Auf beiden Augen blind

Andreas Speit im Gespräch mit Joachim Scholl · 01.08.2013
Die Behörden hätten bestehende rechtsradikale Gruppen nicht nur jahrelang nicht ernst genommen, sie hätten auch ausgeblendet, dass es ein Unterstützungsmilieu für diese Szene gibt, sagt der Journalist Andreas Speit. Das bezeichnet er als "analytisch-zentralen Fehler".
Joachim Scholl: "Man konnte sich bis vor wenigen Tagen nicht vorstellen, dass es tatsächlich terroristische Organisationen oder Zellen geben könnte, die mordend durchs Land laufen." Diesen Satz hat Innenminister Hans-Peter Friedrich im November 2011 zu Protokoll gegeben, kurz nachdem offenbar wurde, dass ein sogenannter Nationalsozialistischer Untergrund hinter den Morden an zehn Menschen steckte. Dass diese kaltblütig geplanten und ausgeführten Taten durchaus vorstellbar waren und so auch zu verhindern gewesen wären, zeigt nun ein Buch, das die Journalisten Andrea Röpke und Andreas Speit herausgegeben und mitverfasst haben unter dem Titel "Blut und Ehre – Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland". Andreas Speit ist jetzt im Studio. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Andreas Speit: Einen schönen guten Morgen!

Scholl: Diesen Ausspruch von Herrn Innenminister Friedrich, den zitieren Sie im Klappentext, Herr Speit, gewissermaßen als sinistres Motto für den ganzen Komplex rechtsradikaler Verbrechen. Sie und Ihre Mitautoren beschäftigen sich schon seit Jahren mit diesem Thema, haben in vielen anderen journalistischen Zusammenhängen auf rechtsterroristische Strukturen in Deutschland aufmerksam gemacht. Wie groß war eigentlich Ihr Schock über diesen Nationalsozialistischen Untergrund? Sie müssen sich ja grausam bestätigt gefühlt haben.

Speit: Ja, wir haben uns bestätigt gefühlt, aber wir müssen auch einräumen, dass wir nicht erwartet haben, dass eine Terrorgruppe wirklich über zehn Jahre, dreizehn Jahre lang im Untergrund leben kann und auch Morde verübt. Den Zeitraum hatten wir so nicht erwartet. Wir wussten aber natürlich sehr wohl, dass es in der rechtsextremen Szene immer wieder Papiere für Mord und Totschlag gegeben hat, Strategiepapiere, wie man Zellen aufbauen sollte, und natürlich, wenn man sich die Geschichte des Rechtsextremismus anschaut, es hat eben auch immer solche Gruppen gegeben. Und darum ist ja auch der Satz des Innenministers so erschütternd, weil er einfach völlig unhistorisch ist.

Scholl: In Ihrem Buch sind ja alle so ernüchternden Fakten zum NSU-Komplex gesammelt, mit vielen Beispielen, die einen beim Lesen fassungslos machen. Eines davon ist zum Beispiel der Bombenfund 1998 in Jena in einer Garage von einem der späteren Mörder, Uwe Böhnhardt, es gab eine Durchsuchung, ihn ließ man vor der Durchsuchung einfach gehen, schrieb ihn erst zwei Tage später dann zur Fahndung aus, und aus Kreisen der Ermittler hieß es dann: Ja, wir dachten, da machen ein paar Jungs Blödsinn in einer Garage. Ist diese Haltung signifikant und typisch für den Umgang mit rechter Gewalt immer noch?

Speit: Das ist wirklich ein Schlüsselsatz, der damals, glaube ich, sehr gut wiederspiegelt, wie in den Behörden und Ämtern gedacht worden ist. Wir haben in den 90er-Jahren eine heftige Auseinandersetzung gehabt, wie man diese rechten Kameradschaften einordnen sollte. In den Behörden und Ämtern wurde vor allem betont, das seien desorientierte Jugendliche, und diese Cliquen seien halt lose Cliquen. Es hat aber sehr wohl viele Indizien gegeben, dass dort politisch überzeugte junge Menschen zusammen sich getan haben, um auch politische Taten zu verüben. Und genau dieser Satz spiegelt wirklich den analytisch-zentralen Fehler wieder.

Man muss sich das wirklich noch mal vor Augen halten: Die Personen, um die es geht, die waren alle schon vorher politisch auffällig, sogar polizeilich bekannt, und man geht da hin, hat keinen Haftbefehl dabei – vielleicht aus rechtlichen Gründen, das kann man so einschränkend auch sagen –, aber man hält die betroffenen Personen nicht einmal fest, während die Ermittlungen noch gar nicht abgeschlossen sind, und das ist wirklich eklatant. Und da braucht man gar keine Verschwörungstheorien haben, inwieweit da wer mit wem verstrickt gewesen ist. Hier ist es wirklich ein analytischer Fehler, wie man damals den Rechtsextremismus bewertet hat, und ich befürchte, dass wir heute diesen Fehler immer wieder finden werden.

