Auf dem Weg zum Bürgerstaat

Von Sabine Korsukéwitz |
„Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, außer allen anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“, soll Sir Winston Churchill gesagt haben. Ausprobiert wurde schon so ziemlich alles zwischen den Extremen Diktatur und Anarchie. Jahrzehnte lang schien es, als würde die Demokratie letzten Endes alle anderen Formen überleben.
Aber auch sie hat sich gewandelt: Von der attischen Direktdemokratie, die nur möglich war in einem kleinen und homogenen Stadtstaatengebilde zu einer pluralistischen Demokratie von immer größer werdenden Staatenzusammenschlüsse, die nur über Repräsentanten regierbar sind. Welche Chancen hat und bietet unter modernen Bedingungen der Bürgerstaat?

Mitmacher: „Na, warst du wählen?“

Idiot: „Nein. Hatte was Besseres vor.“

Mitmacher: „Was Besseres als dein Recht wahrzunehmen?“

Idiot: „Was denn für’n Recht? Alle paar Jahre hinlatschen und denen einen Blankoscheck ausstellen? Da hark ich lieber meinen Rasen.“

Mitmacher: „Idiot!“

Idiot: „Also hör mal“

Mitmacher: „War nicht beleidigend gemeint, Kamerad. Das Wort ‚Idiot’ kommt aus dem Griechischen und bezeichnet einen Privatier, einen, der sich nicht um öffentliche Angelegenheiten kümmert.“

Idiot: „Ist ja auch mein gutes Recht. … Unverschämtheit!“

Die Wahlbeteiligung in Deutschland nimmt seit Jahren kontinuierlich ab. Und: Menschen unter 30 gehen deutlich weniger wählen, als die zwischen 30 und 50 Jahren. Ein Alarmzeichen – sagen Politikwissenschaftler und sprechen von einer Krise der Demokratie:

„Es gibt starken Vertrauensrückgang der Bürgerinnen und Bürger in die Politik, das ist nicht nur in Deutschland ein Problem, das betrifft mehr oder weniger alle westlichen oder etablierten Demokratien. Dazu kommen natürlich auch Probleme, die mit den Ergebnissen von Politik zu tun haben, dass es also schwieriger wird unter den Bedingungen moderner Massendemokratien Allgemeinwohl orientierte Politikergebnisse zu erzielen, weil Demokratien natürlich Teil der globalisierten Welt geworden sind, und bestimmte Vorteile, die sich Demokratien im Laufe ihrer Geschichte angeeignet haben, jetzt die Gefahr in sich bergen, sich zu Nachteilen zu entwickeln.“

... erklärt Dr.Viktoria Kaina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Innenpolitik der Universität Potsdam.
Demokratie wird oft als schwach empfunden: da gelten Rechtsgrundsätze auch für Gegner des Systems, verteilte Kompetenzen sind unklare Kompetenzen, – Kompromisse sind manchmal unbefriedigend: zu viele Interessen müssen unter einen Hut gebracht werden.

Idiot: „Ach was, die haben einfach keine Ideen, die da oben. Keine Visionen!“

Mitmacher: „’Wenn ich Visionen habe, gehe ich zum Arzt’. Hat Helmut Schmidt mal gesagt. Was du willst, das ist ein starker Mann, einer der sagt, wo es lang geht, aber dann wäre es mit deiner Freiheit auch schon vorbei! Freiheit gibt’s nicht umsonst! Im antiken Griechenland wäre es deine Pflicht gewesen, dich zu beteiligen!“

Ladwig: „In der antiken Demokratie ging es nicht um das Individuum als solches, sondern letztendlich immer um das Gemeinwesen. Es gab nicht die Idee, dass Individuen unveräußerliche Rechte haben. Man konnte jederzeit Regierende etwa verbannen. Die Idee des Individuums ist tatsächlich eine neuzeitliche, also so wie wir sie heute kennen, als einem Eigenwesen mit eigenen Rechten, die es auch gegen das Gemeinwesen geltend machen kann. Und die moderne Demokratie ist unter anderen der Versuch, dieses Individuum mit eigenen Rechten zugleich als Teilnehmer an der politischen Gesetzgebung einzusetzen und da gibt es Spannungen, nicht?“

Beim Scherbengericht konnte jeder den Namen eines unbeliebten Bürgers auf einen Tonscherben ritzen. Kamen mindestens 6000 solcher Scherben auf einem Haufen zusammen, dann war derjenige verbannt.

