"Asylsuchende haben in Deutschland keine Lobby"

Asylbewerberin mit Kind auf dem Gelände der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt
Asylbewerberin mit Kind auf dem Gelände der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt © picture alliance / ZB / Patrick Pleul
Klaus J. Bade im Gespräch mit Katrin Heise · 27.05.2013
Vor 20 Jahren wurde der so genannte Asylkompromiss geschlossen - das Ziel: Asylbewerber sollten abgeschreckt werden. Die Politik habe mit diesem Beschluss rechtsextreme Kreise besänftigen wollen, sagt der Historiker Klaus J. Bade. Auch die Rolle der EU kritisierte er: Sie führe an ihren Außengrenzen "eine Art Krieg gegen Flüchtlinge".
Katrin Heise: Die Asyldebatte Anfang der 90er-Jahre war eine der am schärfsten geführten Debatten im gerade wiedervereinigten Deutschland. Es herrschte ein Klima, in dem Anschläge auf Asylbewerberheime in erschreckender Zahl zunahmen. der Druck war enorm, und letztendlich entstand in diesem gesellschaftlichen Klima der Asylkompromiss, der sogenannte, der vor genau 20 Jahren quasi Asylsuchende gar nicht mehr nach Deutschland durchließ.

Der Asylantrag ist in dem Land eben zu stellen, in dem der Flüchtling eintrifft – Asylsuchende sollten abgeschreckt werden. Weitere Mittel, teilweise schon in den 80er-Jahren ergriffen, sind beispielsweise die Residenzpflicht, der Aufenthaltsort ist also genau festgelegt, und das Arbeitsverbot für Asylsuchende.

Seit dem vergangenen Jahr setzen sich erstmals die Flüchtlinge und Asylsuchenden selber massiv zur Wehr dagegen, mit Protestmärschen, mit Flüchtlingscamps in Städten oder auch sogar mit Hungerstreikaktionen.

Am Telefon, da begrüße ich jetzt den Migrationsexperten Klaus Bade, er war Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates für Integration und Migration. Schönen guten Tag, Herr Bade!

Klaus Bade: Tag, Frau Heise!

Heise: Woran erinnern Sie sich besonders, wenn wir an die Zeit von vor 20 Jahren denken?

Bade: Ich erinnere mich, wenn ich das zusammenfassen soll, einmal an einen Traditionsbruch und zum anderen an zwei blutige Kontinuitäten. Der Traditionsbruch lag darin, dass das nur vier Worte umfassende offenste Asylrecht Europas – "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" – gebrochen wurde, denn das war die Erinnerung an den Nationalsozialismus, an die deutschen NS-Flüchtlinge, die zum Teil aufgenommen, zum Teil auch nicht aufgenommen wurden und von der Schweiz aus, zumal dann, wenn sie nicht genug Geld dabei hatten, direkt ins Gas zurückgeschickt wurden nach Deutschland, wenn sie Juden waren. Das war ein schwerwiegender historischer Bruch mit dieser Tradition, da gab es eine gewaltige Diskussion drum herum.

Das Zweite sind zwei blutige, ja, Kontinuitäten, die von diesem weiteren Zusammenhang der deutschen und der europäischen Asylrechtsdiskussion der frühen 90er-Jahre ausgegangen sind. Auf der europäischen Ebene ist das das Heraufsteigen der Festung Europa mit einer Art Krieg gegen Flüchtlinge, der inzwischen rund 20.000 Tote an den europäischen Außengrenzen gekostet hat.

Es gibt aber auch eine blutige Kontinuität in Deutschland selber: Nicht zu Unrecht haben viele Stimmen damals den Asylkompromiss als ein Zurückweichen gegenüber Rechtsextremisten verstanden, gegenüber Neonazis, die sich als kleine radikale Minderheit missverstanden, als Vertreter der schweigenden Mehrheit.

Unmittelbar nach dem 26. Mai ist am 29.5. bekanntlich in Solingen dieser furchtbare Brandanschlag verübt worden von Rechtsradikalen, dem sechs türkische Menschen zum Opfer gefallen sind.