Scholl: Es wird ja jetzt vonseiten der Dienste und Behörden immer auch darauf gepocht, dass dieses Mördertrio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe ja so etwas wie ein Unikat darstellt. Sie zeigen in Ihrem Buch, dass das eben nicht so ist, dieser NSU auch keine abgekoppelte Truppe war, sondern stabil verankert in einem Kontext einer größeren rechtsradikalen Strategie, könnte man schon sagen. Wie sieht dieser Kontext aus?

Speit: Sie benennen eigentlich den zweiten analytischen Fehler. Nicht nur, dass diese Gruppen nicht ernst genommen worden sind, sondern man hat vor allem ausgeblendet – und das wirklich bis zum Ende, bis zum zufälligen Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds – dass es eben auch ein Unterstützungsmilieu gibt für diese Szene. Das war ein Dogma, was immer wieder bezweifelt worden ist von den Behörden. Und wir haben betont, nein, das ist durchaus möglich, dass es Personen gibt, die bereit sind, Rechtsterroristen auch zu decken.

Und das ist genau geschehen, als die drei abgetaucht sind, haben Netzwerke gegriffen, die vorher bestanden haben, ein Netzwerk, was mittlerweile nachweislich eine zentrale Rolle gespielt hat, ist das Netzwerk von Blood and Honour gewesen, wo am Anfang die Kader aus diesem Milieu heraus Wohnungen, Pässe, Waffen und Sprengstoff besorgt haben. Und genau das wollte man nicht wahrhaben, dass es ein Unterstützungsnetzwerk geben könnte. Und das hat wirklich bis zum Ende ja gehalten.

Scholl: Über die Strukturen rechtsextremistischer Gewalt sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Andreas Speit, dem Herausgeber und Autor des Buches "Blut und Ehre – Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland". Was, Herr Speit, kann man nun aus der Geschichte lernen? Sie fächern in Ihrem Buch rechte Gewalt ja seit 1945 auf und kommen da auf verschiedene Phasen etwa in den 70er-, 80er-Jahren mit jener ominösen Wehrsportgruppe Hoffmann und der Wiking-Jugend. Man hat das, wie ich mich erinnere, oft eher lapidar damals unter der Rubrik so versprengtes Idiotentum gefasst. Sind diese Strukturen aber doch die Vorläufer der aktuellen Gewalt, hat das miteinander zu tun?

Speit: Natürlich muss man sich vor pauschalen Urteilen hüten und jetzt auch rückblickend nicht so tun, als ob man alles sofort gewusst hätte. Aber es gibt tatsächlich Bezüge: Eine Person, wo die drei beispielsweise solidarisch gewesen sind in einem Gerichtssaal, wo sie teilgenommen haben an einer Protestaktion, weil dort ein bekannter Holocaust-Leugner verurteilt werden sollte, der aber auch schon in einer Terrorgruppe aktiv gewesen ist, da haben sie zum Beispiel im Gerichtssaal mit dabei gestanden, und da sieht man sogar persönliche, personelle Vernetzungen, sozusagen von Terrorgruppen aus den 80er-Jahren zu dieser Terrorgruppe, mit der wir es heute zu tun haben.

Scholl: Interessant fand ich, dass sozusagen die neuen Rechtsterroristen gelernt haben insofern aus der Geschichte, als dass sie sich sozusagen ohne Führer darstellen. Also es gibt ein Konzept der Headless Resistance, kommt also auch von ausländischen Rechtsradikalen, des führerlosen Widerstands. Das heißt, in dem Moment, wo man keine Führer-, keine Gallionsfigur mehr hat, wird man auch sozusagen unsichtbar.

Speit: Ja, das ist den dreien ja auch tatsächlich gelungen, und man muss wirklich auch die Frage aufwerfen, inwieweit es nicht auch andere Gruppen gegeben hat, die auf diesem Weg waren. Beispielsweise in Schleswig-Holstein ist eine ähnliche Struktur glücklicherweise, bevor sie zuschlagen konnte, von der Polizei aufgehoben worden, sprich, man ist dort sehr massiv vorgegangen und hat Waffen gefunden. Dieses Konzept kommt aus dem Ausland, ist aber wirklich schon seit den 80er-Jahren in der rechtsextreme Szene sehr populär.

