Arthur Schnitzler

"Ich bin ein Dichter für Schwindelfreie"

Porträt von 1900: Arthur Schnitzler im Anzug, in selbstbewusster Pose mit der Hand in die Hüfte gestemmt.
Spüren, wie brüchig der Boden der Wirklichkeit sein kann: Arthur Schnitzler wusste viel über die verborgenen Triebe und Ängste seiner Zeitgenossen. © imago / Leemage / Ferdinand Schmutzer
Von Eva Pfister · 14.05.2022
Wie kaum ein anderer Schriftsteller steht Arthur Schnitzler für die Literatur des Wiener Fin de Siècle. Er diagnostizierte die Albträume seiner Generation: ihre enttäuschten Liebeswünsche, die Lebensangst und die verzweifelte Suche nach einem Sinn.
In den letzten Jahren der Habsburger Monarchie, die von der politischen Lähmung des Wiener Bürgertums geprägt war, war die "Liebelei" quer durch die sozialen Schichten von Zynismus geprägt - und entpuppt sich in Schnitzlers Texten oft als Flucht vor der Depression. Wie sein Zeitgenosse Sigmund Freud interessierte sich der Dichter für das Unbewusste und stellte die Vorgänge in den Tiefenschichten der Seele auf der Traumbühne seiner Novellen und Theaterstücke aus.
In seinen letzten Lebensjahren hatte Schnitzler selbst damit begonnen, aus seinen Tagebüchern seine Träume herauszufiltern, um sie in einem eigenen Buch zu versammeln. Es ist ein Spiegel seiner Seele geworden, aber auch ein Spiegel seiner Zeit, denn neben erotischen Wünschen und Todesängsten fand auch der Alltag Eingang in die Träume.

Paarbegegnungen, die im Beischlaf münden

"Reigen" ist ein frühes Stück Schnitzlers. Er schrieb diese Szenenfolge von Paarbegegnungen, die stets in einen Beischlaf münden, schon als 24-jähriger, hielt das Manuskript aber unter Verschluss. Im Jahr 1900 gab er den Text als Privatdruck heraus; aber erst 1920 in Berlin und 1921 in Wien wurde der "Reigen" aufgeführt, und das führte zum größten Skandal im Leben des nun schon fast 60-jährigen.
Das Buchcover von Arthur Schnitzlers "Der Reigen". Buchschmuck von Berthold Löffler, Wiener Verlag 1903.
Buchcover von Arthur Schnitzlers "Der Reigen" aus dem Jahr 1903.© Getty Images / Imagno
Obwohl an den entscheidenden Stellen jeweils der Vorhang fiel - der Beischlaf also nur in der Fantasie der Zuschauer stattfand -, wurde das Stück als Obszönität wahrgenommen. Es war allerdings bereits eine politisch motivierte Empörung: Sowohl in Wien als auch in Berlin waren es organisierte Demonstranten aus dem völkischen Lager, die in das Theater eindrangen und die Zuschauer bedrohten.
Direktion und Ensemble des Kleinen Schauspielhauses in Berlin wurden sogar wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt; der berühmte "Reigenprozess" endete im November mit Freispruch, und damit mit einem - vorläufigen - Sieg der Freiheit der Kunst.

Angriffe und antisemitische Schmähungen

Aber Schnitzler war durch die Angriffe und die damit verbundenen antisemitischen Schmähungen tief verstört. "Unter den zahlreichen Affären meines Lebens ist es wohl diese letzte, in der Verlogenheit, Unverstand und Feigheit sich selbst übertroffen haben", stellte er verbittert fest. Er zog das Stück zurück, ließ es nicht in die Gesamtausgabe aufnehmen und untersagte weitere Aufführungen, auch über seinen Tod hinaus.
Erst im Jahr 1981 hob sein Sohn Heinrich Schnitzler dieses Verbot auf, seither hat sich das Stück seinen Platz im Repertoire der Bühnen der Welt erobert.
In Arthur Schnitzlers großen Erzählungen ist zu spüren, wie brüchig der Boden der Wirklichkeit sein kann. Zum Beispiel in der berühmten "Traumnovelle", in der ein Ehemann verstört wird durch einen Traum, den ihm seine Frau erzählt. Es ist ein heftiger erotischer Traum - mit einem anderen Mann, und damit nicht genug: Sie erlebt im Traum, wie ihr Ehemann gekreuzigt wird.
Historische Photographie im Prater von Wien (von links nach rechts): Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler (stehend), Richard Beer-Hofmann, Felix Salten (sitzend) mit unbekannten Frauen. Um 1894.
1894 im Prater von Wien (von links nach rechts): Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler (stehend), Richard Beer-Hofmann, Felix Salten (sitzend) mit unbekannten Frauen.© Getty Images / Imagno
Als bewusster Träumer, um es paradox zu formulieren, wusste Arthur Schnitzler natürlich Bescheid über die verborgenen Triebe und Ängste, die unbewusst das Handeln steuern. Und als Schriftsteller zeichnete ihn eine quasi berufsbedingte Distanz zur Realität aus. Dennoch weisen seine Hypochondrie und seine Zwangshandlungen darauf, dass er die Abgründe noch genauer kannte.

