreiklang steht, der es in unseren Tagen ohnehin schwer hat. In Lebensvollzügen, die immer funktionaler werden, (..) sind die Fragen nach den Grunddingen immer mehr an den Rand gedrängt und das betrifft absolut die Lyrik."

Vielleicht sind ja die langen Winterabende eine gute Zeit, um den Fragen nach den Grunddingen des Lebens mal wieder intensiver nachzuspüren.
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