Auf der anderen Seite
Auf der einen Straßenseite, im Wedding, wohnen türkische Migranten, auf der anderen Straßenseite, in Mitte, haben Ärzte, Schauspieler und Juristen ihr Areal. Geschichten und Beobachtungen von damals, als hier noch die Mauer stand - und von heute, da es immer noch ein Drüben gibt.
1989 Mauerfall, 1990 Vereinigung. Die politische Geografie strich die Himmelsrichtungen Ost und West aus den Namen von Berlin. Bis dahin trennte die Mauer die Bernauer Straße in zwei Welten, heute trennt die Bernauer Straße zwei Stadtteile. Früher markierte die Bernauer Straße den Verlauf zwischen zwei Systemen, heute zwischen sozialen Verhältnissen.
Der Alltag kennt viele Gesichter. So viele Gesichter, so viele Geschichten. Jeder ist sein eigenes Land. Hinter manchen Fenstern zeigt sich ein Gesicht. Manche Fenster werden geöffnet.
Auf der anderen Seite. Damals und heute. Aus- und Ansichten am ehemaligen Grenzstreifen.
Auf der anderen Seite. 1994.
Kaminski: "Mein Name ist Oma Kaminski, bin 1981 aus der ehemaligen DDR hier übergesiedelt zwecks Heirat, bin 61 Jahre und seit dem lebe ich hier. Bernauer Straße 80."
Karow: "Ja, ich bin die Christiane Karow, bin 33 Jahre alt, wohne hier in der Brunnenstraße 47 mit Blick auf die Bernauer und den ehemaligen Grenzstreifen."
"Haben Sie sich in Gedanken mal drüben spazieren gehen sehen als die Mauer noch da war?"
"Ja, oft."
"Und was haben sie gemacht?"
"Hab mir die Geschäfte drüben angeguckt, wollen wir mal so sagen."
"Haben sich eingekauft in Gedanken?"
"Ja. In Gedanken, überhaupt für Weihnachten. In Gedanken war ich schon drüben gewesen. Zu Weihnachten. Aber ansonsten war man doch im Osten."
"Alleine oder mit Mann und Kindern da drüben gesehen?"
"Nee, mit die ganze Familien, nie alleine."
"Im Traum nur die Schaufenster angeschaut oder auch mit Leuten geredet?"
"Nee, da habe ich mir nur die Schaufenster angeguckt, und wenn ich geredet habe, dann nur mit meinem Mann."
Auf der anderen Seite. 2008.
Hardenberg: "Ich heiße Christiane Hardenberg, ich wohne hier in der Wolliner Straße, direkt an der Ecke Bernauer Straße, mit meinem Mann und meinen zwei kleinen Söhnen. Ich wohne seit zwölf Jahren in Berlin und seit einem Jahr hier an der Bernauer Straße."
Ursula Malchow: "Also ich bin 73 Jahre alt, heiße Ursula Malchow und wohne jetze Usedomer Straße 28a."
Günter Malchow: "Ich bin Günter Malchow, auch 73 Jahre alt, und wohne auch bei der Frau."
Frau Malchow: "Wir haben früher hier gewohnt, ein Haus daneben."
1994. Leere Fläche.
Karow: "Hier vorne war die Mauer, dann kam eine ganze Weile gar nichts, und denn war hier Grün. Wie gesagt, der Mittelstreifen, der jetzt betoniert ist, da sind die Grenzer so lang gelaufen."
Kaminski: "Denn von drüben, wo jetzt der Strich ist, da war die Mauer. Und ungefähr fünf Meter rein stand der Turm, der stand ziemlich am Haus hier dran, an dem vorderen."
2008. Gras drüber gewachsen.
Hardenberg: "Wir wohnen hier direkt am früheren Patrouillenweg, das sind zwischen unserem Haus und dem Weg vielleicht noch so fünfzehn Meter oder zehn Meter Grünstreifen, die sind auch denkmalgeschützt und dürfen nicht bebaut werden. Hinter dem Patrouillenweg war dann der damalige Todesstreifen. Das sind dann vielleicht 25 Meter, die jetzt auch grün sind, und am Ende, dort wo früher die Mauer war, sind jetzt Bäume gepflanzt, die die Sicht auf den Wedding jetzt gerade verdecken, weil alles grün ist."