Damals – und das ist das Wichtige jetzt im Blick bis herauf zum NSU, der nun gerade in München verhandelt wird, dem nationalsozialistischen Untergrund –, damals ist das Stichwort der ethnischen Säuberungen von den Balkankriegen kommend auch in Deutschland in Mode gekommen, und rechtsradikale Kreise haben dieses aufgenommen. Das gilt auch zum Beispiel für die spätere Mörderbraut Zschäpe, die Anfang der 90er-Jahre sagte: "Zuerst müssen jetzt mal die Ausländer weg". Da gibt es eine direkte, blutige Kontinuität, denn diese Leute sind in ihrem Bewusstsein in Thüringen aufgewachsen, und in Thüringen war es Tradition sozusagen, das Zurückweichen des Staates gegenüber Rechtsradikalen. Das Ergebnis sehen wir, und zurzeit wird es in München verhandelt. Diese beiden Kontinuitäten sollte man in Erinnerung behalten – also eine traurige Bilanz.

Heise: Eine sehr traurige Bilanz, eine Bilanz, die aber auch immer wieder von Protesten, von Aufregung durchbrochen wird, immer wieder von Leuten, die sich dagegenstellen. Oder würden Sie sagen, das öffentliche Interesse, was ist davon inzwischen, jetzt übrig geblieben?

Bade: Das öffentliche Interesse ist stark zurückgegangen. Nun kann man sehen, dass auch die Zahlen, um die es da geht, nicht mehr sonderlich dramatisch sind. Es gibt ungefähr 65.000 Asylsuchende in der Bundesrepublik Deutschland – bei 81 bis 82 Millionen Menschen ist das ja nicht sehr viel, auch im europäischen Vergleich. Es gibt zwar steigende Zahlen jetzt wieder aus Serbien und aus Mazedonien, nachdem die Europäische Union ganz bewusst die Visumspflicht dort abgeschafft hat. Es gibt die Neueinrichtung von Asylbewerberheimen. Das führt ganz prompt nun wiederum bei Rechtsradikalen zu entsprechenden Protesten.

Aber das Thema ist nicht mehr im Vordergrund, es gibt andere Themen, die im Vordergrund sind, die Feindbilder haben sich gewandelt. Es gibt zum einen das Feindbild Muslim und Islam, es gibt zum anderen das Feindbild Armenwanderung, hinter dem das Feindbild Roma und dahinter das Feindbild Zigeuner steht. Also das hat sich ein Stück weit deutlich gedreht.

Heise: Also das heißt, das gesellschaftliche Klima ist nach wie vor, wird von Ihnen negativ beschrieben, aber das reduziert sich nicht, sage ich mal, auf Asylsuchende, denn die sind zahlenmäßig einfach nicht mehr die Gruppe, die man da angreifen will.

Bade: Ja, es ist richtig, man könnte sagen, wir leben in einer paradoxen Situation, was die Integration angeht. Sie gelingt eigentlich immer besser – minus bestimmte ausgegrenzte Gruppen, als da sind zum Beispiel Muslime, Stichwort Islam, oder aber Armenwanderung, Stichwort Roma. Da spielen sich diese Dinge ab, und man muss sehr genau darauf achten, denn dieses sind immer die Eingangstickets für Rechtsradikale und Rechtsextremisten in ganz Europa, das Ausgrenzen bestimmter Minderheiten und der Kampf gegen diese Minderheiten nach dem Motto: Wir müssen zusammenstehen, sonst kommen sie über uns.

Heise: Vor 20 Jahren wurde der Asylkompromiss im Bundestag beschlossen, ich spreche darüber im Deutschlandradio Kultur mit Klaus Bade. Herr Bade, der heutige Protest beziehungsweise seit vergangenem Jahr der Flüchtlinge, die Protestcamps, die Demos, die Hungerstreiks gegen ihre Situation – hätten Sie mit dem Mut der Betroffenen gerechnet, sich so zu engagieren?

Bade: Ich hätte nicht mit diesem Mut gerechnet, denn es ist unerhört riskant. Die Ausländerämter sind durch das Zuwanderungsgesetz von 2005 sehr viel stärker, sehr viel kraftvoller geworden, sie können sehr viel mehr existenziell sozusagen entscheiden. Und diese Leute, die das machen, riskieren die Abschiebung – das war schon sehr viel.

