Auch in Tel Aviv zelten die Demonstranten

Von Kersten Knipp · 11.08.2011
Die sonst ruhige israelische Mittelschicht geht auf die Straße und demonstriert ihren Ärger. Soziale Anliegen trägt sie vor, fordert bezahlbaren Wohnraum, ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem. Niemals zuvor hat sich so deutlich gezeigt, wie überfordert auch der israelische Sozialstaat ist.
Das Geld fehlt, es fehlt an vielen Stellen. Israel ist hochgerüstet, verfügt über eine der bestausgerüsteten Armeen der Welt – und kann zugleich die Bedürfnisse vieler seiner Bürger nicht befriedigen. Und als überspringe die Finanzkrise nun auch die Grenze nach Israel, wird auch dort über die angemessene Verteilung der Gelder gestritten. Dabei geht es aber auch um die grundsätzliche Ausrichtung der Gesellschaft, erläutert die israelische Historikerin Zalashek Rakefet. Die Demonstrationen entzündeten sich an aktuellen Nöten. Tatsächlich aber, erklärt sie, gehen die eigentlichen Ursachen sehr viel weiter zurück.

"Der religiöse Graben ist einer der fünf Hauptgräben der israelischen Gesellschaft – der zwischen säkularen und orthodoxen Juden. Dieser Konflikt ist sehr intensiv. Die meisten der orthodoxen Juden unterstützen rechte Meinungen, vor allem die Nicht-Rückgabe der besetzten Gebiete und kein Friede mit den Palästinensern. Das verband sich mit einem biblischen und religiösem Verständnis Israels als des Landes Israel und dem Umstand, dass Israel nach Maßgabe der Bibel Eigentum der Juden sein sollte. Am stärksten ist dieser Konflikt in Jerusalem. Aber im Grunde zeigt er sich im ganzen Land – und natürlich auch in der Knesset, dem israelischen Parlament."

Dieser Konflikt hat sein Land gespalten, so sieht es auch der israelische Fotokünstler Micha Kirchner. In einer seiner jüngsten Arbeiten hat er junge Menschen fotografiert, die verschiedenen weltanschaulichen und religiösen Gruppen angehören. Sämtliche Gruppen radikalisieren sich, beobachtet er. Sie bleiben immer häufiger unter sich, versuchten den Dialog nicht mehr und pflegten statt dessen ausgeprägte Feindbilder.

"Alle diese jungen Menschen – ganz gleich, ob sie Juden, Muslime, Drusen, Christ oder überhaupt nicht religiös sind –, sie alle stehen einander sehr misstrauisch gegenüber. Sie glauben dem jeweils anderen nicht, sie sind überzeugt, der andere wolle sie töten, zumindest aber ausrauben. Israel ist eine Gesellschaft von hoher innerer Spannung. Insgesamt haben wir 15 verschiedene Weltanschauungen, und ihre Anhänger haben jeweils genaue Vorstellungen darüber, wie die Lösung aussehen sollte. Und alle hassen sie einander.” "

Ob diese Gruppen wieder ins Gespräch miteinander kommen, sich auf ein nationales Selbstverständnis, ein Gesellschaftsmodell und eine entsprechende Politik nach innen und nach außen? Micha Kirchner ist skeptisch. Er traut den unterschiedlichen Gruppen keinen allzu großen Konsens zu – am wenigsten deren jungen Angehörigen.

" "Wir sagen immer, dass die Zukunft in den Händen dieser jungen Menschen liegt, die in 15, 25 Jahren dieses Landes führen werden. Ich bin da sehr skeptisch. Ich habe viele Fotos gemacht, von Jugendlichen aller Gruppen. Sie alle leiden, sie alle hassen einander. Und das macht mich zu einem sehr traurigen alten Mann."

Ein wenig optimistischer ist die Soziologin Zalashek Rakefet. Zwar können die säkularen Juden, die man derzeit auf der Straße gehen, einer orthodoxen Auslegung ihrer Religion wenig oder nichts abgewinnen, haben darum auch gegen den Siedlungsbau Bedenken. Aber in einem sind sie sich mit ihren ideologischen Gegner einig: in der Loyalität zu ihrem Staat. Bei allen Unterschieden, erklärt sie, gäbe es zwischen den einzelnen Gruppen doch noch ein verbindendes Element.

"In den Neunzigerjahren begann auch in Israel die Diskussion um den Multikulturalismus. Und wenn wir die heutige israelische Gesellschaft mit der früherer Jahre vergleichen, können wir sagen, dass Israel vielfältiger, zumindest aber gelassener im Hinblick auf gewisse Werte und Tradition geworden ist. Bis zu einem gewissen Grad können Individuen und Gemeinschaften unterschiedlich sein. Aber es gibt Grenzen: Geduld und Toleranz gelten so lange, wie der gemeinsame Nenner, die jüdische Gesellschaft, nicht bedroht ist."

Ob der arabische Frühling nun auch auf Israel übergesprungen ist? Einiges scheint dafür zu sprechen, vor allem die Symbolik: "Irhal” konnte man auf einigen Spruchbändern in Tel Aviv lesen, das arabische Wort für "Geh!”, "Hau ab!" Der ästhetische Schwung der arabischen Aufstände ist unübersehbar angekommen in der israelischen Hauptstadt, das lassen auch die Zelte vermuten, die von ferne an den Tahrir-Platz in Kairo erinnern.

Aber es gibt doch gewaltige Unterschiede. Denn die meisten Israelis wissen, dass die Auswirkungen des arabischen Frühlings noch keineswegs absehbar sind. Sicher werden die Proteste nicht nur die Sozial- und Bildungs-, sondern auch die Siedlungspolitik beeinflussen. Wie groß dieser Einfluss aber ist, wie lange auch die politischen Inspirationen aus den Nachbarländern Israels anhalten mögen – das hat sehr viel auch mit deren Entwicklung zu tun. Insofern ist die israelische Innenpolitik sehr stark abhängig von der außenpolitischen Situation, erläutert Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland.

"Das hat sehr viel mit der internationalen Situation zu tun. Wenn wir Hoffnungen auf Frieden haben, dann wächst immer die Kluft zwischen den Extremisten und der Mehrheit, die bescheiden ist. Wenn es keine Chancen gibt, dann hält sich die Mehrheit zurück, und die Extremisten haben die Oberhand. Und das ist die Situation bei uns heute."

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