Frau Malchow: "Bernauer Straße 118 - von hier haben wir da rüber geguckt. Und wir haben drei Kinder, die haben das hier an der Grenze miterlebt. Die saßen auf dem Fensterbrett."
Die Bernauer Straße. Früher da Ostberlin und dort Westberlin. Heute da Prenzlauer Berg und dort Wedding. Bis zum Grenzfall hatte man nichts miteinander zu schaffen, heute findet man eher selten zueinander. Der Straßenverlauf markiert noch immer unterschiedliche Lebensverhältnisse.
Damals lebte man auf der anderen Seite der Mauer, heute auf der anderen Straßenseite. Zu DDR-Zeiten wohnten auf der einen Seite Ostberliner, auf der anderen Westberliner. Heute teilt sich die Straße in Geringverdiener und Migranten da, in Aufsteiger und Besserverdienende dort.
Neue Aus- und Ansichten. 1994.
Karow: "Na ja, manchmal denke ich: Mensch, hat sich das doch alles verändert. Was hier vorher stand, und jetze. Vorher hat man die Mauer gesehen, jetzt sieht man gar nichts. Jetze staunt man, hört andauernd die Feuerwehr. Oft kracht es hier vorne, Autos … Das war hier vorher alles nicht. Und wenn es scheppert, dann rennt man automatisch zum Fenster, um mitzukriegen, was schon wieder passiert ist."
Kaminiski: "Diese Straße war ganz ruhig, ganz ruhig. Ich habe auf dem Balkon gesessen, Frühstück gemacht, Kaffee getrunken, oder im Liegestuhl. Campingstühle habe ich im Keller. Kann man ja nicht mehr aufbauen hier. Ich habe sogar einen Fernseher hier draußen gehabt und konnte fernsehen. Ist alles vorbei. Alles vorbei. Den Balkon kann ich gar nicht mehr nutzen. Ist total aus."
Veränderte Aus- und Ansichten. 2008.
Herr Malchow: "Wir sind ständig unterwegs, wir gehen von hier zum Alexanderplatz, wir machen unsere Spaziergänge, und freuen uns, wie schön das jetzt alles geworden ist, dass die grauen alten Häuser saniert worden sind und das man davon eigentlich nichts mehr erkennt, wie es eigentlich mal war."
Hardenberg: "Ich glaube, dass es sich in den letzten zwei, drei Jahren drastisch geändert hat, das hat zumindest eine Freundin erzählt, die hier schon länger wohnt. Und sie meinte, vor zwei Jahren sei es lange noch nicht so schick gewesen wie es jetzt ist."
Familie Malchow: "Manchmal sagt man, das Geld fließt in die andere Seite und wir müssen mit den Schlaglöchern leben. Das gibt’s auch."
"Finden Sie das auch?"
"Das ist so ein Gerede. Wir sind dankbar, dass es so gekommen ist; drüben wird es schön, man läuft gerne lang, gefällt uns drüben."
Malchow: "Die Strelitzer Straße, dort ist auch viel gefilmt worden, die hat man jetzt total saniert die Häuser, dort, wo die Tunnelflucht war, der große Tunnel, der 57er von der Bernauer 97 zur Strelitzer 55 - dieses alte verkommen Haus mit Toilette auf dem Hof ist jetzt ein Superneubau, Eigentumswohnungen. Wenn Sie jetzt jemandem sagen, da war der Ausstieg vom 57er Tunnel, da … Zum Glück ist ne Tafel dran, die daran erinnert ansonsten … also so verschwindet das."