Nun, die Asylsuchenden haben in Deutschland keine Lobby, es gibt ProAsyl, es gibt Amnesty International, es gibt die Kirchen, es gibt private Initiativen, das ist es dann aber auch schon, die haben sozusagen keine Gewerkschaft. Also haben sie sich selber darum gekümmert, um ihre Rechte zu kämpfen, und da ist also auch eine ganze Menge im Argen, was sie dann also auch vorgetragen haben.

Heise: Deutschland hat ja kaum eine koloniale Vergangenheit, das heißt also auch im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich, selbst zu den kleinen Niederlanden oder Belgien. Überall dort sind Menschen mit anderer Hautfarbe allein schon wegen der kolonialen Herkunft und damit auch Teil des Mutterlandes ja schon seit Jahrzehnten auch im öffentlichen Bild selbstverständlich, das ist bei uns nicht so, nicht immer so gewesen. Sie werden oder wurden jedenfalls immer eher als Fremde gesehen. Würden Sie sagen, dass diese Tatsache auch mitschwingt bei unserer Asylpolitik überhaupt, bei unserer Migrationspolitik?

Bade: Ein Stück weit schwingt das mit im öffentlichen Empfinden bis hin zur Polizei. Man spricht von dem Racial Profiling, also von der Frage, ob Polizisten zu Recht Menschen, die anders aussehen, als erste ansprechen, wenn es darum geht, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Das ist etwas, was in Frankreich oder in den Niederlanden in diesem Maße nicht vorkommt.

Ich würde das nicht unbedingt auf die Kolonialzeit bis dahin zurückführen, aber ein Stück weit an Auffälligkeit, die zu Irritationen führt, unterscheidet sich Deutschland doch von Ländern mit kolonialer Tradition, in denen das Prinzip gilt, we are here because you were there, das heißt, wir sind hier, weil ihr damals da gewesen seid, also wundert euch nicht, dass wir hierher gekommen sind. Das gibt es in Deutschland natürlich nicht zu beobachten, ja.

Heise: Nachdem wir jetzt zurückgeblickt haben, 20 Jahre auf jeden Fall zurückgeblickt haben, jetzt mal ein Blick, ja, 20 Jahre voraus vielleicht. Wie werden Ihrer Meinung nach Historiker, wie als auch Historiker der neuesten Geschichte, wie werden Historiker auf das Jahr 2013 zurückblicken?

Bade: Nun ja, sie werden zunächst einmal auflisten, was alles eigentlich nicht umgesetzt worden ist. Da ist nach wie vor die Behandlung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die noch immer nicht der europäischen Kinderrechtskonvention entspricht. Da ist noch immer das zurückgehaltene Recht auf Arbeit in vielen Fällen. Da ist noch immer weniger Kooperation mit schwachen Staaten wie zum Beispiel Griechenland, und mehr Delegation dorthin. Dort ist immer noch das Waschen der eigenen Hände in Unschuld nach dem Motto: Wir folgen ja nur dem Gesetz. Da ist immer noch die unzureichend kontrollierte europäische Abwehragentur Frontex, die das Europäische Parlament nicht zureichend kontrollieren kann, da ist immer noch die schwache Stellung des UNHCR.

Insgesamt, würde ich sagen, würden Historiker in 20 Jahren, die zurückblicken, sagen, das ist insgesamt ein ungeheuerlicher Skandal, der erst dann hätte aufgehoben werden können, wenn der Abgrenzung Europas gegen Flüchtlinge aus aller Welt eine zureichende Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen, also der Fluchtursachen, in den Herkunftsgebieten entsprechen würde. Und das ist nicht der Fall. Und so lange bleibt das ein Skandal – alle haben es gewusst, alle haben es verdrängt. Es gibt Grund genug, diese Zukunft als wenig erfreulich im rückblickenden Urteil zu betrachten.

Heise: Nach 20 Jahren Asylkompromiss also sehr, sehr viel noch zu tun, klagt der Migrationsexperte Klaus Bade. Herr Bade, danke schön für dieses Gespräch!

Bade: Gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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