Die antike Demokratie war eine sehr direkte, konnte allerdings so nur funktionieren, weil es sich um relativ kleine Stadtstaaten handelte. Sie hatte – so der Soziologe Dr. Bernd Ladwig – auch ihre Tücken:

„Was ganz wesentlich ist: dass die klassische Vorstellung von Demokratie von kleinen Einheiten ausging, in denen die Menschen einander sehr, sehr ähnlich sind. Sowohl was ihre wirtschaftliche Stellung angeht als auch was ihre religiösen, weltanschaulichen Vorstellungen angeht. Diese Einheitlichkeit hatte übrigens auch zur Voraussetzung, dass zum Beispiel Sklaven, Frauen, so genannte Fremde ausgeschlossen waren. Die klassische Vorstellung von Demokratie hat Homogenität verlangt, und der Preis der Homogenität war der Ausschluss all jener, die tatsächlich oder vermeintlich nicht hinreichend ähnlich waren.“

Mitmacher: „Bitte: Da hast du deine Freiheit!“

Idiot: „Und ich dachte immer Demokratie, Individualität und Freiheit, das wäre ein und dasselbe! Also wann ging es denn dann los mit der Individualität?“

Im 17.Jahrhundert – mit der so genannten Aufklärung. Bis dahin – also im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war Demokratie noch nicht einmal ein geläufiger Begriff. Er kam nur in der Gelehrtensprache vor. Und die Französische Revolution – mon dieu! – die war erstmal kein Aushängeschild für das Regime des Volkes!

„Alles ist blinde, leidenschaftliche Wut, rasender Parteigeist und schnelles Aufbrausen, das nie zu vernünftigen, ruhigen Resultaten gelangt! ... Es steht jetzt alles auf der Spitze!“

... schrieb Georg Forster 1793 aus Paris. Noch im Oktober 1792 hatte alles vom Rheinland aus so verführerisch ausgesehen und der deutsche Jakobinerclub hatte die Revolutionsarmee freudig in Mainz begrüßt. Als Abgesandter der deutschen Revolutionsanhänger war Georg Forster nach Paris gereist. Doch dort bot sich ihm ein enttäuschendes Bild:

„Oh, seit ich weiß, dass keine Tugend in der Revolution ist, ekelt es mich an. ... Immer nur Eigennutz und Leidenschaft zu finden, wo man Größe erwartet hat und verlangt, immer nur Prahlerei für wirkliches Sein und Wirken – wer kann das aushalten?“

Die fürchterlichen Auswüchse der Revolution verschafften der Demokratie zunächst einen schlechten Ruf:

Ladwig: „Sie ist diffamiert worden vor allem, weil sie zunächst die Sache der Jacobiner war, und die Jacobiner, die ja nun im Namen der Mobilisierung der kleinen Leute sich an die Macht gebracht hatten, haben dann den terreur, also die massenhaften Hinrichtungen Verdächtiger, die als nicht ‚tugendhaft’ galten, ins Werk gesetzt, Robespierre war die wichtigste Figur hier – und weil dann Demokratie über den Jacobinismus mit Terror identifiziert werden konnte, deswegen war Demokratie noch lange Zeit eine Art Schimpfwort.“

Noch war Demokratie allenfalls ein Erwartungsbegriff. Immanuel Kant war der Erste, der das Staatswesen nicht an seiner äußeren Organisationsform – wer regiert? – sondern am zugrunde liegenden Geist maß:

„Die Form der Regierung betrifft die auf Konstitution (den Akt des allgemeinen Willens, wonach die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht ...“

... ob es also ein verlässliches und für alle gleiches Recht gibt, wie es Friedrich II von Preußen praktizierte, oder Willkür unter einer wie auch immer benannten Macht. So musste nach Kants Definition eine Regierung durch das Volk in Despotie umschlagen, während eine Monarchie sich durchaus republikanisch verhalten konnte.