Brachland der Beziehungen – das war und ist die Bernauer Straße. Früher konnte man nicht zueinander kommen, jetzt geht man sich aus dem Weg. Die Zeit der Sehnsüchte und des Mitleids ist vorbei, Sozialwohnungen und Gründerzeitkomfort markieren nun die Befindlichkeit.
Jeder ist sein eigenes Land. Die Bürgersteige werden zu zwei Landesteilen. Gelegentlicher Grenzübertritt nicht ausgeschlossen. Der Mauerpark gewährt da eine gute Aus- und Einsicht.
Vom Wechsel der Straßenseite. 1994.
Frau Karow, Ost. Frau Kaminski, West.
Karow: "Wir gehen auch sehr selten noch im Ostteil einkaufen."
"Warum?"
"Wir machen Preisvergleiche. Da ist es billiger, bei Aldi, bei Penny ist billiger. Und wenn man nicht viel Geld hat, dann muss man rumlaufen."
Kaminiski: "Ja … ich habe kein Verlangen mehr, da nach Drüben zu gehen, also …"
"Sind nur 50 Meter bis nach drüben, Ostberlin."
"Ja, ist mir egal, bleib hier und … kein Verlangen nach Drüben. Sage immer noch Drüben, aber ist …"
Kaminski: "Ostberlin, ja. Na ja, sage immer noch Drüben. Mag da nicht mehr da rüber. Ich habe zwar in Leipzig noch meinen Schwager und meine Schwägerin von meinem geschiedenen Mann, die kommen mich öfter besuchen hier und ich soll sie auch mal besuchen, aber … keine Lust … keine … ich weiß nicht."
Karow: "Ich sage auch oft zu meinem Mann: Ich gehe nach dem Westen. Dann sagt der: Wo gehst du hin? Dann sage ich: Na nach dem Westen. Das ist schwierig, das bei uns raus zu kriegen."
2008. Die Sehnsucht hat die Seiten gewechselt.
Hardenberg: "Und ich habe auch immer so das Gefühl, dass es wie so etwas wie eine unsichtbare Mauer gibt, weil es sich doch sehr wenig mischt. Die Leute aus dem Wedding kommen nicht zum Arkonaplatz und wir gehen auch nicht in den Wedding zum Spielplatz."
Frau Malchow: "Die Bernauer Straße ist ab 20 Uhr tot. Dann sitzen die Leute vorm Fernseher, da treffen Sie hier kaum einen Menschen in der Bernauer Straße."
Hardenberg: "Richtig viel Verkehr ist eigentlich nur am Wochenende, wenn Flohmarkt ist und die Leute vom Mauer-Flohmarkt zum Arkonaplatz-Flohmarkt gehen. Und morgens sind hier ab und an ein paar Schüler, die ihre Pause hier auf der ehemaligen Ostseite verbringen."
Der Blick nach drüben – bis zum Mauerfall verlief er quer über die Straße. Von Ost nach West, von West nach Ost. Seit dem Mauerfall geht der Blick von Mitte nach Wedding, vom Wedding nach Mitte.
Der Ost-West-Gegensatz hat sich auf ein Nord-Süd-Problem eingependelt. Aus dem politischen Gegensatz wurde ein sozialer.
Und überhaupt seit dem Mauerfall. 1994.
Kaminiski: "Und das Haus war immer total sauber, das war das … also wirklich. Heute: Die Kinder hier im Haus werden auch nicht dazu angehalten, dass es sauber bleibt. Da kommen fremde Kinder mit rein, da hopsen sie bis der Fahrstuhl kaputt ist oder Cola-Flaschen, Büchsen werden geöffnet und es wird rumgespritzt und so. Der Hof ist immer dreckig."
"Hängt doch nicht mit Einheit zusammen, dass die Mauer gefallen ist. Oder ist das seit dem so?"
"Das ist seitdem so. Ich kann auch die Leute verstehen da drüben, die auch Kinder haben. Die haben keine Spielplätze. Die kommen jetzt. Dann sitzen sie und … Ich weiß nicht, ob das die Frauen nicht sehen, meine Kinder dürften nicht mit Eimer voll Sand auf die Gehwege auskippen oder so."
