Auf den Spuren der Silberbecher

Von Otto Langels · 11.11.2011
Fünf Silberbecher hat eine Berliner Milchhändlerin jahrzehntelang für ihren jüdischen Nachbarn aufbewahrt - einen Eierhändler, dessen Kinder in den 30er-Jahren aus Deutschland flohen. Das Museum Neukölln stellt die Kiddusch-Becher aus und hat die Spuren der Familie nachverfolgt.
"Wir sind jetzt hier in der Dauerausstellung im Museum Neukölln, wo die 99 Objekte zur Geschichte des Bezirks ausgestellt sind","

erklärt die Kulturwissenschaftlerin Karolin Steinke. Seit Mai vergangenen Jahres präsentiert eine Dauerausstellung die Geschichte des Berliner Stadtteils Neukölln an Hand von 99 Objekten. Darunter auch fünf kleine unauffällige Silberbecher. Mit Hilfe eines Monitors erfährt man mehr über die Objekte.

""Es gibt hier einen beweglichen touch screen, den ziehen wir hier an der Rundvitrine vor die Becher, und ich tippe jetzt auf ein Bild von den Bechern, was auf diesem touch screen erscheint, und da kann ich mich dann durch ganz, ganz viele Texte lesen und Bilder und kann dann auch Tondokumente aufrufen von dem Kidduschgesang."

Tatsächlich handelt es sich um Kidduschbecher, mit deren Hilfe am Abend des Sabbat der Segen gesprochen wird. 1988 hatte die Neuköllner Milchhändlerin Margarethe Brand dem Museum die Becher übergeben, so Karolin Steinke.

"Sie hat diese Becher dem Museum übergeben mit den Worten, das hier können Sie haben, ich weiß nicht, wozu das mal gewesen ist. Für sie war das wie Schmuck. Edelmetall."

Sie habe die Becher für ihren jüdischen Nachbarn Simon Adler aufbewahrt, hatte Margarethe Brand damals erzählt. Und da sie wusste, dass einige seiner Kinder emigrieren konnten, hatte sie die Becher jahrzehntelang bei sich aufbewahrt. Was aber war die Geschichte der Familie, was war ihnen geschehen? Drei Jahre lang forschte die Kulturwissenschaftlerin in Archiven und reiste nach Israel auf den Spuren des Simon Adler und seiner Frau Rosa.

Gefunden hat sie eine Biographie, die das jüdische Leben in Deutschland in all seinen Facetten mit Immigration, Integration, wirtschaftlichem Erfolg, Ausgrenzung und dramatischer Verfolgung wie in einem Brennglas vereint.

1905 kam Simon Adler als junger Mann aus Galizien - heute Ukraine - nach Berlin, ließ sich zum Eierhändler ausbilden und machte sich dann selbstständig.

"1909 hat er seinen Laden in der Friedelstrasse 47 in Neukölln mit dem Namen "Eier en gros und en détail", also er war Einzelhändler und Großhändler und hatte in der Friedelstrasse ein Haus, das kann man heute noch besichtigen, ein Eckhaus mit runden Fenstern, also fast schon wie in Eierform."

Mit Eiern zu handeln, das war in den boomenden Gründerjahren Berlins um 1900 ein lohnendes Geschäft, und besonders die aus Galizien eingewanderten Juden sahen darin ihre wirtschaftliche Chance.

"Der Erfolg der galizischen Eierhändler lag darin, dass sie die Eier aus ihrer Heimat importiert haben, aus Galizien mit der Eisenbahn. Sie konnten sie günstig dort einkaufen, dort gab es große Geflügelzuchten, und sie haben es sogar geschafft, sie billiger anzubieten als deutsche Eierhändler."

Als Simon Adler ins Geschäft einstieg, wurden jährlich etwa 40.000 Tonnen Eier aus Galizien nach Deutschland importiert. In Sonderzügen, im Winter geheizt, im Sommer gekühlt, kam die Ware nach Deutschland. Der Eierhandel war zu 70 Prozent in jüdischer Hand, was sich auch in der Alltagssprache niederschlug, betont Karolin Steinke.

"So in der Erinnerung der Neuköllner, die sagen, ich bin auch immer beim Eierjuden meine Eier kaufen gegangen, weil die einfach billiger waren als anderswo."

Der Handel florierte. Simon Adler konnte sich bald ein Haus kaufen. Allzu streng nahm man es mit der Religion nicht. Auch am Sabbat wurden Eier verkauft. Drei Kinder kamen zur Welt: Erich, Heinrich und Bernhard. Namen, die auf Assimilation hindeuten. Doch all das nützte nichts, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Bereits 1933 wurde der Import von Eiern weitgehend verboten. Und gereimt hieß es in der Nazipropaganda: "Jeder schaffe, der es kann, sich jetzt Hahn und Hühner an, die wir dann mit Liebe pflegen, dass sie deutsche Eier legen". 1936 waren dann fast alle jüdischen Eierhändler aus dem Markt gedrängt. In den Naziblättern jubelte man über "arische Ostereier".

Die beiden älteren Söhne emigrierten frühzeitig nach Palästina. Die Eltern hatten 1936 auch eine Fahrkarte, die sie aber nicht nutzten. Vermutlich wegen ihres jüngsten Sohnes, den sie als Psychiatriepatienten nicht hätten mitnehmen können. Immer mehr gerieten sie in die Ausgrenzungs- und Vernichtungsmühlen der Nazis. Längst hatten sie ihr Haus verkaufen müssen, wohnten mal hier, mal da. Als die letzten verbliebenen Juden Berlins dann im Februar 1943 in der so genannten Fabrikaktion verhaftet werden sollten, wurde Simon Adler offenbar von Nachbarn gewarnt. Noch am gleichen Tag gingen sie in den Untergrund, wo sie ein Jahr unentdeckt leben konnten. Am 28. April 1944 wurden sie von jüdischen Spitzeln entdeckt, an die Gestapo ausgeliefert und bald darauf nach Auschwitz deportiert. Simon Adler arbeitete dort offenbar noch ein paar Wochen, der Weg seiner Frau führte sofort ins Gas.

Während der Recherche suchte Karolin Steinke lange nach Familienangehörigen in Israel. Ein Aufruf in einer Zeitung für deutschsprachige Juden führte schließlich zum Erfolg.

"Daraufhin hat sich nach einigen Wochen eine alte Dame bei mir gemeldet, ganz aufgeregt, Lotte Atar, und hat gesagt, Simon Adler war doch mein Lieblingsonkel, und dann hat sie angefangen zu erzählen."

Auf Grund der Recherche wagten einige der in Israel lebenden Familienangehörigen, die sich jahrzehntelang geweigert hatten, den Schritt, Deutschland noch einmal zu betreten. Und auch Karolin Steinke hat durch die Kidduschbecher jetzt einen ganz persönlichen Bezug nach Israel gefunden.

"Nämlich diese alte Dame, Lotte Atar, die Nichte von Simon Adler, mit der telefoniere ich einmal in der Woche und schicke ihr regelmäßig ihre Kreuzworträtselzeitungen. Sie hat mich fast als ihre Enkelin adoptiert. Also ich hab Freunde gefunden darüber in Israel."

Museum Neukölln