Auch eine Reifeprüfung

Von Nicole C. Merz |
Hape Kerkeling sagte "Ich bin dann mal weg" und löste mit seinem Pilgertagebuch einen Berichterstattungsboom über den Jakobsweg aus. Die schönsten Strecken, die extremsten Wanderer, die spirituelle Historie. Man könnte glauben, der Jakobsweg wäre neu in Mode gekommen. Tatsächlich registrieren die Pilgerbüros schon seit den 80ern ein gesteigertes Interesse an diesem individuellen Pilgerweg.
Vor allem bei Orientierungssuchenden steht er hoch im Kurs. Allein ein Fünftel der Santiagopilger besteht aus Schülern und Studenten. Nicole C. Merz ist den Jakobsweg mit Klassenkameraden zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur gelaufen. Sieben Jahre nach der Wanderschaft hat sie jetzt bei ihren Mitpilgern nachgefragt, was sie als prägend in Erinnerung behalten haben und mit welchen Erwartungen sie die Wanderschaft antraten.

Lilian Eckerle: "Meine positiven Erwartungen waren, dass ich zu mir selber mehr Kontakt krieg', dass ich vielleicht auch mehr über mein Leben nachdenke, über die Zukunft."

Nicht nur Lilian Eckerle beschäftigte damals die Zukunft. Wir waren alle bereits mit einem Fuß aus der Schule raus und manch einer hatte noch keine Ahnung, wo dieser Fuß hintreten sollte. Der Jakobsweg war ein Atemholen zwischen den Prüfungen. Man hatte wieder den Blick frei für andere Dinge, zum Beispiel wie man sich selbst und wie sich auch die Gruppe unterwegs veränderte.

Pia Leib: "Also am Anfang sind wir noch sehr in der Gruppe gelaufen, und jeder hat auf den anderen Rücksicht genommen, und zum Schluss ist eigentlich jeder für sich alleine gelaufen. Mit der Zeit entwickelt jeder seinen eigenen Laufschritt und seine eigene Geschwindigkeit, und das ist auch absolut notwendig, damit man das durchhält, dass jeder sein Tempo läuft."

Carolin Früh: "Diese Langsamkeit beim Laufen ist eigentlich auch sehr schön, dass man wieder Relationen kriegt, was eigentlich Entfernungen sind."

Felix Merkel: "Man läuft nebeneinander, und es ist wie wenn man miteinander redet, aber man redet gar nicht, es ist was, was einen verbindet, obwohl man nicht redet, obwohl man nix sagt, man läuft nur nebeneinander."

Pia Leib: "Trotz des Laufens und trotz der Anstrengung war es schon eine Erleichterung. Es war 'den Kopf frei machen' und einfach Landschaft genießen."

Thomas Kraft: "Es gab Wege, wo man über Bäche drüber gelaufen ist oder auch durch verschiedenartige Wälder oder auch dann wieder durch kleine Dörfer mit Steinbauten im typischen Stil von der dortigen Geschichte und dann ist man mal an nem Bauern vorbeigekommen; zum Teil kann ich mich noch erinnern, dass die noch mit den Pferden oder mit den Ochsen, glaub ich mal, durch den Acker gezogen haben, wo ich dann gedacht hab: 'Wow, bin ich ein halbes Jahrhundert oder ein ganzes Jahrhundert zurückversetzt?' Das war schon sehr beeindruckend."

Trotz des einfachen Lebens waren die Einheimischen nie gestresst oder unwirsch. Die Bauern riefen uns übers Feld ein "Buen camino" zu, und ebenso schallte es uns aus Vorgärten und Gemüsebeeten entgegen. Alles schien im Gleichgewicht zu sein und auch wir lernten sehr schnell, Prioritäten zu setzten: Viele schöne Sachen dabei zu haben oder ein leichten Rucksack.