Karow: "Im Ernst, haben sie uns regelrecht verboten: Die Ostkinder kommen hier nicht rauf."
"Mit welcher Begründung?"
"Na weil die Ostkinder alles schmutzig und dreckig und alles hinschmeißen da. Und das stimmt nicht! Uns klauen sie hier überall die Spielplätze. Hier oben in der Rheinsberger, da an der Ecke, da bauen sie jetzt schon wieder ein Haus hin, haben sie erst einen schönen, wunderbaren Spielplatz gemacht. Na der ist weg. Wo sollen die Kinder auch spielen gehen, die hier im Grenzteil wohnen, im ehemaligen Grenzstreifen. Wo sollen sie spielen?"
Und überhaupt dieser Tage. 2008.
Frau Malchow: "Wir haben hier eine schöne Wohnung, warum sollen wir rüberziehen? Und vor allen Dingen: Die Mieten steigen da ja stärker also bei uns. Denn wenn man überlegt: Prenzlauer Berg, die Menschen werden dort entmietet; es werden alles Eigentumswohnungen, es ziehen viele junge Familien hin, das ist ein ganz anderes Klientel. Das sind alles junge Leute, junge Leute, die auch gut verdienen, die sich im Prenzlauer Berg und auch in Mitte die Wohnungen leisten können."
Hardenberg: "Das sind halt eigentlich alles so Leute wie wir, die so zwischen 30 und 40 sind, die hierher gezogen sind, viele im Medien- oder Werbegeschäft tätig, mit kleinen Kindern."
Frau Malchow: "Fragen Sie mal ältere Leute, die haben kaum noch Möglichkeiten drüben zu wohnen; wenn saniert ist, müssen sie raus. Das Geld haben die nicht."
Hardenberg: "Bei uns im Haus wohnt noch einer, der allerdings zu Ostzeiten noch in Weißensee gewohnt hat, aber dann, ich glaube 1990 oder so, hierher gezogen ist. Also für den sind wir so etwas wie Aliens vom anderen Stern, weil der ein ganz anderes Leben hat. Und das würde ihm, glaube ich, nie in den Sinn kommen, sich morgens auf dem Weg zur Arbeit - oder wo immer er jetzt hingeht - sich einen Latte Macchiato zum Mitnehmen zu kaufen."
Aus Ost-West wurde Nord-Süd. Und, als hätte die politische Geographie nicht schon genug bewegt, wo sich früher der Ostberliner nach dem Westen sehnte, haben sich jetzt die Aufsteiger niedergelassen, Ärzte und Anwälte in Gründzeitbauten eingerichtet. Auf der anderen Seite der Bernauer Straße, auf der Seite vom ehemaligen Schaufenster Westberlin, leben die Geringverdiener, gehen Migranten in Sozialwohnungen aus und ein.
Einiges anders, aber nicht vieles. 1994.
Kaminski: "Balkon können wir überhaupt nicht mehr benutzten. Weiß auch nicht, warum die hier nicht mal was machen, in der Bernauer Straße?! Überall wird gebaut, im Osten, alles, bei uns hier nicht, gar nichts."
Karow: "Man geht jetzt sehr gerne nach Hause, bin früher nicht gerne nach Hause gegangen."
"Warum?"
"Nee, weil ich dann wieder gedacht habe: Guckst dann wieder aus dem Badfenster, siehst ja dann wieder Mauer, weil man nicht auf der andere Straßenseite gehen konnte."
Einiges anders, aber nicht vieles. 2008.
Herr Malchow: "Die ganzen ausländischen Mitbewohner, gegen die wir nix haben, aber die ja im großen Block sich hier angesiedelt haben, die bestimmen jetzt auch das Bild. Wir haben auch nichts gegen die Mitbewohner, aber man sieht es in den Schulklassen - das haut eben nicht hin. Viele Eltern schicken ihre Kinder jetzt rüber auf die andere Straßenseite."
