Auf der Spur neun berühmter ungarischer Juden

"Die Fertigkeiten, die er in den Zeiten des Naziterrors in den Straßen Budapests erworben hatte, kamen ihm in der Welt der Finanzen zugute."
Interessieren Sie sich für Literatur oder für Kino oder für Atomphysik ?In ihrem neuen Buch "Die Flucht der Genies – Neun ungarische Juden verändern die Welt" hat sich die amerikanische Journalistin und Buchautorin Kati Marton - 1949 in Ungarns Metropole Budapest geboren - auf die Spur der Biografien von neun Budapestern gemacht, die nach dem Ersten Weltkrieg im Angesicht des aufkommenden Antisemitismus ihr Land verlassen mussten und sich dann in der Welt den Ruf von Genies erwarben: die vier Atomphysiker beziehungsweise Mathematiker Leó Szilárd, Eugene Wigner, Edward Teller und John von Neumann, ohne die die Atombombe 1945 nicht gebaut worden wäre; des Weiteren zwei Filmregisseure, die Filmgeschichte geschrieben haben: Michael Curtiz mit "Casablanca" und Alexander Korda mit "Der dritte Mann"; drittens die zwei Fotografen André Kertész und Robert Capa mit seinem bekanntesten Antikriegsfoto aller Zeiten, jenes Soldaten im spanischen Bürgerkrieg, der im Lauf tödlich getroffen wird; nicht zu vergessen den einzigen Schriftsteller in dieser Neunerrunde, das Enfant Terrible Arthur Koestler, der zweimal im Leben seiner Hinrichtung entgegen sah.

Kati Marton beginnt im 19. Jahrhundert, macht Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg begreiflich: Zehn Mal größer mit zehn Mal mehr Einwohnern, ein tolerantes Heile-Welt-Operetten-Traumland, das bis zu den Palmen des Mittelmeers reichte. Der Antisemitismus nach 1919 treibt die intellektuelle Elite aus dem Land, nach Wien, Berlin, Göttingen, Paris, London, Moskau, New York, Hollywood und so weiter. Der Leser erlebt den spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, den Aufstand in Ungarn, den Vietnam-Krieg und auch einen Blick in die Jetzt-Zeit, stellt heutige ungarische Milliardäre vor und unternimmt eine Reise nach Budapest.

"Die Flucht der Genies" liest sich wie ein Thriller: Seite 1, 1939, Vorhang auf: New York, zwei junge Männer steigen in einen blauen Dodge und fahren los. Ihr Ziel: das Ferienhaus von Albert Einstein, ihr Plan: Einstein davon zu überzeugen, die Atombombe zu bauen. Bestes Entertainment, es darf viel gelacht werden. Kati Marton schreibt film-szenisch mit schnellen harten Schnitten. Spannung und Informationen wechseln sich ab. Tief prägt sich Zeitgeschichte durch die oft wechselnden und so extrem unterschiedlichen Perspektiven ein: dieselben Jahre, einmal aus der Sicht Hollywoods und gleichzeitig aus einem faschistischen Folterkeller.

"Die Flucht der Genies" bietet einen höchst innovativen, weil interdisziplinären Zugriff auf die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts - selten, dass ein Geschichtsbuch Natur- und Geisteswissenschaft so ganzheitlich betrachtet.

Kati Marton, profilierte Journalistin und auch Ehefrau von Richard Holbrooke, dem Afghanistan-Beauftragten Obamas, haben sich bei den Recherchen alle Türen geöffnet. Freunde und Nachlassverwalter der neun Protagonisten haben ihr Interviews gegeben und sie in den Archiven stöbern lassen. Das heißt, "Die Flucht der Genies" ist nicht einfach nur beschreibende Zeitgeschichte, sondern auch ein äußerst investigativer Beitrag zur Geschichtsforschung, zum Beispiel der des Kalten Krieges. Ein großartiges Buch.

Besprochen von Lutz Bunk

Kati Marton: Die Flucht der Genies – Neun ungarische Juden verändern die Welt
Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen
Eichborn Verlag, Die andere Bibliothek, 303. Band (Herausgegeben von Klaus Harpprecht und Michael Neumann, begründet von Hans Magnus Enzensberger)
Frankfurt am Main 2010
382 Seiten, 32,00 Euro