Astrologie-Begeisterung

Opium für die Millennials

04:18 Minuten
Während ein junger Mann auf sein Smartphone schaut, beleuchtet das Display sein Gesicht.
Warum Tierkreiszeichen und Aszendenten längst kein Nischengeschäft für alternde Zielgruppen mehr sind, weiß Ann-Kristin Tlusty. © Unsplash / Eddy Billard
Beobachtungen von Ann-Kristin Tlusty · 05.01.2021
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Was bringt 2021? Um das zu erfahren, studieren jetzt manche ihr Horoskop. In der digitalen Welt findet geradezu ein Sternzeichen-Boom statt. Besonders junge Menschen nutzen regelmäßig ihre Astrologie-Apps, auch die Journalistin Ann-Kristin Tlusty.
Willkommen in meinen Sternen. Montag war ein guter Tag für meine Kreativität. Am Dienstag sollte ich mich vor der Welt verstecken. Der Mittwoch stand im Zeichen einer mutigen Veränderung – behauptet zumindest meine Astro-App "Co-Star", die mir täglich per Push-Nachricht mein Horoskop schickt. Das könnte mich verwirren – aber als Zwilling bin ich schließlich flexibel und anpassungsfähig.
Mein Horoskop zu deuten, wird mir in Apps, Podcasts und auf Instagram angeraten. Selbst das in diesem Jahr erstmalig in Deutschland erschiene "Jacobin"-Magazin, das den demokratischen Sozialismus wiederbeleben möchte, veröffentlicht in jeder Ausgabe ironische Horoskope für die spirituelle Vergesellschaftung.
Und als mir im Sommer jemand bei einem Date die Frage stellte, ob wir, bevor wir uns nun näher kennen lernten, doch erst mal schauen wollten, wie die Sterne für uns stünden, war ich kaum verwundert.

Astrologie ist im Netz ein Hit

Millennials lieben die Astrologie. Tierkreiszeichen und Aszendenten sind schon lange kein Nischengeschäft auf AstroTV für esoterisch alternde Zielgruppen. Sie sind selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen Repertoires der zwischen 20- und 40-Jährigen, weniger als metaphysische Autorität denn als spielerischer Anlass, mal wieder über sich selbst zu sprechen.
Doch woher rührt diese Begeisterung? Ist sie postfaktisches Krisensymptom? Selbstoptimierung im spirituellen Mantel? Oder Opium der Millennials?
Als die mit Abstand erfolgreichste Astrologie-App verspricht "Co-Star" mehr Aufschluss. Schließlich handelt es sich nicht um irgendeine Astrologie-App. Stolz gibt das New Yorker Unternehmen an, mit Daten der NASA zu arbeiten. Der Algorithmus, der auf Geburtsdatum, -ort und -uhrzeit aufbaut, ist streng geheim.
Nur eines steht fest: Die Push-Mitteilungen, die "Co-Star" täglich an seine fast acht Millionen Nutzerinnen und Nutzer weltweit verschickt, sind hyperpersonalisiert. Man ist also nicht länger ein Sternzeichen unter zwölf, sondern ein ganz besonderes unter unendlich vielen.

Hyperpersonalisierte Horoskope besonders erfolgreich

Der Soziologe Andreas Reckwitz bezeichnet den Reiz des Individualisierten als "soziale Logik des Besonderen". In seinem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" identifiziert er sie als einen der größten Trends der Spätmoderne. Wir wollen demnach unvergleichbare, nicht austauschbare Erlebnisse sammeln – und uns in diesem Sinne auch nicht länger mit allgemeinen Horoskopen begnügen, die unseren ausdifferenzierten Identitäten nicht gerecht werden.
Das moderne Subjekt lässt sich nur von dem affizieren, was perfekt auf die eigene Persönlichkeit zugeschnitten ist. Doch Reckwitz' Analyse allein erklärt noch nicht, warum selbst Menschen, die sonst nicht postfaktischem Denken anhängen, alarmiert sind, wenn Merkur rückläufig ist.
Was die Kohorte der nach 1980 Geborenen vereint, ist ein Grundzustand der Unsicherheit. Diejenigen, für die 9/11 und die Erkenntnis über die Klimakatastrophe die ersten entscheidenden weltpolitischen Berührungspunkte waren, finden in der deterministischen Logik der Astrologie womöglich Halt – ohne sich mit einer Welt, die ihnen weder Wohlstand noch Frieden verspricht, auseinandersetzen zu müssen. (*)

Adornos Kritik an der Sternendeutung

"Gelähmt wird der Wille, etwas an der objektiven Fatalität zu ändern", befand schon Theodor W. Adorno zum Phänomen des Zeitungshoroskops. "Alles Leiden", schrieb er, "wird ins Private relegiert." Wer nicht länger über die Veränderlichkeit der Welt nachdenkt, kann seine Gedanken entspannt dem eigenen Sein widmen – und dabei vergnügt die Sterne konsultieren.
Adorno diagnostizierte, dass die Horoskop-Lektüre "mächtige libidinöse Ressourcen der Eitelkeit" freisetze. Liegt das Geheimnis des Astrologie-Booms letztendlich doch nur im Narzissmus, der Millennials oftmals attestiert wird?
Mein Date jedenfalls war gekränkt, als die Sterne außerordentlich schlecht für uns standen.

Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, arbeitet als Redakteurin bei "ZEIT ONLINE". Studium der Kulturwissenschaften und Psychologie. Lebt in Berlin.



© Nico Blacha
(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben einen Satz im Text gestrichen, der aus einer Vorversion stammte.
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