Asiatische Supermacht auf dem Vormarsch

20.02.2007
Ein Stahlwerk wird in Deutschland demontiert und in China wieder aufgebaut. Und: Eine italienische Modestadt wird quasi von chinesischen Geschäftsleuten übernommen. Das sind zwei Beispiele anhand derer James Kynge den Niedergang der europäischen Industrie und den Aufstieg der chinesischen Wirtschaft beschreibt.
Es ist nicht neu zu lesen, dass mit dem aufstrebenden China weltweit etwas in Gang gekommen ist, das in beinahe jeden Winkel vordringt. Aber mit dem englischen Autor James Kynge schreibt jemand über die aufsteigende neue asiatische Supermacht, der die Sache von innen her betrachtet, aus eigener Anschauung und mit eigenen Erfahrungen in China selber.

Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Beispiel zum China-Buch des Spiegel-Journalisten Gabor Steingart, der kürzlich sein Buch über den "Weltkrieg um Wohlstand" veröffentlichte. Während Steingart dies aus der Ferne schrieb, verfügt Kynge über langjährige Erfahrung in China selber, zunächst als Student, später von 1998 bis 2005 als Büroleiter der Financial Times in Peking. Für das Buch hat er zudem eine Reihe von Reisen unternommen in westliche Länder, um konkrete wirtschaftliche Wirkungen des chinesischen Aufstiegs zu erkunden. Dabei ist ein fesselndes Buch entstanden, das man vergleichen kann mit den Werken des polnischen Ausnahme-Journalisten Richard Kapuscinski: präzise, vorurteilsfrei, mit starken Reportageelementen, kenntnisreich, abgesichert durch persönliche Erfahrungen und spannend zu lesen wie ein Roman.

Kynge beginnt sein Buch, und das ist für den deutschen Leser natürlich frappierend, in Dortmund. Er beschreibt den Abbau eines der größten Stahlwerke hierzulande, das nach China verschifft, dort wiederaufgebaut wird, und dann mit billigeren Arbeitskräften deutschem Stahl besonders für die Automobilproduktion Konkurrenz macht. Kynge beschreibt, wie die chinesischen Arbeiter in Dortmund-Hörde nicht wie die deutschen Kollegen 35 Stunden in der Woche arbeiten, sondern 84: zwölf am Tag, sieben Tagen die Woche, diszipliniert, kompetent. Schon auf den ersten Seiten des Buches macht Kynge also deutlich, in welch harten Wettbewerb Deutschland – und alle anderen Industriestaaten - gezogen worden ist. Und dann reist Kynge nach China an den Yangzi-Fluss, um mit dem Mann dort zu sprechen, der das Stahlwerk in Deutschland gekauft hat. Er leitet eines dieser privaten Unternehmen, das mit der partiellen Öffnung des Kommunismus für die Marktwirtschaft entstanden ist. Dort lässt er sich die Rechnung erklären, die es für den Chinesen überaus interessant macht, ein deutsches Stahlwerk für den Altmetallwert von 24 Millionen Dollar zu kaufen. So lernt der Leser plastisch den Abfluss von Arbeit und Wohlstand aus Deutschland nach China kennen.

Kynge beschreibt mehrere dieser Beispiele von Niedergang, ausgelöst durch chinesisches Vordringen von Arbeitskräften und Produkten. Ein weiteres neben Dortmund ist die traditionsreiche italienische Textil-Stadt Prato nahe Florenz. Dort tauchen erst chinesische Billig-Arbeiter auf, die für einen kurzen Boom sorgen. Dann fangen sie selber an, Firmen zu gründen, die bald ihre Rotstoffe aus China beziehen und dann auch die fertigen Stoffe, bis schließlich ganze Design-Abteilungen nach China abwandern und damit der italienische Wissens- und Kulturvorsprung, zum Beispiel für die exquisiten italienischen Krawatten, nach China verschwunden ist.

Entscheidender Unterschied bleibt bislang nur die Marke. Niemand will chinesische Marken, die kein Image haben und billig aussehen. Aber die großen westlichen Modemarken zum Beispiel lassen in China fertigen und streichen damit große Gewinne ein. Die Chinesen sind deshalb bestrebt, Weltmarken aufzukaufen, wie es der Computerhersteller Lenovo mit der PC-Sparte von IBM getan hat. Damit ist aber natürlich auch ein enormer Wissenstransfer verbunden, vor allem, wenn ausländische Firmen in China selber produzieren. So mussten beispielsweise japanische Motorrad-Hersteller, die in China Firmen betreiben, mitansehen, wie chinesische Konkurrenten in kürzester Zeit einfach jedes Detail ihrer Maschinen kopierten, bis sie dann ein verblüffend ähnliches Modell auf den Markt brachten – zu einem Drittel des japanischen Preises.

Kynge spricht die Konsequenz aus dem Hunger Chinas nach Erfolg klar aus: Wenn wir uns nicht auf das Wesentliche im Wettbewerb konzentrieren, und das heißt auch, auf vielen Komfort zum Beispiel bei der teuren sozialen Sicherung zu verzichten, macht uns China die Hölle heiß.

Das Buch wäre nicht vollständig, wenn es nicht auch die Probleme Chinas behandelte. Diese sind gewaltig: mit der Vernichtung von Umwelt (zu Lasten der ganzen Welt), beim gewaltigen Bedarf an Arbeitsplätzen für die 1,3 Milliarden Menschen, beim widersprüchlichen Regierungssystem, durch den gewaltigen Energie- und Rohstoffhunger, der die weltweiten Ressourcen schnell übersteigen wird und technologische Revolutionen erzwingt, und nicht zuletzt auch durch die militärische Unterfütterung des chinesischen Großmachtstrebens, das in zunehmende Konkurrenz zu den USA gerät.

Das Buch ist dem Leser wärmstens zu empfehlen, und zwar nicht nur einem, der sich für China interessiert. Denn jeder erlebt inzwischen den Einfluss Chinas auf seine Lebensverhältnisse, in Form von billigen Textilien oder im großen im Verlust von Arbeitsplätzen. Das besser zu verstehen, dazu trägt Kynges Buch vieles bei. Allerdings lässt es den Leser in einem Punkt auch etwas ratlos zurück. Nach der Beschreibung der Globalisierung und den Problemen Chinas hätte man gerne mehr darüber erfahren, wie die etablierten Industriestaaten darauf reagieren sollen und wie besser nicht. Aber da ist Kynge manchmal, so wie die Bewohner der italienischen Textil-Stadt Prato, wohl selber ratlos.

Rezensiert von Andreas Abs

James Kynge: China. Der Aufstieg einer hungrigen Nation
Übersetzt von Claudia Preuschoft
Murmann Verlag, Hamburg 2006
294 Seiten, 19,50 Euro