Idiot: „Nur insoweit, als der Mächtige von der Macht freiwillig etwas abgibt. Das sehe ich heute auch nicht wirklich. Guck dir doch mal unseren Parteienstaat an: Die Parteien haben alle Ebenen durchsetzt: Legislative, Judikative und Exekutive. Die Art, wie die sich die Ämter zuschieben – das ist auch nichts anderes als Feudalherrschaft!“

Mitmacher: „Deshalb eben sollte das Volk mehr Kontrolle haben. Die es dann aber auch nutzen muss!“

Der Staatstheoretiker Montesquieu hatte 1748 bereits drei Haupttypen gesellschaftlicher Organisation unterschieden: die Republik, die Monarchie und die Gewaltherrschaft. Doch die beste aller Welten, nämlich eine republikanische, sei nichts – befand er – ohne Gewaltenteilung:

„Auf das Macht die Macht im Zaum halte.“

Das widersprach der jakobinischen, von Jean Jaques Rousseau inspirierten Lehre von der ungeteilten Volkssouveränität, weshalb man während der Revolution sogar Montesquieus Grab schändete.

Die jüngeren Aufklärer hielten Demokratie zwar für Zukunftsmusik, aber Fichte erklärte:

„Aufgabe des Staates ist, den Weg hin zum Endzweck zu befördern, die Selbstbildung eines jeden zu unterstützen, um sich selbst überflüssig zu machen.“

Idiot: „Das wäre ja Anarchie!“

Mitmacher: „Genau. Also: Das Prinzip der Gleichheit war ja nun durch die Aufklärung eingeführt. Jetzt ging es nur noch um die Umsetzung. Und da hat man so einiges ausprobiert.“

Idiot: „Aber doch nicht Anarchie! Das geht doch nicht!“

Mitmacher: „Sieh an, sieh an. Vorhin hast du dich darüber beklagt, dass das Volk nichts zu sagen hat. Jetzt schreist du nach Autorität.“

Idiot: „Hm, alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Anarchie, also eine Gemeinschaft in der keiner das Sagen hat, das kann doch in Wirklichkeit nicht funktionieren.“

Hat es schon – wenn auch nur kurz und räumlich beschränkt. Der deutsche Anarchist Augustin Souchy hat das nach dem spanischen Bürgerkrieg selbst erlebt:

„Nachdem es gelungen war, den Militärputsch niederzuschlagen, haben die Anarcho-syndikalistischen Organisationen – sie hatten über eine Million Mitglieder – haben sofort angefangen, ihre Ideen zu verwirklichen und begannen mit dem, was man heute Selbstverwaltung nennt. In Spanien war dann innerhalb von zwei Wochen die gesamte Wirtschaftstruktur, Privatwirtschaft, beseitigt und ersetzt worden durch eine Kollektivwirtschaft, die von den Anarchisten geleitet wurde. Das ist eine anarchistische Realisation. Und das zweite war dann Israel. Da war das keine Revolution, sondern die Immigranten gründeten dort Gemeinschaften, die man als anarchistisch bezeichnen könnte. Das heißt: Sie bekamen Land und dieses Land bebauten sie kollektiv, sie hatten auch einen gemeinsamen Speisesaal. Es gab kein Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln und jeder bekam den gleichen Teil der Produkte, das heißt, es war völlige ökonomische, soziale und politische Gleichheit.“

Idiot: „Also Kommunismus.“

Mitmacher: „Nein, Kommunismus und Sozialismus waren autoritäre Systeme. Lenin hat ja gesagt, Anarchismus sei die Kinderkrankheit des Sozialismus.“

Anarchie hat auf Dauer nicht funktioniert, weil – zumindest bislang – eine Autorität benötigt wird, um die Schwachen vor den Stärkeren zu schützen. Und Sozialismus kann inzwischen ebenfalls als gescheiterte Staatsform abgehakt werden.
Dr. Viktoria Kaina ist in der DDR groß geworden: Was ist schief gegangen?