Christiane Hardenberg: "Das finde ich also das Absurde, wenn wir jetzt hier auf dem Balkon sitzen, der südlichen Seite, die ja vor zwanzig Jahren irgendwie die benachteiligte Seite war, und jetzt guckt man da rüber und denkt sich, jetzt sitzt man eigentlich auf der Sonnenseite und möchte nicht mit denen tauschen, die auf der anderen Seite wohnen."
Der Alltag kennt viele Gesichter. So viele Gesichter, so viele Geschichten. Jeder ist sein eigenes Land. Hinter manchen Fenstern zeigt sich ein Gesicht. Manche Fenster werden geöffnet.
Auf der anderen Seite. Damals und heute. Aus- und Ansichten am ehemaligen Grenzstreifen.
Auf der anderen Seite. 1994.
Kaminski: "Mein Name ist Oma Kaminski, bin 1981 aus der ehemaligen DDR hier übergesiedelt zwecks Heirat, bin 61 Jahre und seit dem lebe ich hier. Bernauer Straße 80."
Karow: "Ja, ich bin die Christiane Karow, bin 33 Jahre alt, wohne hier in der Brunnenstraße 47 mit Blick auf die Bernauer und den ehemaligen Grenzstreifen."
"Haben Sie sich in Gedanken mal drüben spazieren gehen sehen als die Mauer noch da war?"
"Ja, oft."
"Und was haben sie gemacht?"
"Hab mir die Geschäfte drüben angeguckt, wollen wir mal so sagen."
"Haben sich eingekauft in Gedanken?"
"Ja. In Gedanken, überhaupt für Weihnachten. In Gedanken war ich schon drüben gewesen. Zu Weihnachten. Aber ansonsten war man doch im Osten."
"Alleine oder mit Mann und Kindern da drüben gesehen?"
"Nee, mit die ganze Familien, nie alleine."
"Im Traum nur die Schaufenster angeschaut oder auch mit Leuten geredet?"
"Nee, da habe ich mir nur die Schaufenster angeguckt, und wenn ich geredet habe, dann nur mit meinem Mann."
Auf der anderen Seite. 2008.
Hardenberg: "Ich heiße Christiane Hardenberg, ich wohne hier in der Wolliner Straße, direkt an der Ecke Bernauer Straße, mit meinem Mann und meinen zwei kleinen Söhnen. Ich wohne seit zwölf Jahren in Berlin und seit einem Jahr hier an der Bernauer Straße."
Ursula Malchow: "Also ich bin 73 Jahre alt, heiße Ursula Malchow und wohne jetze Usedomer Straße 28a."
Günter Malchow: "Ich bin Günter Malchow, auch 73 Jahre alt, und wohne auch bei der Frau."
Frau Malchow: "Wir haben früher hier gewohnt, ein Haus daneben."
1994. Leere Fläche.
Karow: "Hier vorne war die Mauer, dann kam eine ganze Weile gar nichts, und denn war hier Grün. Wie gesagt, der Mittelstreifen, der jetzt betoniert ist, da sind die Grenzer so lang gelaufen."
Kaminski: "Denn von drüben, wo jetzt der Strich ist, da war die Mauer. Und ungefähr fünf Meter rein stand der Turm, der stand ziemlich am Haus hier dran, an dem vorderen."
2008. Gras drüber gewachsen.
Hardenberg: "Wir wohnen hier direkt am früheren Patrouillenweg, das sind zwischen unserem Haus und dem Weg vielleicht noch so fünfzehn Meter oder zehn Meter Grünstreifen, die sind auch denkmalgeschützt und dürfen nicht bebaut werden. Hinter dem Patrouillenweg war dann der damalige Todesstreifen. Das sind dann vielleicht 25 Meter, die jetzt auch grün sind, und am Ende, dort wo früher die Mauer war, sind jetzt Bäume gepflanzt, die die Sicht auf den Wedding jetzt gerade verdecken, weil alles grün ist."
