Auf dem Weg zum Tod

08.11.2008
Ende 2005 las der Journalist Wolfgang Prosinger in der "Zeit" einen Artikel von Bartholomäus Grill, der seinen Bruder auf der Reise zum Sterben bei Dignitas in der Schweiz begleitet hatte. Dieser Artikel berührte Prosinger so sehr, dass er einen todkranken Menschen suchte, der ebenfalls einen solchen Entschluss getroffen hat, und sein berührendes Buch "Tanner geht" schrieb.
"Tanner nimmt sich Zeit. Danach geht er in den anderen Raum, da stehen ein Pflegebett, ein Sessel, Stühle, ein Tisch. Die Freunde folgen ihm. Tanner setzt sich in den Sessel, das Bett will er nicht. Er wartet jetzt nur noch kurz. Dann nimmt er das Glas (…). 15 Gramm Natrium-Pentobarbital, aufgelöst in 60 Milliliter Wasser. Tanner trinkt das Glas in einem schnellen Zug leer. Es dauert zwei Minuten, dann ist er eingeschlafen. Um 13.20 Uhr ist Ulrich Tanner tot. Er wurde 51 Jahre alt."

Tanner starb in Zürich, seiner Heimatstadt. Aber er wohnte schon seit vielen Jahren in Deutschland und ist nur zum Sterben in die Schweiz gereist. Dort suchte er den sicheren und schmerzlosen Tod mit Hilfe von Dignitas, der umstrittenen Sterbehilfeorganisation.

Ulrich Tanner war seit Jahren krank, schwer krank. Er hatte Krebs, er hatte Parkinson und er hatte AIDS. Und er hatte eine eindeutige Definition seiner persönlichen Würde und wusste, was für ihn ein würdevoller Tod wäre: Er wollte geistig klar sterben und bevor er in vollständige Hilflosigkeit und damit Abhängigkeit von anderen geriete.

Wolfgang Prosinger porträtiert Tanner aus einer Distanz, die Respekt beweist und ihn dennoch kenntlich macht als einen Mann der nichts dem Zufall überlässt, der geduldig und akribisch sein Ende plant, alles gründlich bedenkt und dabei so rücksichtsvoll seinen Freunden gegenüber ist, wie nur irgend möglich.
Eigentlich hatte er ihnen nichts sagen wollen von seinem Entschluss, aber dann hatte seine Beraterin bei Dignitas ihm gesagt, dass es eine schwere Last für seine Mitmenschen sein müsse, wenn er heimlich sterben würde. Tanner akzeptiert diesen Einwand und teilt sich seinen Freunden mit. Zehn Tage vor seinem Tod sagt er dem Autor:

"Ein zweites Mal würde er es nicht mehr so machen. (…) Das habe er jetzt davon, dass er dem Rat von 'Dignitas' gefolgt sei: Andauernd riefen die Leute an, kämen vorbei, wollten wissen, wie es ihm gehe, ob er etwas benötige, ob sie hel-fen könnten. Andauernd müsse er sich mit ihnen und ihren Fragen auseinander-setzen. Das gehe über seine Kräfte, eigentlich schon lange. Aber jetzt sei es endgültig zu viel."

Wolfgang Prosinger gelingt es sehr gut zu zeigen, wie weit entfernt von anderen ein todkranker und zum Sterben entschlossener Mensch ist, ein Mensch der trotz Morphium Schmerzen hat und um die Kontrolle über seinen Körper ringt, ein Mensch, der über Monate sein Ende plant und das selbst manchmal nicht fassen kann:

"Er komme sich dieser Tage ohnehin oft so vor, als bestehe er aus zwei Perso-nen. Eine agiert und organisiert, und die andere steht daneben, staunend, was die erste so alles treibt. Manchmal komme es ihm so vor, als hätten die beiden Personen gar nichts miteinander zu tun, ja, als seien sie gar nicht miteinander be-kannt."

Ulrich Tanner ging es darum, selbstbestimmt zu sterben, und Wolfgang Prosinger zeigt, wie unglaublich schwer das ist und wie es Tanner dennoch gelingt. Tanner stellt eine enorme Stärke unter Beweis, die - wie könnte es anders sein - manchmal seine Schwächen durchscheinen lässt.

Die Stärke von Wolfgang Prosingers Buch über Tanners Lebensende liegt darin, dass er Widersprüche nicht zukleistert. Er konzentriert sich auf das, was er von Tanner hört und sieht, wird zum Begleiter und Chronisten eines monatelangen Abschieds. Sein Bericht zeigt ein eindrucksvolles Beispiel und bereichert die Debatte über Sterbehilfe auf berührende Weise.

Zum einen macht er die Beweggründe eines Betroffenen nachvollziehbar und zeigt, dass eine einzelne Lebens- und Leidensgeschichte sich grundsätzlichen Erwägungen entzieht. Sie hat ihr eigenes Recht, ihre eigene Bedeutung und entkräftet jede ideologisch gefärbte generelle Sicht.

Wolfgang Prosinger verbindet dieses Einzelschicksal aber auch mit den grundsätzlichen Fragen zur Sterbehilfe. Die Kapitel über Tanners Weg zum Tod wechseln ab mit solchen über Hospizbewegung, Palliativmedizin und über Dignitas.

Prosinger beschreibt, was ist, er bemüht sich um größtmögliche Objektivität. Vordergründig wirkt sein Buch kühl. Aber gerade so erlaubt er jedem, der es liest, seine eigenen Gefühle und Gedanken.

Rezensiert von Barbara Dobrick

Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod
S. Fischer Verlag
176 Seiten, 16,90 Euro