„Ich glaube das waren viele Faktoren, die da eine Rolle gespielt haben, das eine war, dass das Versprechen der Demokratie nicht eingehalten wurde. Die Demokratie verspricht nun mal, dass die Bürgerinnen und Bürger an den zentralen Entscheidungsprozessen beteiligt werden und das war nun mal in der DDR definitiv nicht der Fall, weil die zentralen Entscheidungen ohne Einflussmöglichkeiten auf anderer Ebene getroffen wurden, das wissen wir. Und insofern spricht, selbst wenn das im Titel eines Landes formuliert ist ‚Volksdemokratie’, der Begriff der Demokratie den Realitäten in der DDR wirklich Hohn.“

Warum haben ausgerechnet Sozialisten und Kommunisten der Entscheidungsfähigkeit ihrer eigenen Bürger derart misstraut?

„Wenn Sie sich jetzt auf die ehemalige DDR auch beziehen, man kann es aber zu großen Teilen auch für die Sowjetunion gelten lassen, dann hat es – glaube ich – sehr viel auch mit der Geschichte des Klassenkampfes zu tun. Organisationen wie die kommunistische Partei in Deutschland, die aus extremen gesellschaftlichen Situationen hervorgegangen ist, also auch aus einer extremen Klassenkampfsituation, die zum Teil auch sehr gewalttätige, militante Züge angenommen hat, und von großem Misstrauen gegenüber dem politischen Gegner geprägt war, hatte dann wahrscheinlich auch Schwierigkeiten, zumal man ja auch gesehen hat, dass sich das Volk nicht unbedingt zu dem – wie auch immer definierten – Glück zwingen lassen wollte, dieses Misstrauen dann abzubauen.“

Mitmacher: „Auf Dauer kann man halt Menschen nicht zu etwas zwingen, auch wenn es noch so gut gemeint ist. Ich meine, darum geht es doch: Die Ordnung zu finden, in der es allen gut geht und man Individuum sein darf.“

Idiot: „Das klingt ja toll, aber davon sind wir ja wohl im Augenblick wieder weiter weg, als wir schon mal waren!“

Mitmacher: „Möchtest du etwa wieder einen Kaiser? Oder was wir dann noch Schlimmeres hatten?“

Idiot: „Das natürlich nicht, aber doch jemand, der mehr weiß und kann als jeder gewöhnliche Kutscher.“

1831 – zur Zeit der Zweiten Republik – wurde der Adlige Alexis de Toqueville von der französischen Regierung in die Vereinigten Staaten geschickt, um das dortige Rechtssystem zu studieren.
Resultierend aus dieser Reise schrieb er scharfsinnige Beobachtungen über das Wesen der Demokratie auf. Dass nämlich Freiheit und Gleichheit gar nicht zu vereinen seien...

Ladwig: „Für ihn war Demokratie der Inbegriff einer Welt, die vom Gleichheitsgedanken beherrscht wird. Gleichheit, das war irgendwie auch ein resignativer Gedanke bei Toqueville, ist das Schicksal in der heranziehenden Moderne. Gleichheit birgt die Gefahr der Eintönigkeit und des Verschwindens des Individuums. Das hatte Toqueville mit diesem Begriff der Freiheit verbunden. Und nun war seine Frage: Gibt es Möglichkeiten unter den Bedingungen der Gleichheit der Massengesellschaft, der Vorfahrt von Wohlfahrtsbürokratie, auch das hat er vorweg genommen, unter diesen Bedingungen Freiheit noch einmal ins Werk zu setzen.“

Gleichheit wurde bezahlt mit Nivellierung, also einem Qualitätsverlust...

Ladwig: „Man duldet – um das bildlich zu sagen – nicht mehr, dass aus der Menge der Köpfe einige herausragen, die werden abgeschlagen, so dass der Eindruck entsteht, dass alle gleich groß wären. Und dann war die Frage, die etwa auch einen Max Weber um trieb: Wie kann man das große, charismatische Individuum unter Bedingungen der Massengesellschaft retten? Weber hat sich dann vorgestellt: dann muss parallel zum Demokratiegedanken das Führerprinzip gestärkt werden. Deshalb hat er sich ja in der Verfassungsdiskussion der Weimarer Republik für eine sehr starke Stellung des Reichspräsidenten eingesetzt. Was uns dann einige Probleme bereitet hat, denn der zweite Reichspräsident war dieser Hindenburg, der uns den Hitler mit beschert hat.“

Als Lektion aus der Geschichte haben wir gelernt, uns vor „charismatischen Führern“ zu fürchten. Es wäre zu schön, wenn einer einfach wüsste, wie es geht – zu schön, um wahr zu sein.

