Auf den Spuren marokkanischer Juden

Von Robert B. Fishman · 03.05.2013
In Marokko leben Juden und Muslime schon lange Hand in Hand. Auch die 2011 verabschiedete Verfassung verspricht allen Bürgern gleiche Rechte. Der König wird als Oberhaupt aller Gläubigen definiert – auch der Juden. Die allerdings sind fast alle weg: ausgewandert nach Israel, Nordamerika oder Europa. Viele kommen allerdings immer wieder.
Shabbat-Abend zu Hause bei einem jüdischen Rechtsanwalt in Fes, dem Einzigen, wie er selbst sagt. Didier Tobaly hat Freunde eingeladen: Einen Jerusalemer Rabbi und ein paar muslimische Marokkaner sitzen entspannt am mit Salaten, Hühnerfleisch und vielen anderen Leckereien reich gedeckten Tisch. Muslime, Juden, keiner fragt nach dem rechten Glauben. Tobaly bewirtet seine Gäste im traditionellen marokkanischen Djellabah, einem weiten Gewand.

Einige seiner Gäste trinken Wasser oder Limonade, wie es ihnen ihr Gesetz gebietet. Dabei stört es sie nicht, dass ihre Tischnachbarn anderen Regeln folgen. Am Kopfende spült der rauschebärtige Rabbiner aus Jerusalem fast jeden Bissen mit einem kräftigen Schluck Whiskey hinunter. Er stammt aus Marokko und kommt immer wieder. Seine Wurzeln, sagt er, könne man nicht verlassen.

"An meinem Tisch kommen wir alle zusammen, meine muslimischen Freunde, meine jüdischen, wir segnen das Brot und den Wein gemeinsam und essen gemütlich zusammen. Meine besten Freunde sind Muslime."

Erzählt Anwalt Tobaly. Am örtlichen Landgericht empfängt ihn der Gerichtsdiener ebenso wie ein Kollege mit Wangenkuss. Durch die offenen Bürotüren grüßen Staatsanwalt und Richter freundlich.

"Wir Juden sind hier sehr respektiert und gut integriert. Wir haben alle möglichen Berufe. Ich bin Anwalt. Die meisten meiner Mandanten sind Araber."

"Alle wüssten, dass er Jude sei, versichert Tobaly und zeigt auf die Mesusot an jeder Tür in seiner Kanzlei. Das sind die kleinen Behältnisse am Rahmen jeder Tür, die das Schma Israel, das jüdische Glaubensbekenntnis enthalten. Seine beiden Büroangestellten? - Musliminnen. Zwei junge Frauen im traditionellen marokkanischen Kaftan, das Haar unter hellblauen, akkurat sitzenden Kopftüchern verborgen lächeln freundlich nickend.

"Zivil- und strafrechtlich gesehen sind wir Marokkaner wie alle anderen auch. Über Personenstands- und Erbrechtsfragen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft entscheidet ein Rabbiner nach jüdischem Recht. Wir haben einen eigenes jüdisch-marokkanisches Leben."

In der größten Stadt des Landes, in Casablanca, urteilt ein Rabbiner im Dienste des Königs nach jüdischem Recht über Ehe- und Erbangelegenheiten zwischen Jüdinnen und Juden.

"Wir haben nicht die Probleme, von denen die Medien immer berichten wie in Palästina und so. Marokko ist eine Ausnahme in der arabischen Welt. Vielleicht verdanken wir dies der Schönheit dieses Landes und der Güte seines Volkes. Und natürlich auch der Elite Marokkos und seiner Majestät dem König, seiner Dynastie, unter deren Schutz die jüdische Gemeinde immer gestanden hat."

Marokkos Juden stehen unter dem Schutz des Königs und der Verfassung:

"Auch die neue marokkanische Verfassung erkennt das Judentum als Teil der Wurzeln dieses Landes an. Das finden Sie in keinem anderen Land der Welt, weder einem arabischen noch in Deutschland, Frankreich oder irgendwo sonst."

