Fluch oder Segen?
Trotz der Katastrophe von Fukushima setzt Indien auf Atomkraft, auch in einem Gebiet, in dem es immer wieder zu Erdbeben kommt. In der Bevölkerung wächst der Widerstand gegen die Pläne der Regierung, die den Ausbau der Kernkraft zur nationalen Pflicht erklärt hat.
Die aus Kanyakumari am südlichsten Zipfel Indiens waren die ganze Nacht draußen. Jetzt ziehen sie ihr Boot mit vereinten Kräften an Land. Am Horizont zeichnet sich im Morgengrauen die Silhouette des Atomkraftwerks im benachbarten Koodankulam an.
die Anlage liegt direkt am Strand – wie der Unfallreaktor im japanischen Fukushima.
"Koodankulam, das ist ein Riesenproblem für uns. Das Kraftwerk verseucht die Fische und das Meer",
sagt ein junger Fischer. Ein Fang der vergangenen Nacht geht vom Boot fangfrisch auf den Markt. Dort sind auch die Fischerfrauen wütend auf das Atomkraftwerk russischer Bauart.
"Wir wollen Koodankulam nicht. Wir alle leben von der Fischerei. Das Kraftwerk zerstört unsere Zukunft",
klagen sie. Sie haben den Tsunami von 2004 erlebt, der auch auf der Südspitze Indiens Tod und Leid brachte. Die Fischerfamilien leisten Widerstand gegen die Atomkraft. Ihr Anführer Udayakumar ist ein studierter Politikwissenschaftler, der lange in den USA gelebt hat.
"Richtig, wir haben in Indien ein Energieproblem und wir stoßen immer mehr klimafeindliches Kohlendioxid aus. Aber die Antwort kann doch nicht sein, die Erde zu vergiften. Warum reden wir nicht über den Atommüll, der uns viele zehntausend Jahre beschäftigen wird. Die USA und Deutschland finden keine Antwort auf die Endlagerfrage. Wie soll Indien denn das dann schaffen."
Für Udayakumar von der "Volksbewegung gegen Nuklearenergie" ist das ein Ausverkauf nationaler Interessen:
"Indien ist ein Land mit einer großen Bevölkerungsdichte. Schon der kleinste Nuklearunfall wird katastrophale Folgen haben."
Bisher kein landesweiter Bürgerprotest
Ein nationaler Aufschrei gegen das ehrgeizige Nuklearprogramm ist bis jetzt ausgeblieben. Auch auf dem Fischmarkt in Kanyakumari, in direkter Nachbarschaft zu Koodankulam, finden sich viele, die das neue Kernkraftwerk für eine gute Idee halten – so wie dieser junge Mann, der gerade die Beamtenlaufbahn eingeschlagen hat:
"Ich unterstütze Koodankulam. Indien hat große Energieprobleme, deshalb brauchen wir die Atomenergie. Ich habe keine Angst. Die Regierung sagt, dass sie alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Kernkraft ist vielleicht nicht die sauberste Energieform, aber unsere Regierung sagt, dass keine Gefahr für unsere Gesundheit besteht, und ich glaube der Regierung."
"Koodankulam ist ein absolutes Muss bei unserem Energiemangel. Das Leben ist doch immer in Gefahr. Durch Kriege, durch wilde Tiere, oder wenn ich im Zug oder im Auto sitze. Unfälle passieren eben. Aber Koodankulam wird für neue Energie sorgen. Energie ist unverzichtbar für menschliches Leben. Energie ist genauso unverzichtbar wie Wasser und Milch. Auch die Ärmsten brauchen Energie, um sich zu entwickeln."
Für Gopal, der ein kleines Hotel in Kanyakumari betreibt, sind Atomkraftgegner Staatsfeinde. Sie sehnen eine stabile Energieversorgung herbei:
"Unsere Fischer werden von irgendwelchen Anführern gegen die Atomkraft aufgehetzt. Wahrscheinlich kriegen die Anführer viel Geld aus dem Ausland, um das Kraftwerk in Koodankulam zu stoppen. Aber was soll das? Wir brauchen dringend Energie, auch für ein kleines Hotel wie meins. Hier hat jedes Hotel einen Dieselgenerator. Der muss laufen, auch wenn wir nur zu zehn Prozent ausgelastet sind. So machst du nur Verlust.“
Indiens Dilemma
Indien gewinnt zwei Drittel seiner Energie aus Kohle. Die derzeit 21 Atomreaktoren sorgen für rund drei Prozent. Premierminister Narendra Modi will den Anteil in den nächsten zehn Jahren verdreifachen durch Duzende neuer Reaktoren. Indiens Dilemma: Fast 400 Millionen Inder haben noch keinen Zugang zum Stromnetz und die Bevölkerung wächst rasant, die Industrialisierung nimmt zu, der Energiehunger steigt.
Schon jetzt gehören stundenlange Stromausfälle zum Alltag und lähmen das Wirtschaftswachstum. Der Protest der Fischerfamilien konnte das Hochfahren des ersten Reaktors verzögern. Doch seit Sommer 2013 ist er am Netz. Der zweite soll bald anlaufen, zwischen vier und sechs weitere sollen folgen. Noch größer gebaut wird im Westen Indiens. Dort soll das größte Kernkraftwerk der Welt entstehen.
Die Fischer rund um Koodankulam wollen weiterkämpfen. Ihr Anführer Udayakumar sieht sich und seine Mitstreiter in der Tradition des großen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi:
"Unser Kampf ist ein Kampf im Sinne Gandhis. Doch diejenigen, die Gandhi und seine Werte vergessen haben, verdächtigen uns. Wir werden weitermachen. Das System ist böse und das Projekt in Koodankulam ist böse. Gandhi hat uns gelehrt, dass wir uns gegen das Böse zur Wehr setzen müssen – durch zivilen Ungehorsam. Wir werden nicht nachgeben, auch wenn sie uns zusammenschlagen oder töten. Wir sind auf alles vorbereitet."