Kaina: „Das ist die große intellektuelle Schwäche aller Ideologien mit Absolutheitsanspruch, zu meinen, es gäbe jemand der es am besten weiß. Und auch die Potenziale von pluralistischen Modellen einer Gesellschaft überhaupt damit nicht ausschöpfen können und damit auch gar nicht die unterschiedlichen innovativen Ideen und Vorstellungen von Seiten der Gesellschaften abrufen kann, so eine lebenswerte Gesellschaft zu formen.
Deswegen muss man sich auch gar nicht wundern, dass Demokratien bei allen Fehlern, die sie haben, bei allen Problemen die sie haben, dann erfolgreicher sind, weil sie selbst auch Mechanismen eingebaut haben, entwickelt haben, um Blockaden im intellektuellen Bereich auch auflösen zu können, sich selbst auch korrigieren zu können.“

Eine solche Korrektur fand in den 70er Jahren statt. Claudia Roth, heute Bundesgeschäftsführerin der Grünen, ist davon geprägt worden:

„Ich hab 74 Abitur gemacht, das war ja auch dann die bleierne Zeit in unserem Land, als der Rechtsstaat sein Visier runtergeklappt hat mit den Notstandsgesetzen, die heftigen Auseinandersetzungen als Gewalt in unserem Land plötzlich Realität wurde und als man festgestellt hat: ja, wer macht eigentlich in diesem Land Politik? Und feststellen konnte: da fehlt aber ganz viel. Ein ganz großer Teil von Gruppen, von Menschen, von Interessen, die auch Deutschland sind, ist überhaupt nicht in den Parlamenten vertreten.“

Mit dem Abflauen der Studentenbewegungen entstanden zunächst in Westeuropa und Nordamerika neue soziale Bewegungen, die Defizite in ihren Demokratien aufdeckten und sozusagen aus dem politischen „off“ Forderungen stellten. Das Establishment hatte damals große Schwierigkeiten loszulassen...

Roth: „Ja, zum Beispiel der Kampf gegen Brokdorf. Es waren ja viele zum Teil große Demonstrationen und das war eine, die war im Winter, es war unglaublich kalt, wir sind hin und rück fünfzig Kilometer gelaufen, es waren viele christliche Menschen dabei, es waren aus ganz vielen unterschiedlichen Ecken Menschen dabei, während der Anreise ist die Demonstration verboten worden, das heißt alle, die trotzdem hingefahren sind wie wir, sind schon mal kriminalisiert worden, und dann gab es auf die Demonstranten, auf Mahnwachen, auf Gottesdienste, die dort stattgefunden haben, wirklich tief fliegende Hubschrauberangriffe, das war beinahe wie Krieg gegen Atomkraftgegner! Ich habe das mit unglaublicher Gewalt von Staat gegen Menschen erlebt, die in ihrem Nein zu Atomkraft ja eigentlich für Sicherheit eintreten.“

Der Staat als Feind. Letzten Endes hat sich aber aus vielen dieser außerparlamentarischen Gruppen eine neue Kraft im legitimen demokratischen Spektrum entwickelt. Die Selbstheilungskräfte der Demokratie haben funktioniert.

Mitmacher: „Die hätten aber nicht funktioniert, wenn da nicht Einzelne aufgestanden wären und was unternommen hätten.“

Idiot: „Ach ja! Soll ich jetzt vielleicht ein Schild hochhalten oder Kerzen schwenken? Das bringt doch nichts. Die da oben krallen sich an ihre Macht und ihre Pöstchen.“

Dann denke mal an das Ende der DDR! Und überhaupt: Ein neuer Umgang mit dem Bürger hat bereits begonnen. So wurden in Berlin kürzlich die Hürden für Plebiszite gesenkt.
Ein anderes Beispiel: Im Städtchen Bergheim bei Köln wird seit dem Jahr 2000 ein neuer Umgang mit dem Bürger geübt. Die Beamtin Christa Wolf hat diesen Prozess von Anfang an begleitet:

„Bergheim hat im Jahr 2000 eine Zukunftskonferenz ins Leben gerufen, wo die Bürger gefragt wurden: Wie stellt ihr euch denn Bergheim im Jahr 2020 vor? Was seid ihr denn bereit zu tun und wie wollt ihr mitwirken, dass es denn auch so werden kann. Und da sind in den Orten Gruppen entstanden und diese Gruppen nennen sich Stadtteilforen. Die sind sehr aktiv, arbeiten alle freiwillig und unanhängig und haben viele tolle Projekte schon auf den Weg gebracht.“

Soweit noch nicht originell, denn in Zeiten knapper Kassen ist kostenlose Arbeit von engagierten Bürgern sehr gefragt. Doch es ging weiter: 2002 musste Bergheim ins Haushaltssicherungskonzept und musste seinen Bürgern harte Sparmaßnahmen verkaufen.

Gille: „Der Bürger ist doch so schlau, wenn wir nicht genug Geld haben von den Steuereinnahmen, die wir ja alle bezahlen, dann soll man das kundtun. Wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das ja. Das kann man auch erklären. Dann sind die Leute ohne weiteres bereit auch Einschnitte hinzunehmen. Und insofern meine ich, dass man mit den Bürgern zusammen viel mehr erreichen kann in der Politik, als einsame Entscheidungen zu treffen und der Bürger ist dann sauer.“

Hans-Joachim Gille ist Sprecher eines Stadtteilforums. Zusammen mit seinen Kollegen brachte er die Verwaltung dazu, die Karten offen auf den Tisch zu legen und in einer großen Bürgerversammlung, die jedem offen stand, die Bürger über das Haushaltskonzept abstimmen zu lassen. Das Ergebnis überraschte den Stadtkämmerer positiv, denn die Bürger setzten den Rotstift genau da an, wo er es selbst auch getan hätte – nur dass er diesmal nicht als Schuft dastand, weil er es nicht allein zu verantworten hatte.
Diese Art der Entscheidungsfindung in schwierigen Fragen findet seither in Bergheim immer häufiger statt.
Vom kostenlosen Bürgerengagement zur Mitsprache – diesen Weg ist auch das Kulturzentrum „Motte“ in Hamburg gegangen. Motte-Leiter Michael Wendt:

„Nun ist es so, dass wir mit einer ganz erklecklichen Anzahl von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, die im Quartier verwurzelt sind, dass wir nicht nur ein Angebot machen, sondern dass wir immer auch Projekte in Kooperation mit anderen Trägern kreieren und darüber eine Vernetzung entsteht und da entstehen – ich sage mal – eine Kraft, bei der die Politik nicht so einfach auf die Idee kommt: Die Kulturhaushalte werden gekürzt.“

Gratisleistungen von Bürgern anzunehmen ist für die geplagten Verwaltungen leicht, wenn daraus allerdings Mitspracherechte abgeleitet werden, wird die Sache schon schwieriger...

Wolf: „Also sagen wir mal so: Ich kann nicht sagen, dass es immer von Anfang an leicht gewesen ist, dieser Weg. Aber ich glaub schon, dass gerade jetzt immer mehr die Bereitschaft wächst an dieser Stelle die Menschen mit ins Boot zu holen.“

Dass Menschen, die sich engagieren, auch mehr zu sagen haben im Staat findet die Grüne Claudia Roth richtig:

„Ja ein Staat lebt ja davon. Ein Staat lebt ja nicht von der vermeintlichen Zitadelle der Macht, sondern ein Staat ist ja nur so stark, wie die Menschen ihn als ihren Staat verstehen. Und um so mehr muss man anfangen mit Partizipation, mit Beteiligung. Davon lebt die Demokratie und nicht nur vom reinen Parteiensystem, das offensichtlich ein Problem hat, noch legitimer Vertreter der Menschen in diesem Land zu sein.“

Mitmacher: „Das setzt natürlich voraus, dass man sich einmischen will, in die eigenen Angelegenheiten – um jetzt mal Max Frisch zu zitieren – und nicht wie du am liebsten nur kleingärtnert und die res publica anderen überlässt...“