Frau Malchow: "Bernauer Straße 118 - von hier haben wir da rüber geguckt. Und wir haben drei Kinder, die haben das hier an der Grenze miterlebt. Die saßen auf dem Fensterbrett."
Die Bernauer Straße. Früher da Ostberlin und dort Westberlin. Heute da Prenzlauer Berg und dort Wedding. Bis zum Grenzfall hatte man nichts miteinander zu schaffen, heute findet man eher selten zueinander. Der Straßenverlauf markiert noch immer unterschiedliche Lebensverhältnisse.
Damals lebte man auf der anderen Seite der Mauer, heute auf der anderen Straßenseite. Zu DDR-Zeiten wohnten auf der einen Seite Ostberliner, auf der anderen Westberliner. Heute teilt sich die Straße in Geringverdiener und Migranten da, in Aufsteiger und Besserverdienende dort.
Neue Aus- und Ansichten. 1994.
Karow: "Na ja, manchmal denke ich: Mensch, hat sich das doch alles verändert. Was hier vorher stand, und jetze. Vorher hat man die Mauer gesehen, jetzt sieht man gar nichts. Jetze staunt man, hört andauernd die Feuerwehr. Oft kracht es hier vorne, Autos … Das war hier vorher alles nicht. Und wenn es scheppert, dann rennt man automatisch zum Fenster, um mitzukriegen, was schon wieder passiert ist."
Kaminiski: "Diese Straße war ganz ruhig, ganz ruhig. Ich habe auf dem Balkon gesessen, Frühstück gemacht, Kaffee getrunken, oder im Liegestuhl. Campingstühle habe ich im Keller. Kann man ja nicht mehr aufbauen hier. Ich habe sogar einen Fernseher hier draußen gehabt und konnte fernsehen. Ist alles vorbei. Alles vorbei. Den Balkon kann ich gar nicht mehr nutzen. Ist total aus."
Veränderte Aus- und Ansichten. 2008.
Herr Malchow: "Wir sind ständig unterwegs, wir gehen von hier zum Alexanderplatz, wir machen unsere Spaziergänge, und freuen uns, wie schön das jetzt alles geworden ist, dass die grauen alten Häuser saniert worden sind und das man davon eigentlich nichts mehr erkennt, wie es eigentlich mal war."
Hardenberg: "Ich glaube, dass es sich in den letzten zwei, drei Jahren drastisch geändert hat, das hat zumindest eine Freundin erzählt, die hier schon länger wohnt. Und sie meinte, vor zwei Jahren sei es lange noch nicht so schick gewesen wie es jetzt ist."
Familie Malchow: "Manchmal sagt man, das Geld fließt in die andere Seite und wir müssen mit den Schlaglöchern leben. Das gibt’s auch."
"Finden Sie das auch?"
"Das ist so ein Gerede. Wir sind dankbar, dass es so gekommen ist; drüben wird es schön, man läuft gerne lang, gefällt uns drüben."
Malchow: "Die Strelitzer Straße, dort ist auch viel gefilmt worden, die hat man jetzt total saniert die Häuser, dort, wo die Tunnelflucht war, der große Tunnel, der 57er von der Bernauer 97 zur Strelitzer 55 - dieses alte verkommen Haus mit Toilette auf dem Hof ist jetzt ein Superneubau, Eigentumswohnungen. Wenn Sie jetzt jemandem sagen, da war der Ausstieg vom 57er Tunnel, da … Zum Glück ist ne Tafel dran, die daran erinnert ansonsten … also so verschwindet das."
Brachland der Beziehungen – das war und ist die Bernauer Straße. Früher konnte man nicht zueinander kommen, jetzt geht man sich aus dem Weg. Die Zeit der Sehnsüchte und des Mitleids ist vorbei, Sozialwohnungen und Gründerzeitkomfort markieren nun die Befindlichkeit.
Jeder ist sein eigenes Land. Die Bürgersteige werden zu zwei Landesteilen. Gelegentlicher Grenzübertritt nicht ausgeschlossen. Der Mauerpark gewährt da eine gute Aus- und Einsicht.