Angst vor dem Verlust des Wirklichkeitssinns

Es gibt eine Erzählung, in der die Angst vor dem Verlust des Wirklichkeitssinns auf erschreckende Weise thematisiert wird. Als Arthur Schnitzler 1912 anfing, daran zu schreiben, gab er ihr den Arbeitstitel "Wahn". Bis 1917 war er mit diesem Text beschäftigt, legte ihn dann in die Schublade und holte ihn erst gegen Ende seines Lebens wieder hervor. In seinem Sterbejahr 1931 erschien die Novelle unter dem Titel "Flucht in die Finsternis".
Es ist die Geschichte von zwei Brüdern, dem robusten Arzt Otto und dem sensiblen Robert, den schon als junger Mann die Angst packt, verrückt zu werden. Er verlangt von seinem Bruder, ihn vor dem schrecklichen Schicksal zu bewahren, indem er ihn bei deutlichen Zeichen einer ausbrechenden Geisteskrankheit rasch und schmerzlos vom Leben zum Tode befördert.
Als sich dann aber tatsächlich sein Geist verwirrt, packt Robert plötzlich eine andere Angst, nämlich die, von seinem Bruder umgebracht zu werden. Immer tiefer verstrickt er sich in seine Wahnvorstellungen, immer größer wird seine Panik. Es beginnt damit, dass er sich von seinem Gedächtnis im Stich gelassen fühlt. Er erinnert sich nicht mehr, wie seine Geliebte ihn verlassen hat, und die Befürchtung steigt in ihm auf, dass er sie umgebracht haben könnte. Und vielleicht nicht nur sie?

Casanova mit Einfühlungsvermögen

Arthur Schnitzler hatte ein unglaubliches Einfühlungsvermögen in Frauen, in seiner Literatur. Im Leben war er ein Casanova, der durchaus rücksichtslos sein konnte. Und die Doppelmoral, die er bei seinen Figuren so gerne anprangerte, war ihm selbst nur allzu vertraut. Er, der meistens mehrere Geliebte gleichzeitig zu halten wusste, wachte seinerseits misstrauisch über ihre Treue. In seinem Tagebuch dokumentierte er schonungslos sein Leben, und in seinem literarischen Werk scheint er oft Abbitte zu leisten für sein reales Verhalten.
Eines der frappierendsten Beispiele für das Auseinanderklaffen von Leben und Werk ist die Erzählung "Frau Berta Garlan". Darin schildert Schnitzler die Wiederbegegnung von zwei Menschen, die als Jugendliche ineinander verliebt waren. Aber während die mittlerweile verwitwete Berta Garlan all ihre Sehnsucht in das Wiedersehen legt, ist es für den berühmten Musiker Emil Lindbach nur eine kleine Episode. So ähnlich hat Schnitzler es selbst erlebt, als ihn seine Jugendliebe Franziska Reich in Wien besuchte und deutlich ihr Interesse an einer neuen Beziehung zeigte.
Als Fanny bald darauf ihren nächsten Besuch in Wien ankündigte, schrieb Schnitzler ihr ab. Er fand, dass man alte Lieben nicht aufwärmen sollte. Während der Mann Schnitzler also anscheinend unbeteiligt die Episode erlebte und kaltschnäuzig beendete, begann der Autor Schnitzler ein halbes Jahr später die Erzählung zu schreiben, in der er die erotische Sehnsucht, die Seelennöte und die tiefe Enttäuschung einer Frau so sensibel und mit so viel Empathie beschrieb, wie es in der damaligen Literatur einzigartig war.

Neue Generation gegen die alte Gesellschaft

Arthur Schnitzler gehörte neben Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann und Anton Tschechow zu den großen Dramatikern der Jahrhundertwende und lässt wie sie eine neue Generation gegen die alte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts antreten. Er zeigt Menschen, die in Konventionen gefangen sind und Menschen, die dagegen rebellieren, seine Theaterfiguren geben sich Lebenslügen hin oder erforschen unnachgiebig die Wahrheit ihrer Beziehungen.
Schnitzler brachte das Traumtheater der Seele auf die Bühne; und er schuf Menschen mit großer Sehnsucht. Sie sehnen sich nach Liebe, nach Freiheit oder Anerkennung. Während die Stücke aus seiner reifen Zeit - wie "Das weite Land" oder "Der einsame Weg" - groß angelegte und melancholische Gesellschaftsbilder sind, greifen die frühen Stücke scharfsichtig und oft mit bissiger Satire die Verhältnisse seiner Zeit an, vor allem die Scheinheiligkeit einer bürgerlichen Moral, die in Wirklichkeit gar nicht mehr gelebt wurde.
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