Idiot: „Freiheit ist aber auch, mich heraus halten zu dürfen.“

Die Politikwissenschaftlerin Viktoria Kaina sieht diese Form der direkten Demokratie kritisch:

„Wir wissen aus der Forschung, dass das bestimmte Gruppen sind in der Bevölkerung. Es sind vor allem hoch gebildete, in der Regel auch Bevölkerungsgruppen, die nicht nur formal über einen hohen Bildungsgrad verfügen, sondern die auch eher aus höheren Einkommensschichten. Und damit haben wir natürlich ein Problem für die demokratischen Entscheidungsprozesse, weil Demokratie in erster Linie auf politische Gleichheit angelegt ist, also dass jedes Individuum das gleiche Recht hat, seine Interessen im politischen Prozess zu Gehör zu bringen. Und wenn wir da jetzt aber so einen sozialen Biss haben, dann muss man sehr vorsichtig sein, wie man diese Bewegung von mehr Bürgerbeteiligung – die aber im Grunde bestimmte Bevölkerungsgruppen privilegiert – bewertet.“

Claudia Roth hat da weniger Berührungsängste:

„Gruppen wie Agendagruppen, das ist ja für mich nicht eine Lobby, wie die Pharmazielobby oder die Chemielobby, sondern da geht’s in solchen Initiativen ja immer auch um Gemeinwohl. Ich glaube, dass man Elemente direkter Demokratie verstärken muss, dass es eine Schande ist in unserem, Land, dass wir seit Jahren drüber streiten über die Einführung von Elementen direkter Demokratie auch auf nationaler Ebene und das würde der Politik gut tun! Weil immer da wo es ein Volksbegehren, Volksinitiativen gibt, gibt es auch eine Auseinandersetzung und um eine Mobilisierung, das fehlt uns. Und das zu verstärken finde ich sehr richtig.“

Mitmacher: „Ich auch. Nimm zum Beispiel die Europawahl. Da war ich echt sauer, dass ich da nicht mitbestimmen durfte, dass die so was Wichtiges einfach über unsere Köpfe hinweg gemacht haben.“

Idiot: „Ehrlich gesagt: Ich weiß immer noch nicht so genau, worum es da eigentlich ging.“

Mitmacher: „Ja, weil du eben nicht gefragt worden bist. Aber wenn du hättest eine Entscheidung treffen müssen, dann hättest du dich doch schlau gemacht, oder?“

Idiot: „Ja, schon.... aber die meisten Leute machen doch nur bei was mit, wenn sie das Gefühl haben: das betrifft mich unmittelbar. Das ist meins.“

Mitmacher: „Wenn sie das Gefühl beim Staat nicht haben, dann ist sowieso was falsch an der Sache. Aber das kriegen wir noch hin.“

Die Demokratie hat noch ein anderes Problem: Die Globalisierung. Politiker beklagen immer häufiger- teils vorgeschoben, teils mit Berechtigung – dass nicht-demokratisch-legitimierte global player ihnen die Handlungsmöglichkeiten nehmen.
Dr. Bernd Ladwig vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft sieht zwei Möglichkeiten, dieses Problem anzugehen:

„Die Wirtschaftsbeziehungen erlauben es heute gerade den besonders kapitalkräftigen Akteuren, sich dem Staat zu entziehen, wenn er Steuern einnehmen will. Das ist das grundlegende Problem, denn ohne Zugriff auf die wirtschaftliche Basis kann der Staat egal welche Aufgaben immer weniger finanzieren. Also ist die Frage: Wie kann man größere politische Einheiten schaffen, deren Reichweite der Reichweite der ökonomischen Akteure einigermaßen entspricht. Die EU wird hier als Zwischenschritt gesehen.“

Größere politische Einheiten würden aber auf Kosten der Demokratie gehen, weil sich in ihnen die Macht immer weiter vom Bürger entfernt.

