Auf der Suche nach dem fremden Blick
Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat die Grenzen seiner Disziplin erweitert, indem er Erkenntnisse aus anderen Fächern wie Psychologie und Sozialwissenschaft zur Interpretation von Texten heranzog. Viele seiner Arbeiten gelten inzwischen als Standardwerke der Germanistik.
Albrecht Schöne, Prof. em. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, richtete 1985 den Kongress der Internationalen Vereinigung der Germanisten als ihr Präsident erstmals in Deutschland aus. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen und München sowie des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste.
Nach dem Krieg, im Jahr 1947, wurde Franz Kafka für Albrecht Schöne, was etwa der Philosoph Karl Jaspers für einige seiner Generationsgenossen war: ein Vordenker, der nach der militärischen Befreiung nun auch die Türen zu einer geistigen Emanzipation aufstieß. Mit Goethe setzte sich Schöne über alle diplomatischen Formeln im Verkehr beider Deutschlands hinweg und zitierte: "Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten."
Voraussetzung für dieses grenzüberschreitende literarische Leben, für die Teilhabe an einer "Weltliteratur" war in Deutschland der kritische Blick zurück, die Analyse dessen, was da zwischen 1933 und 1945 geschrieben und zum Lobe des so genannten Führers mit fürchterlichem Pathos gesungen worden war. In seiner Vorlesung über "Politische Lyrik im zwanzigsten Jahrhundert" hatte der Göttinger Literaturwissenschaftler die NS-Barden mit einer detaillierten Textexegese bloßgestellt.
Zwischen den Fronten gewinnt Schönes scheinbar so akademisches Fach seine ganz besondere Qualität:
Albrecht Schöne: "Wir lernen viel von diesem – ja, anders kann man es nicht sagen: von diesem "Fremdblick" auf das Eigene, vor allem unsere Gegenstände verfremdend anzusehen, nicht schon durch vorgefasste Brillen zu betrachten."
Diesen besonderen Blick hat der Germanist nicht nur mit Aufsätzen über den Protest der "Göttinger Sieben" gegen einen verfassungsbrüchigen Monarchen bewiesen, auch mit der Erinnerung an die von der Universität betriebene Bücherverbrennung 1933 oder einer kritisch-ironischen Analyse des Faust-Zitats vom "freien Volk auf freiem Grund", mit dem die DDR sich und ihre Monumentalbauten an der Stalinallee zierte.
Vor allem aber hat Schöne selbst seinen fremden Blick mit Lehraufträgen in Japan und China geschärft. Seine Studenten in Peking überraschte er 1990 mit einem Vortrag über das 18. Jahrhundert, über Lavaters Versuche, mittels der Physiognomik den Charakter eines Menschen aus dem Gesicht zu erkennen:
Albrecht Schöne: "Am Ende dieses Vortrags habe ich dann darüber gesprochen, dass diese Auseinandersetzung bis in unsere Zeit reicht und habe Fotografien von alten Juden vorgeführt, die in Julius Streichers fürchterlicher Antisemiten-Schrift "Der Stürmer" publiziert wurden – in einer stehenden Rubrik, über der stand "Wie der Mensch aussieht, so ist er!"
Ganz am Ende hatte ich ein Standbild aus dem Pekinger Fernsehen, direkt nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz, wo von zwei sehr gut aussehenden chinesischen Offizieren ein Student vor die Fernsehkamera geschleppt wurde, zusammengeprügelt, das Gesicht aufgeschwollen, hässlich und widerwärtig aussehend. Die begleitenden Kommentare dazu: Das sind kriminelle Subjekte, Konterrevolutionäre waren das, üble, verkommene Burschen. Und dann habe ich sie daran erinnert, dass der wunderbare Lichtenberg gesagt hat, "hinter jedem Gesicht steht ein in Freiheit wirkendes Wesen"."
Das war nun das Paradebeispiel einer handfesten Germanistik, in einem akademischen Fach, das allzu oft von grauer Theorie dominiert wird. So kann es kommen, wenn ein Germanist die Forderung eines Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach einer "Bringschuld" der Wissenschaften wörtlich nimmt – und diesen öffentlichen Auftrag als eine Pflicht, deren Erfüllung durchaus Genuss bereiten könnte, an die Politik, an Medienstrategen wie PISA-Experten zurück gibt:
Albrecht Schöne: "Parlamentsreden, wie sie Carlo Schmid oder Kurt Schumacher schafften – wenn da heute Frau Merkel oder auch der Bundeskanzler reden, das ist anderes Kaliber mal gewesen, ganz ohne Zweifel. Es hängt sicherlich auch damit zusammen, dass das an die Medien abgegeben worden ist, an die Bildmedien, und sie kurz sprechen müssen und in Phrasen hereinrutschen. Natürlich ist so etwas wie die Kraft und die Gewalt von Rede etwas, was wir uns für unser politisches Leben wünschen müssten. Das ist ein Bereich, der glaube ich an Schulen und Universitäten bei uns ein bisschen kurz kommt."
