"Jeder Mensch kann Schaden nehmen"
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Vor 34 Jahren kam es zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Derzeit gibt es neue Sorge vor radioaktiver Strahlung wegen Waldbränden nahe der AKW-Ruine. Vor allem Löscharbeiter und Kinder seien gefährdet, sagt der Berliner Arzt Alex Rosen.
Birgit Kolkmann: Eine tödliche Gefahr, die man nicht riecht, nicht hört, nicht schmeckt, nicht sieht – ganz ähnlich wie jetzt in der Coronakrise war das damals vor 34 Jahren, als in Tschernobyl ein Reaktorblock explodierte und die radioaktive Wolke über ganz Europa zog und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Es starben viele Menschen, es könnten Hunderttausende sein, genau weiß man das nicht.
Gedenkfeiern wird es heute nicht in der Ukraine geben, das liegt nicht nur an der Pandemie, sondern an den verheerenden Waldbränden rund um Tschernobyl. Trotz internationaler Hilfe gelingt es bislang nicht, sie zu löschen.
Alex Rosen ist Berliner Kinderarzt und Vorsitzender der deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Droht eine neue radioaktive Wolke, wenn verseuchte Bäume brennen?
"Die Situation kann sich jeden Tag ändern"
Alex Rosen: Aktuell ist es so, dass wir tatsächlich erhöhte Werte von radioaktivem Caesium in den Messstationen in der Ukraine haben, allerdings keine relevant erhöhten Strahlenwerte. Das bedeutet, wir sehen Folgen, wir messen Folgen von den Waldbränden – ja, Radioaktivität wird freigesetzt. Aber es reicht Gott sei Dank noch nicht an die Werte von damals heran, es ist ungefähr ein Tausendstel der Caesium-137-Konzentration, so dass aktuell laut Angaben der ukrainischen Behörden noch keine relevante Gefährdung der Bevölkerung durch die Strahlung herrscht. Lediglich durch die Rauchschwaden, also die üblichen Folgen eines Waldbrandes.
Birgit Kolkmann: Das kann sich natürlich ändern, wenn die Waldbrände nicht unter Kontrolle zu bekommen sind und vielleicht radioaktive Depots im Wald aufgewirbelt werden. Was bedeutet das für die Menschen, die dort in der Nähe sind?
Alex Rosen: Genau so ist es, die Situation kann sich quasi jeden Tag ändern. Es hängt wie immer in solchen Fällen von der Windrichtung und von der Windstärke ab. Es gibt ganz viele Areale dort in der Sperrzone, die hoch radioaktiv verstrahlt sind, wo also eine hohe Gefahr bestehen würde. Unsere Sorge ist natürlich erst einmal für die Frauen und Männer, die dort gerade die Feierlöscharbeiten machen. Das sind mehrere tausend aktuell, die wirklich auch teilweise ohne adäquate Strahlenschutzkleidung dort arbeiten müssen und hohen Strahlenwerten ausgesetzt sind. Nicht vergleichbar damals mit dem Super-Gau – trotzdem erhöhte Strahlenwerte, höher als bei einem normalen Waldbrandeinsatz.
Es droht eine "Sekundärverstrahlung"
Es ist natürlich so, dass die Sorge besteht, dass wenn tatsächlich der Sarkophag und die Abklingbecken der Reaktoren 1 bis 3 oder andere hochradioaktive Zentren von den Waldbränden getroffen werden, dann auch die Bevölkerung in den umliegenden Regionen in der Ukraine, in Weißrussland relevante Mengen an Radioaktivität abbekommen. Radioaktives Jod ist aktuell kein großes Thema, denn es handelt sich ja nicht um einen frischen Atomunfall, sondern es geht vor allem um die Sekundärverstrahlung, das heißt radioaktiver Niederschlag von damals – vor allem Strontium und Caesium, die dann wieder aufgewirbelt werden. Von damals ist kein radioaktives Jod mehr übrig.
Birgit Kolkmann: Was bedeutet das vor allen Dingen für die Kinder? Welche Krankheiten können durch solch eine Belastung entstehen?
Alex Rosen: Jeder Mensch kann Schaden nehmen, die Kinder ganz besonders, weil deren Immunsystem noch nicht so resistent ist gegen krebserregende Substanzen wie zum Beispiel Strahlung. Strontium ist vor allem ein Stoff, der Leukämie und Knochenkrebs auslöst, weil er sich wie Kalzium im Knochen absetzt und das umliegende Gewebe verstrahlt. Radioaktives Caesium wird wie Kalium im Körper verstoffwechselt, das heißt, es erreicht alle Zellen, alle Gewebe, und kann im ganzen Körper zu soliden Tumoren führen.