Vom Wechsel der Straßenseite. 1994.
Frau Karow, Ost. Frau Kaminski, West.
Karow: "Wir gehen auch sehr selten noch im Ostteil einkaufen."
"Warum?"
"Wir machen Preisvergleiche. Da ist es billiger, bei Aldi, bei Penny ist billiger. Und wenn man nicht viel Geld hat, dann muss man rumlaufen."
Kaminiski: "Ja … ich habe kein Verlangen mehr, da nach Drüben zu gehen, also …"
"Sind nur 50 Meter bis nach drüben, Ostberlin."
"Ja, ist mir egal, bleib hier und … kein Verlangen nach Drüben. Sage immer noch Drüben, aber ist …"
Kaminski: "Ostberlin, ja. Na ja, sage immer noch Drüben. Mag da nicht mehr da rüber. Ich habe zwar in Leipzig noch meinen Schwager und meine Schwägerin von meinem geschiedenen Mann, die kommen mich öfter besuchen hier und ich soll sie auch mal besuchen, aber … keine Lust … keine … ich weiß nicht."
Karow: "Ich sage auch oft zu meinem Mann: Ich gehe nach dem Westen. Dann sagt der: Wo gehst du hin? Dann sage ich: Na nach dem Westen. Das ist schwierig, das bei uns raus zu kriegen."
2008. Die Sehnsucht hat die Seiten gewechselt.
Hardenberg: "Und ich habe auch immer so das Gefühl, dass es wie so etwas wie eine unsichtbare Mauer gibt, weil es sich doch sehr wenig mischt. Die Leute aus dem Wedding kommen nicht zum Arkonaplatz und wir gehen auch nicht in den Wedding zum Spielplatz."
Frau Malchow: "Die Bernauer Straße ist ab 20 Uhr tot. Dann sitzen die Leute vorm Fernseher, da treffen Sie hier kaum einen Menschen in der Bernauer Straße."
Hardenberg: "Richtig viel Verkehr ist eigentlich nur am Wochenende, wenn Flohmarkt ist und die Leute vom Mauer-Flohmarkt zum Arkonaplatz-Flohmarkt gehen. Und morgens sind hier ab und an ein paar Schüler, die ihre Pause hier auf der ehemaligen Ostseite verbringen."
Der Blick nach drüben – bis zum Mauerfall verlief er quer über die Straße. Von Ost nach West, von West nach Ost. Seit dem Mauerfall geht der Blick von Mitte nach Wedding, vom Wedding nach Mitte.
Der Ost-West-Gegensatz hat sich auf ein Nord-Süd-Problem eingependelt. Aus dem politischen Gegensatz wurde ein sozialer.
Und überhaupt seit dem Mauerfall. 1994.
Kaminiski: "Und das Haus war immer total sauber, das war das … also wirklich. Heute: Die Kinder hier im Haus werden auch nicht dazu angehalten, dass es sauber bleibt. Da kommen fremde Kinder mit rein, da hopsen sie bis der Fahrstuhl kaputt ist oder Cola-Flaschen, Büchsen werden geöffnet und es wird rumgespritzt und so. Der Hof ist immer dreckig."
"Hängt doch nicht mit Einheit zusammen, dass die Mauer gefallen ist. Oder ist das seit dem so?"
"Das ist seitdem so. Ich kann auch die Leute verstehen da drüben, die auch Kinder haben. Die haben keine Spielplätze. Die kommen jetzt. Dann sitzen sie und … Ich weiß nicht, ob das die Frauen nicht sehen, meine Kinder dürften nicht mit Eimer voll Sand auf die Gehwege auskippen oder so."
Karow: "Im Ernst, haben sie uns regelrecht verboten: Die Ostkinder kommen hier nicht rauf."
"Mit welcher Begründung?"