Nach dem Krieg, im Jahr 1947, wurde Franz Kafka für Albrecht Schöne, was etwa der Philosoph Karl Jaspers für einige seiner Generationsgenossen war: ein Vordenker, der nach der militärischen Befreiung nun auch die Türen zu einer geistigen Emanzipation aufstieß. Mit Goethe setzte sich Schöne über alle diplomatischen Formeln im Verkehr beider Deutschlands hinweg und zitierte: "Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten."
Voraussetzung für dieses grenzüberschreitende literarische Leben, für die Teilhabe an einer "Weltliteratur" war in Deutschland der kritische Blick zurück, die Analyse dessen, was da zwischen 1933 und 1945 geschrieben und zum Lobe des so genannten Führers mit fürchterlichem Pathos gesungen worden war. In seiner Vorlesung über "Politische Lyrik im zwanzigsten Jahrhundert" hatte der Göttinger Literaturwissenschaftler die NS-Barden mit einer detaillierten Textexegese bloßgestellt.
Zwischen den Fronten gewinnt Schönes scheinbar so akademisches Fach seine ganz besondere Qualität:
Albrecht Schöne: "Wir lernen viel von diesem – ja, anders kann man es nicht sagen: von diesem "Fremdblick" auf das Eigene, vor allem unsere Gegenstände verfremdend anzusehen, nicht schon durch vorgefasste Brillen zu betrachten."
Diesen besonderen Blick hat der Germanist nicht nur mit Aufsätzen über den Protest der "Göttinger Sieben" gegen einen verfassungsbrüchigen Monarchen bewiesen, auch mit der Erinnerung an die von der Universität betriebene Bücherverbrennung 1933 oder einer kritisch-ironischen Analyse des Faust-Zitats vom "freien Volk auf freiem Grund", mit dem die DDR sich und ihre Monumentalbauten an der Stalinallee zierte.
Vor allem aber hat Schöne selbst seinen fremden Blick mit Lehraufträgen in Japan und China geschärft. Seine Studenten in Peking überraschte er 1990 mit einem Vortrag über das 18. Jahrhundert, über Lavaters Versuche, mittels der Physiognomik den Charakter eines Menschen aus dem Gesicht zu erkennen:
Albrecht Schöne: "Am Ende dieses Vortrags habe ich dann darüber gesprochen, dass diese Auseinandersetzung bis in unsere Zeit reicht und habe Fotografien von alten Juden vorgeführt, die in Julius Streichers fürchterlicher Antisemiten-Schrift "Der Stürmer" publiziert wurden – in einer stehenden Rubrik, über der stand "Wie der Mensch aussieht, so ist er!"
Ganz am Ende hatte ich ein Standbild aus dem Pekinger Fernsehen, direkt nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz, wo von zwei sehr gut aussehenden chinesischen Offizieren ein Student vor die Fernsehkamera geschleppt wurde, zusammengeprügelt, das Gesicht aufgeschwollen, hässlich und widerwärtig aussehend. Die begleitenden Kommentare dazu: Das sind kriminelle Subjekte, Konterrevolutionäre waren das, üble, verkommene Burschen. Und dann habe ich sie daran erinnert, dass der wunderbare Lichtenberg gesagt hat, "hinter jedem Gesicht steht ein in Freiheit wirkendes Wesen"."
Das war nun das Paradebeispiel einer handfesten Germanistik, in einem akademischen Fach, das allzu oft von grauer Theorie dominiert wird. So kann es kommen, wenn ein Germanist die Forderung eines Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach einer "Bringschuld" der Wissenschaften wörtlich nimmt – und diesen öffentlichen Auftrag als eine Pflicht, deren Erfüllung durchaus Genuss bereiten könnte, an die Politik, an Medienstrategen wie PISA-Experten zurück gibt:
Albrecht Schöne: "Parlamentsreden, wie sie Carlo Schmid oder Kurt Schumacher schafften – wenn da heute Frau Merkel oder auch der Bundeskanzler reden, das ist anderes Kaliber mal gewesen, ganz ohne Zweifel. Es hängt sicherlich auch damit zusammen, dass das an die Medien abgegeben worden ist, an die Bildmedien, und sie kurz sprechen müssen und in Phrasen hereinrutschen. Natürlich ist so etwas wie die Kraft und die Gewalt von Rede etwas, was wir uns für unser politisches Leben wünschen müssten. Das ist ein Bereich, der glaube ich an Schulen und Universitäten bei uns ein bisschen kurz kommt."