Auf der Schwelle zur Neuzeit

Ibn Khaldun gilt als einer der kühnsten Denker, die das Mittelalter hervorgebracht hat. Seine "Betrachtungen zur Weltgeschichte" sind eine frühe Ausformulierung einer zyklischen und anthropozentrischen Geschichtsauffassung. Nun ist eine Übersetzung auf Deutsch erschienen.
Man lehnt sich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man Ibn Khaldun (1332 in Tunis - 1406 in Kairo) einen der kühnsten Denker nennt, den das Mittelalter hervorgebracht hat. Denn Ibn Khaldun tut das Unmittelalterlichste, was man sich denken kann: Er entzaubert die Welt, und zwar durchaus im modernen, Weberschen Sinn.

Nur wenige Jahre, nachdem der "arabische Marco Polo", Ibn Battuta (1304 - 1369) dem Sultan von Fes seine mit allerlei Fabelmärchen angereicherten Reiseberichte verkauft hatte, tut ihn Ibn Khaldun in einer für sein Denken typischen Anekdote als Lügenbaron ab. Vorsicht sei bei seinen Berichten angebracht wie bei allem, was man nicht selbst nachprüfen kann. Doch die Pointe folgt erst. Denn auch umgekehrt gelte: Nicht alles, was man für unwahrscheinlich hält, muss falsch sein!

Ibn Khalduns tausendseitige "Einleitung" (eben das bedeutet "Muqaddima") in die Weltgeschichte will nichts weniger als eine "neu erfundene Wissenschaft" sein.

Übersetzt in heutige Begrifflichkeit handelt es sich dabei um eine historisch und soziologisch unterfütterte Anthropologie. Der Mensch, weiß Ibn Khaldun mit Aristoteles, den er ausdrücklich nennt, ist ein zoon politikon - ein Wesen, das auf die Gemeinschaft angewiesen ist. Je größer der Zusammenhalt zwischen den Menschen, desto höher die zivilisatorische Stufe, die eine Gemeinschaft erklimmt. In der zunehmenden, vor allem an der Verstädterung ablesbaren Komplexität der Gesellschaft liegt aber auch der Keim ihres Zerfalls, weil die natürlichen Bindungen immer mehr nachlassen und die Gewöhnung an den Luxus dazu führt, dass der Staat und die herrschenden Eliten über die eigenen Verhältnisse leben. Die daraus zwangsläufig folgende Ausbeutung der Bevölkerung führt schließlich zum Untergang.

Es ist eine der frühsten Ausformulierungen einer zyklischen und anthropozentrischen Geschichtsauffassung, und wer will, kann hier noch eine Erklärung für die Schwierigkeiten Europas im 21. Jahrhundert herauslesen. Ibn Khaldun wirkt umso aktueller, als er ökonomischen Erwägungen breiten Raum gibt und mehrfach auf den Zusammenhang von zu hoher Steuerbelastung und dem folgenden wirtschaftlichen Niedergang eines Gemeinwesens hinweist:

"Hohe Steuern werden zur Tradition, und niemand weiß, wer sie erhöht hat. Dadurch sinkt das Interesse der Leute an wirtschaftlicher Aktivität, und die Steuereinnahmen verringern sich."

Die vorliegende Übersetzung ist die bislang umfangreichste auf deutsch, aber auch sie umfasst nur rund die Hälfte des Werks. Die nicht übersetzten Partien werden sachlich korrekt und teils recht ausführlich zusammengefasst; aber das Original fehlt doch immer. Denn der Wert des Werks liegt nicht, wie man naiverweise annehmen könnte, im zusammenfassbaren Inhalt, sondern im Denkstil und rhetorischen Geschick, mit dem der Autor seine neuzeitliche Skepsis einem von mittelalterlicher Religiosität geprägten Publikum schmackhaft zu machen versucht.


Von Stefan Weidner

Ibn Khaldun: Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte
Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Alma Giese
C. H. Beck Verlag, München 2011
541 Seiten, 38,00 Euro