Tobalys Kanzlei liegt in der Neustadt von Fes, einem von den Franzosen Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Viertel mit schnurgeraden breiten von Bäumen gesäumten Boulevards. In seinem lichtdurchfluteten Büro stapeln sich auf seinem Schreibtisch die Akten muslimischer Mandanaten. Juden gibt kaum noch in Fes. Rund 100 seien es noch, die fest hier wohnen, schätzt Tobaly. In ganz Marokko sind es noch etwa 5000. Genau weiß es niemand.

"Die Muslime begegnen uns mit großem Respekt. Dazu muss man auch sagen, dass die jüdische Bevölkerung hier kaum straffällig ist. Die meisten Juden sind sozial engagiert. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir eine Minderheit sind. Angehörigen von Minderheiten versuchen immer, besser zu sein als die Mehrheit."

Ein Bild, das Dr. Armand Guigui, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Fes und im Hauptberuf Gynäkologe, bestätigt.

"Schon Maimonides hat hier in Fes über das harmonische Zusammenleben von Juden und Muslimen geschrieben. Auch jetzt unter der islamisch orientierten Regierungspartei PJD herrscht hier in Marokko dieser Geist des guten Zusammenlebens. Letzte Woche erst hat der König, Gott preise ihn, seinen Premierminister zur Einweihung der restaurierten Synagoge hier her nach Fes geschickt. In der Rede des Königs hat er zum x-ten Mal die Bedeutung des Judentums für die Geschichte und die Gegenwart Marokkos betont."

Zur Wiedereröffnung der restaurierten Synagoge, einer von noch vier in Fes, kam auch Bundestagspräsident Norbert Lammert. Deutschland hatte die Wiederherstellung mit einer großen Spende unterstützt.

Guigui sitzt an seinem großen Schreibtisch in seiner Praxis. An diesem Freitag morgen ist wenig los. Am Muslimen heiligen Wochentag geht kaum jemand zum Arzt. Dennoch sitzt eine traditionell in Kaftan und Kopftuch gekleidete muslimische Patientin im Wartezimmer. Alle liebten Guigui, sagt sie. Er sei ein so guter Mensch und ein exzellenter Arzt.

Doch er wirkt etwas ungeduldig. Er scheint es leid zu sein, Ausländern immer wieder versichern zu müssen, wie gut die Juden in Marokko lebten. Sorgen um die Zukunft mache er sich wirklich nicht.

"Ich sehe da keine Gefahr. Die marokkanische Mentalität ist eher passiv. Die Leute in den Cafés, jüngere oder auch ältere, diskutieren über Sport oder Musik aber nur selten über Politik. Dem arabischen Frühling ist in vielen Ländern inzwischen die Puste ausgegangen. Hier in Marokko gab es überhaupt keinen Arabischen Frühling."

Den Arabischen Frühling hat in Marokko der König übernommen. Mit einer neuen Verfassung, die er dem Volk 2011 zur Abstimmung vorlegte, stellte sich Mohammed der VI. selbst an die Spitze der Reformbemühungen. Mit Erfolg. Unzufrieden sind die Leute wenn überhaupt mit der Regierung, aber nicht mit dem König.

In der alten Königsstadt Fes, die selbst in Marokko als besonders konservativ und behäbig gilt, geht alles seinen gewohnten Gang. Jenseits der Altstadt, zu Füßen des Königspalastes, liegt das im 15. Jahrhundert erbaute jüdische Viertel, die Mellah. Anders als im noch älteren islamischen Teil der Medina tragen viele Fassaden hier reich verzierte hölzerne Fenster und Erker.

Nach muslimischer Tradition sollen Häuser nach außen möglichst schlicht erscheinen. Zum Schutz der Frauen vor fremden Männerblicken und wohl auch aus Sicherheitsgründen haben die Häuser keine Fenster zur Straße. Für Juden galten diese Bauvorschriften nicht. Ihre ehemaligen Häuser erkennt man an einer kleinen Aussparung im hölzernen Türrahmen.

