Atomare Megawaffe

Von Ralf Geißler · 09.08.2006
1958 wurde die Neutronenbombe in den USA entwickelt. Doch erst 1981 verkündete US-Präsident Ronald Reagan den Bau der Waffe. Über keine andere Bombe wurde während des Kalten Krieges so heftig diskutiert.
Eine Stadt nach einem Atomschlag: Alles Leben ist vernichtet, doch auf den Straßen parken Autos, als wäre nie etwas geschehen. Häuser und Fabriken stehen noch. In den Bibliotheken stauben die Bücher ein. Die menschenleeren Kaufhäuser sind sortiert wie immer, die Schaufenster unversehrt.

Diese Vorstellung ist keine Spinnerei, sondern im Bereich des Möglichen – dank einer Erfindung des amerikanischen Physikers Samuel Cohen. Er entwickelte im Auftrag der US-Armee 1958 die Neutronenbombe. Eine Atomwaffe, die das Leben zerstört, aber Sachwerte erhält. Skrupel hatte Cohen wegen seiner Erfindung nie.

"Wenn man mich fragt, ob es denn nicht fast unmoralisch ist, Menschen zu töten und Eigentum zu schonen, dann sage ich immer: Die Menschen – das sind die feindlichen Soldaten. So ist das im Krieg. Das Eigentum ist das Eigentum der Zivilbevölkerung. Und es ist doch sicher moralisch, das Eigentum der Zivilbevölkerung zu schonen."

Charakteristisch für Cohens Neutronenbombe ist ihre hohe Strahlung. Sie tötet schneller als herkömmliche Atomwaffen. Druckwelle und Hitzeentwicklung sind geringer. Und die Strahlenbelastung baut sich schneller wieder ab. Cohen glaubte, dass seine Waffe einen Dritten Weltkrieg schnell entscheiden könne, ohne große Verwüstungen zu hinterlassen. Er sprach deshalb von der "sauberen Bombe". In den 60er Jahren warb er bei der US-Regierung unermüdlich für den Bau seiner Erfindung.

"Es ist bei Weitem die effektivste und differenzierteste Waffe, die jemals erfunden wurde. Das hört sich sehr angeberisch an. Aber es ist wahr. So etwas hat es noch nie gegeben."

Doch viele Jahre blieb Cohen mit seinem Werben erfolglos. Die US-Regierung hatte im Kalten Krieg kein Interesse an einer Waffe, die Sachwerte erhält. Erst 1978 zog US-Präsident Jimmy Carter den Bau der Neutronenbombe in Erwägung. Doch wegen starker Bedenken der verbündeten NATO-Staaten wurde das Vorhaben wieder gestoppt. Auch innerhalb der USA reagierten viele erleichtert, so der Senator aus Arizona Dennis de Conzini.

"Meiner Meinung nach war es eine kluge Entscheidung. Ich bin gegen die Einführung einer Neutronenbombe zum jetzigen Zeitpunkt. Und ich bin froh, dass sich der Präsident dagegen entschieden hat."

Inzwischen war Cohen politischer Berater des kalifornischen Gouverneurs Ronald Reagan geworden. Als der zum Präsidenten gewählt wurde, war der Bomben-Entwickler am Ziel. Am 9. August 1981 kündigte Reagan die Produktion der Waffe an. In der deutschen Politik wurde Reagans Beschluss heftig diskutiert. Der SPD-Politiker Egon Bahr hatte die Neutronenwaffe schon 1978 eine "Perversion des Denkens" genannt. Er kritisierte Reagans Entscheidung.

"Ich halte sie für falsch, weil diese Waffe nicht geeignet ist, unsere Sicherheit zu erhöhen, weil sie die Möglichkeit einer atomaren Auseinandersetzung vergrößert, weil die atomare Schwelle verringert wird."

Bundeskanzler Helmut Schmidt befürwortete hingegen die Waffe. Die Diskussion schlug hohe Wellen. So war in einem Kommentar der "Welt" zu lesen, hätte es die Neutronenbombe schon 1945 gegeben, würde das barocke Dresden noch stehen. Ungeachtet der Auseinandersetzungen ließen die USA 700 Neutronenbomben herstellen. Sie sollten ausschließlich in Europa stationiert werden.

Die Friedensbewegung wurde durch Reagans Beschluss gestärkt. Hunderttausende gingen Anfang der 80er Jahre für Abrüstung auf die Straße.

""Was wollen Sie mit dieser Demonstration erreichen?"

"Dass dieser Rüstungswahnsinn mal aufhört."

"Ich finde im Moment, der Weltfrieden war noch nie so bedroht wie augenblicklich. Und ich erwarte, dass die Politiker aufmerksam werden und mehr für die Friedenspolitik tun.""

Die Proteste zeigten Wirkung. Wegen massiver Bedenken der Verbündeten verzichteten die USA auf eine Stationierung der Waffe in Europa. Reagans Nachfolger George Bush kündigte schließlich die Vernichtung aller amerikanischen Neutronenwaffen an. Bis heute ist die Bombe nie eingesetzt worden. Doch vergessen ist Cohens Erfindung nicht. 1999 behauptete die chinesische Regierung, auch sie sei nun imstande, Neutronenwaffen herstellen zu lassen.