„Dann muss man parallel dazu sich Gedanken darüber machen, wie man da, wo wirklich demokratisch kontrolliert und entschieden werden kann – das sind dann die lokaleren, kleineren Ebenen – die demokratische Komponente stärkt. Und das so, dass dann nicht als Gegenreaktion auf die unbeherrschte Globalisierung ein neuer Regionalismus entsteht. Also wenn sich – als Beispiel – Bayern und Norditalien in einer Alpenregion abschotten gegen die Hungerleider aus dem Norden, dann ist das eine wohlfahrts-chauvinistische Allianz, eine Allianz derer die reicher sind gegen die Ärmeren, unter dem Vorwand, dass man hier lokale Traditionen wie Bärenjagd und so was verteidigt.“

Eine lokale Ebene haben wir ja schon durch den Föderalismus.

Kaina. „Föderalismus gilt ja als ein Modell, was nicht nur die Gewaltenteilung auf vertikaler Ebene ermöglichen soll, also ist dadurch schon ein sehr Demokratie-immanentes Modell. Ein Vorteil ist natürlich auch, dass die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben auf Landesebene oder Gliedstaatenebene politisch aktiv zu werden , was insofern von Vorteil ist, weil die Bürger und Bürgerinnen dann eher die Möglichkeit haben direkt an den Entscheidungen, von denen sie ganz unmittelbar betroffen sind, beteiligt zu werden.“

Es gibt Stimmen, die bereits auf Nationalstaaten verzichten möchten, wie die des CDU-Bürgermeisters Herbert Georgi aus Remagen am Rhein:

„Ich habe das Gefühl, dass unser staatliches Gefüge so nicht mehr passt, wir haben zunehmend einen Abfluss von Staatsgewalt an die Europäische Union. Dann haben wir die Nationalstaaten, die natürlich niemand auflösen kann und will und dann haben wir die Bundesländer. Und da sage ich: Da ist eins zu viel. Wir können uns diese Masse an Bürokratie nicht leisten, denn es kostet zu viel Geld und da wo die Arbeit am Bürger passiert, da ist kein Geld mehr vorhanden, weil der Staatsapparat zu viel Geld verschlingt.“

Wo sollte man da sparen?

Georgi: „Die Lösungen sind/ist eine Verschlankung des Staatsaufbaus dort, wo es keinen unmittelbaren Bürgerservice gibt. Der Bürgerservice muss sein, die unmittelbare Bürgerbedienung, dafür sind wir da, dafür zahlen die Bürger ihre Steuern, aber ich bin der Meinung, dass der Staatsaufbau insgesamt schlanker gestaltet werden kann.“

Bürgermitsprache und Kommunen stärken, den Bund streichen, Europa vergrößern?

Ladwig: „Die historische Leistung des Nationalstaates, wo er funktioniert hat, war, dass er Solidarität, die Bereitschaft zu teilen, auf eine viel breitere Basis gestellt hat, als das früher der Fall war. (Dass man) über Nahbeziehungen hinaus einander Fremden zugemutet hat, sich miteinander solidarisch zu verhalten. Und für diese Basis, die der Nationalstaat auch geschaffen hat, muss man eine Art Ersatz finden, nur unter dieser Voraussetzung kann die Stärkung des Lokalen eine gute Sache sein.“

Mitmacher: „Siehst du: Wie im alten Griechenland. Deren Form von Demokratie hat gut funktioniert, weil es kleine Einheiten waren. Da konnte eben jeder zu so einer Volksversammlung hinlatschen und seinen Tonscherben auf den Haufen werfen. Kriegen wir vielleicht wieder.“

Idiot: „kleine Einheiten, große Einheiten, Mittelmaß contra Charisma, Freiheit contra Gleichheit, Bärenjagd, Förderalismus, Pluralismus ...Gott, ist das kompliziert! Das ist ja ein ständiges Tauziehen. Hört das denn nie auf?“

Mitmacher: „Panta rhei! Nein, es hört nie auf. Und jetzt ist die Zeit gekommen, sich der direkten Demokratie wieder ein bisschen mehr anzunähern. Du, ich glaube, wir machen gerade wieder einen großen Kultursprung!“

Idiot: „Muss ich denn mit springen? Kann ich nicht einfach in Ruhe meinen Rasen harken?“

Mitmacher: „Klar, das ist dein gutes Recht, aber beklag dich nicht, wenn dir nicht gefällt, was andere dann entscheiden.“