"Hier sehen Sie an jeder Tür, wie Juden und Muslime zusammen gelebt haben: Hier die Hand der Fatima und da im Türrahmen waren die Mesusot angebracht."

Seit 30 Jahren bewacht der Mann mit der blauen Baseballkappe den jüdischen Friedhof von Fes. In der Tasche seines abgewetzten grau karierten Mantels trägt er stets eine Flasche Pastis mit sich herum. Jeden Stopp auf seiner Tour begießt er mit einem kräftigen Schluck. So wird er unterwegs immer redseliger und sprachgewandter.

"Gott sei dank, kennen mich hier alle, auf Englisch, auf Arabisch, wie Sie möchten. Das hier war das jüdische Viertel. Hier lebten einst 1400 jüdische Familien. Es gab 38 Synagogen, jetzt sind alle ausgewandert, nach Israel, nach Frankreich, Amerika, Kanada. Aber hier in Marokko gibt es für die Juden keine Probleme."

Gegen ein Extra Bakschisch führt er Besucher auch durch die Mellah und wieder zurück auf den Friedhof.

Am Rande der Mellah breitet sich den grünen Hügel hinunter unter einer riesigen Palme und Orangenbäumen ein Meer aus weißen Steinen aus: der jüdische Friedhof.

"Wir haben hier auf dem Friedhof 12.000 Gräber, darunter 600 Namenlose. In diesen sind die Opfer der Pestepedemie von 1932 bestattet."

Viele der Gräber verbergen dramatische Geschichten wie diese:

"In diesem Grab hier wurde eine junge Frau beerdigt. Geboren ist sie 1817. Später verliebte sie sich in einen Prinzen, der sie sogar heiraten wollte. Weil sie dafür nicht zum Islam übertreten wollte, ließ der Prinz sie 1834 töten."

Nach der Gründung Israels begann die Auswanderung der meisten marokkanischen Juden.

"Nach dem Sechs-Tage Krieg sind die meisten Juden ausgewandert, aber jeder Jude ist irgendwie auch mit seiner Seele hier geblieben. Wir haben immer gut zusammen gelebt."

Versteckt im hintersten Winkel des Friedhofsgeländes steht eine kleine leuchtend weiß verputzte alte Synagoge mit hellblauen Fensterrahmen.

"Hier war eine Synagoge. Früher haben 24.000 Juden in Fes gelebt. Jetzt sind es nur noch 60. Alle anderen sind weg. Die Mütter aus der jüdischen Gemeinde haben 1928 hier eine Schule eingerichtet. Als nach der großen Auswanderung der Juden die Synagoge leer zurück geblieben ist bin ich auf die Idee gekommen, hier dieses Museum einzurichten. Es ist mein Werk, mit dem ich 1988 angefangen habe."

Erzählt Edmond Gabaimimon. In der winzigen alten Synagoge sammelt der alte Mann mit dem strahlenden Lächeln alle Spuren des einst blühenden jüdischen Lebens von Fes. Bücher, Lampen, Wandteppiche, ein leuchtend roter Traubaldachin, alte Fotos ausgewanderter Familien, Schalen, Vasen. Jeder Quadratzentimeter steht voller Erinnerungen an eine untergegangene Welt.

Stolz zeigt er Zeitungsartikel, die sein Museum vorstellen.

"Wenn, Gott sei es gedankt, alles gut geht, kommen weiterhin viele Besucher. Englische, französische, amerikanische Zeitungen haben über mich berichtet. In dem Buch hier sieht man uns im Louvre in Paris, wie ich das Museum zeige und erkläre."

Das Geld kommt von Besuchern, die Spenden in den kleinen Schlitz neben dem Eingang zu dieser Spurensammlung werfen.

"Die ganzen Stücke, die Sie hier sehen, haben mir die Leute hinterlassen, die ausgewandert sind. Was sie verkauft haben, habe ich bezahlt, die ganzen Uhren hier zum Beispiel."

Edmond pflegt sein kleines Museum solange er noch kann. Auswandern will er nicht, weder nach Israel noch irgendwo anders hin.