Lilian Eckerle: "Ein Handtuch, ein Schlafsack, eine Isomatte, einmal ein Shampoo und noch ein Duschgel (…) vielleicht hat man's auch noch mit einer anderen Person geteilt, eine Haarbürste, man hat auch so vieles geteilt und man hat doch nicht mehr gebraucht."

Moritz Merkel: "Man wird sehr viel genügsamer und man beschränkt sich auf die wirklich wesentlichen Dinge, also: essen, trinken, schlafen und pilgern."

Sich auf das Wesentliche zu beschränken war, als wir es mussten, erstaunlich leicht. Dafür schenkten wir nun Kleinigkeiten mehr Beachtung. Wir genossen es, wenn in den Eukalyptuswäldern der Boden weich war oder wenn wir im Refugio ein Zimmer mit nur zehn Betten erwischten.

Carolin Früh: "An dem einen Tag, an dem wir an der Straße entlang gelaufen sind und es bulleheiß war, da war es das schönste Erlebnis, Wasser zu finden; also sehr trivial, aber ja. Schade war nur, dass die Wasserstelle auch in der prallen Sonne war. Aber man kann nicht alles haben."

Die meisten von uns sind den Jakobsweg nicht aus religiösen Gründen gelaufen. Die Gedanken und Fragen zum Glauben kamen von ganz alleine. Wer ist hier in den vergangenen 900 Jahren diesen Weg vor mir gelaufen? Welche Hoffnungen hatten diese Menschen? Warum war dieser Glaube so stark? Was glaube ich? Wie glaube ich? Der religiöse Aspekt nahm von Tag zu Tag zu. Vor allem Moritz Merkel, der später den Weg nochmals komplett gelaufen ist, machte diese Erfahrung auf seiner 1000 km-Tour.

Moritz Merkel: "Wir haben täglich das Stundengebet gebetet und haben uns auch das Evangelium und die Lesungen vom Tage durchgelesen, und es war eben so, dass wir immer irgendwie 'ne Verbindung zwischen den Texten und dem heute Erlebten feststellen konnten. Irgendwas hat immer irgendwie gepasst; und das hat durchaus auch Auswirkung auf den eigenen Glauben."

Es war der erlebte Beweis, dass die Bibel immer noch gültig ist und auch auf unser junges Leben Bezug nimmt. Aber den Jakobsweg einzig und allein auf die Rückkehr zum Glauben zu reduzieren, wäre falsch. Der Weg hat uns in mancherlei Hinsicht Klarheit verschafft.

Thomas Kraft: "Ich hab gemerkt, dass mir das auf jeden Fall großen Spaß gemacht hat, das Wandern, das Pilgern und hab gemerkt, dass mich das auch reizt und ich das irgendwie weiterführen will und raus will. Ich hab dann auch später eine Weltreise gemacht, wo ich einfach da auch schon gemerkt hab, ich will raus hier, ich will raus aus dem kleinen Deutschland, raus aus dem kleinen Gaggenau, wo ich herkomme. Das hab ich damals auf jeden Fall schon gemerkt und das ist heute immer noch so."

Moritz Merkel: "Man lernt in kleinen Schritten große Aufgaben angehen und sich nicht entmutigen lassen von den 1000 km, die noch vor einem liegen. Was ich für mich mitgenommen habe, ist eine gewisse Geduld, die ich dort gelernt hab auf dem Weg. Ich bin einfach geduldiger geworden fürs Leben."

Wenn ich heute an den Jakobsweg zurückdenke, muss ich unwillkürlich lächeln. Dann nehme ich vielleicht den Schuhkarton mit meinem Pilgerausweis und Pilgerdiplom zur Hand, schaue die alten Fotos an und blättere in meinem Reisetagebuch. Ich habe auf diesem Weg gelernt, mir selbst und meiner Kraft zu vertrauen. Das Wandern war wichtig - oder wie es meine Klassenkameradin Lilian ausdrückt:

Lilian Eckerle: "Es hat eine ganz intensive Bedeutung. Es kommt mir vor wie ein heller Punkt in meinem Leben. Also es war schon ein Meilenstein."