"Na weil die Ostkinder alles schmutzig und dreckig und alles hinschmeißen da. Und das stimmt nicht! Uns klauen sie hier überall die Spielplätze. Hier oben in der Rheinsberger, da an der Ecke, da bauen sie jetzt schon wieder ein Haus hin, haben sie erst einen schönen, wunderbaren Spielplatz gemacht. Na der ist weg. Wo sollen die Kinder auch spielen gehen, die hier im Grenzteil wohnen, im ehemaligen Grenzstreifen. Wo sollen sie spielen?"
Und überhaupt dieser Tage. 2008.
Frau Malchow: "Wir haben hier eine schöne Wohnung, warum sollen wir rüberziehen? Und vor allen Dingen: Die Mieten steigen da ja stärker also bei uns. Denn wenn man überlegt: Prenzlauer Berg, die Menschen werden dort entmietet; es werden alles Eigentumswohnungen, es ziehen viele junge Familien hin, das ist ein ganz anderes Klientel. Das sind alles junge Leute, junge Leute, die auch gut verdienen, die sich im Prenzlauer Berg und auch in Mitte die Wohnungen leisten können."
Hardenberg: "Das sind halt eigentlich alles so Leute wie wir, die so zwischen 30 und 40 sind, die hierher gezogen sind, viele im Medien- oder Werbegeschäft tätig, mit kleinen Kindern."
Frau Malchow: "Fragen Sie mal ältere Leute, die haben kaum noch Möglichkeiten drüben zu wohnen; wenn saniert ist, müssen sie raus. Das Geld haben die nicht."
Hardenberg: "Bei uns im Haus wohnt noch einer, der allerdings zu Ostzeiten noch in Weißensee gewohnt hat, aber dann, ich glaube 1990 oder so, hierher gezogen ist. Also für den sind wir so etwas wie Aliens vom anderen Stern, weil der ein ganz anderes Leben hat. Und das würde ihm, glaube ich, nie in den Sinn kommen, sich morgens auf dem Weg zur Arbeit - oder wo immer er jetzt hingeht - sich einen Latte Macchiato zum Mitnehmen zu kaufen."
Aus Ost-West wurde Nord-Süd. Und, als hätte die politische Geographie nicht schon genug bewegt, wo sich früher der Ostberliner nach dem Westen sehnte, haben sich jetzt die Aufsteiger niedergelassen, Ärzte und Anwälte in Gründzeitbauten eingerichtet. Auf der anderen Seite der Bernauer Straße, auf der Seite vom ehemaligen Schaufenster Westberlin, leben die Geringverdiener, gehen Migranten in Sozialwohnungen aus und ein.
Einiges anders, aber nicht vieles. 1994.
Kaminski: "Balkon können wir überhaupt nicht mehr benutzten. Weiß auch nicht, warum die hier nicht mal was machen, in der Bernauer Straße?! Überall wird gebaut, im Osten, alles, bei uns hier nicht, gar nichts."
Karow: "Man geht jetzt sehr gerne nach Hause, bin früher nicht gerne nach Hause gegangen."
"Warum?"
"Nee, weil ich dann wieder gedacht habe: Guckst dann wieder aus dem Badfenster, siehst ja dann wieder Mauer, weil man nicht auf der andere Straßenseite gehen konnte."
Einiges anders, aber nicht vieles. 2008.
Herr Malchow: "Die ganzen ausländischen Mitbewohner, gegen die wir nix haben, aber die ja im großen Block sich hier angesiedelt haben, die bestimmen jetzt auch das Bild. Wir haben auch nichts gegen die Mitbewohner, aber man sieht es in den Schulklassen - das haut eben nicht hin. Viele Eltern schicken ihre Kinder jetzt rüber auf die andere Straßenseite."
Christiane Hardenberg: "Das finde ich also das Absurde, wenn wir jetzt hier auf dem Balkon sitzen, der südlichen Seite, die ja vor zwanzig Jahren irgendwie die benachteiligte Seite war, und jetzt guckt man da rüber und denkt sich, jetzt sitzt man eigentlich auf der Sonnenseite und möchte nicht mit denen tauschen, die auf der anderen Seite wohnen."