Das ist ja auch einer der Aspekte, den wir selber so erschütternd fanden, weil eigentlich die Methode, die die drei angewendet haben, konnte man Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre tatsächlich in rechtsextremen Publikationen, die uns als Journalisten zugänglich gewesen sind, das heißt, auch Geheimdienstbehörden und Ämter werden diese Publikationen erwerben haben können, konnte man genau das nachlesen, wie dort man sich auf den Terror vorbereitet, wie man dort offen vom Rassenkrieg gesprochen hat, wie dort wirklich benannt worden ist, wie bildet man eine Zelle, was ist zuerst zu tun, was ist als Zweites zu tun, was ist als Drittes zu tun.

Scholl: Wie schätzen Sie, Herr Speit, jetzt eigentlich die Entwicklung auf der politischen Ebene ein? Wird das allgemeine Entsetzen jetzt über die Mordtaten des NSU-Komplexes bis hoch zur Bundeskanzlerin wenigstens bei den Institutionen ein neues Bewusstsein erzeugen oder zumindest schärfen, dass sozusagen diese Ignoranz und diese Schlampigkeit und diese Indolenz gegenüber dieser Gefahr eigentlich endlich aus der Welt zu schaffen sind?

Speit: Ja, das ist zu hoffen, aber beispielsweise eine Studie gerade im türkischen Milieu hat belegt, dass viele Menschen aus den türkischen Communities sehr, sehr verunsichert sind und nicht glauben, dass es ein Umdenken geben wird innerhalb der Behörden. Und hierfür gibt es leider auch einige Indizien: Obwohl beispielsweise das Verfahren gerade läuft, konnte man ebenso erleben, dass andere Ermittlungen wieder ähnlich, sage ich jetzt mal vorsichtig, unpolitisch geführt worden sind, wo Taten verübt worden sind und die Polizei sie nicht in den Kontext der politischen Taten geschoben hat. Ich bin da wirklich ein bisschen skeptisch. Man muss hoffen, dass die Sensibilität in den Behörden, in den Polizeistrukturen steigt. Es gibt dort auch Maßnahmen, dass das sein soll, aber ich bin leider skeptisch.

Scholl: Ja, da gibt es ja leider in diesem Kontext auch erschreckende demografische Erhebungen: Jeder fünfte Deutsche hegt ausländerfeindliche Überzeugung, jeder achte pflegt antisemitische Ressentiments. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Jahr hat belegt für neun Prozent der Bevölkerung ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Da will man natürlich sofort beschämt das Haupt senken, aber es ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass rechte Gewalt immer noch nicht die Form der Ächtung erfährt wie nötig in unserer Gesellschaft, oder?

Speit: Ich würde es zuspitzen: Man hat sogar oft den Eindruck, und ich habe das auch in anderen Verfahren erleben dürfen, fast wortwörtlich, dass dort gesagt wird: Wir haben doch nur was getan, wo ihr so drüber redet. Sprich, man fühlt sich durch diese Einstellung bestätigt und ermuntert für die Taten. Und das ist auch ein Problem, was bisher gar nicht so sehr bei dem Nationalsozialistischen Untergrund betont worden ist: Die drei sind Kinder der 90er-Jahre, und das muss man wirklich betonen. Das ist die Hochzeit gewesen, wo durch Brandanschläge letztendlich es auch dazu geführt hat – ich nenne nur Rostock-Lichtenhagen –, dass es eine Änderung im Asylgesetz gegeben hat. Also man hat gesehen, mit Gewalt geht was, und so sind die groß geworden und so sind sie auch politisiert worden. Und das ist wirklich ernüchternd, dass das leider in den Medien noch gar nicht so groß Thema ist, dass sie eigentlich politisiert worden sind über die Stimmung in der Mittätergesellschaft.

Scholl: Mich hat ebenfalls schockiert die Tatsache, dass diese Wiking-Jugend erst 1994 verboten wurde und vorher noch gar nicht sozusagen als terroristische oder als gewaltkriminelle Gemeinschaft irgendwie erkannt wurde.

Speit: Ja, das Erschütternde daran ist ja auch, dass wir beispielsweise, wenn wir uns heute die NPD angucken, aber auch das Spektrum der freien Kameradschaften, wo beispielsweise die drei ja groß geworden sind, dass gerade viele Kader, die heute aktiv sind, in der Wiking-Jugend als Kinder und Jugendliche politisiert worden sind. Und das ist natürlich ernüchternd, wenn man dann sieht, wie lange diese Struktur bestehen konnte.

Scholl: Wer sich darüber informieren will, und es ist ein richtiges Handbuch geworden, ein trauriges zwar, aber ein politisch enorm wichtiges: "Blut und Ehre – Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland", so heißt das Buch, das Andreas Speit zusammen mit Kollegen herausgegeben und verfasst hat. Es ist jetzt im Christoph Links Verlag erschienen, hat 286 Seiten und kostet 19,90 Euro. Ganz herzlichen Dank für Ihren Besuch, Herr Speit, und Ihnen alles Gute!

Speit: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.