Arte-Doku "Feindbild Polizei"

Bei Polizeigewalt fehlt die unabhängige Aufklärung

09:28 Minuten
Polizeieinsatz in Paris.
Auch in Frankreich ist Polizeigewalt latent aktuell, sagt Filmemacher Sebastian Bellwinkel. © NurPhoto/Jerome Gilles
Sebastian Bellwinkel im Gespräch mit Patrick Wellinski  · 13.06.2020
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Bei der Beschäftigung mit der Arbeit der Polizei in Frankreich und Deutschland interessieren den Regisseur Sebastian Bellwinkel die echten Probleme und ein differenziertes Bild. Seine Arte-Dokumentation widmet sich auch der Polizeigewalt.
Patrick Wellinski: Eine der Ursachen für die derzeitigen Proteste ist rassistisch motivierte Polizeigewalt. Die Fragen, die sich da anschließen, sind: Welche Strukturen führen zu so einem Verhalten der Ordnungshüter? Welchen Einfluss haben Politik oder Gewerkschaften? Das untersucht für Frankreich und Deutschland der Arte-Dokumentarfilm "Feindbild Polizei", der am 16. Juni im TV läuft. Der Regisseur des Films ist Sebastian Bellwinkel. Ich wollte von ihm wissen, ob es für ihn einen bestimmten Anlass, um sich mit Polizeigewalt zu beschäftigen?
Sebastian Bellwinkel: Einen bestimmten Anlass gab es nicht, weil das Thema insbesondere in Frankreich latent aktuell ist. Es geht mir in dem Film darum, nicht nur über Polizeigewalt zu sprechen, sondern zu zeigen, wie die Mechanismen sind. Wie schaukelt sich das sowohl in Deutschland und Frankreich zwischen Bürgern und Polizei immer weiter hoch. Mein Eindruck ist, dass doch sehr mit Schwarzweiß operiert wird und jeder in seinen argumentativen Schützengräben drinsteckt. Wir haben versucht, mit dieser Dokumentation einmal die Grautöne aufzuzeigen. Das versuche ich auszuleuchten.

Sparpolitik führt zu mehr Polizeigewalt

Wellinski: Welchen Stellenwert haben denn eine drastische Sparpolitik und der Personalmangel, wie Sie ihn in Frankreich zum Beispiel vorgefunden haben für ein Übermaß an Polizeigewalt?
Bellwinkel: In Frankreich sieht man das sehr deutlich. Dort haben die Polizisten in den letzten Jahren einfach deutlich mehr Arbeit bekommen. In Frankreich ist die Bedrohung durch den Terror noch mal eine ganz andere. Dort mussten Polizisten, sagten mir Polizeigewerkschafter, zwischenzeitlich alle kulturellen Sehenswürdigkeiten mit Polizeistreifen besetzten, um sie zu schützen - auch kulturelle Sehenswürdigkeiten, von denen kaum einer wusste, dass es sie gibt. Das heißt, dort wird Personal gebunden, das an anderer Stelle fehlt.
Impression von den Gelbwesten-Protesten gegen Präsident Macron auf den Champs Elysées im Dezember 2018. 
Während der Gelbwesten-Proteste in Frankreich waren die Polizisten im Dauereinsatz. © picture-alliance/Geisler-Fotopress
Dann kamen die Gelbwesten-Demonstrationen hinzu. Da sind die Polizisten ständig in ganz Frankreich auf der Straße, wochenlang kommen die nicht nach Hause. Sie haben keine Ruhepausen. In einer solchen Situation ist klar, dass die Einsatzkräfte komplett unter Druck sind. Dann werden zum Teil, weil sie nicht genügend Leute haben, völlig fachfremde Polizisten eingesetzt, die an den Waffen nicht ausgebildet sind. Sie ballern dann mit Hartgummigeschossen wild um sich, und dann kommt es zu verheerenden Verletzungen. Da sieht man schon den Zusammenhang von zu wenig Personal und einer Überforderung durch viel zu viele Aufgaben.
Wellinski: Polizeigewalt als eine Art Übersprungshandlung, auch durch den Druck in Ausnahmesituationen. Das ist eine Sache, aber derzeit spricht die ganze Welt über rassistisch motivierte Polizeigewalt. Sie zeigen das auch in Ihrem Film. Wie systematisch ist denn rassistisch motivierte Polizeigewalt bei uns?
Bellwinkel: Das ist noch viel zu wenig untersucht. Die Versuche, das zu untersuchen, werden von der Polizei blockiert, vor allen Dingen von den sehr starken Polizeigewerkschaften, die einen entsprechenden Einfluss auf die Innenministerien haben. Ich kann nicht für ganz Europa sprechen, aber das, was ich in Deutschland und Frankreich beobachte ist, dass dort sehr schnell "Stopp" gesagt wird, wenn es um unanhängige Untersuchungen geht.
Wir haben 16 Innenministerien in Deutschland befragt, weil der Bund der Deutschen Kriminalbeamten im Januar vorgeschlagen hatte, eine bundesweite unabhängige Studie zu machen, um herauszufinden, wie verbreitet extremistische, also rechte Einstellungen bei der Polizei sind. Wir haben eine Umfrage bei den Innenministerien gemacht, wer dazu bereit wäre, sich an einer solchen Studie zu beteiligen. Das Ergebnis war sehr ernüchternd. Die Mehrzahl der Innenminister ist gegen eine solche unabhängige Studie.

Erfahrungen aus dem Algerienkrieg

Wellinski: Sie zeigen auch, dass gerade in Frankreich solche Ad-hoc-Kontrollen bei People of Color oder jugendlichen Migranten an der Tagesordnung sind. Da fällt auch eine Zahl: Zehn bis 15 Millionen solcher Kontrollen jährlich, die allein dem Umstand des "racial profiling" geschuldet sind. Da sieht jemand kriminell aus für den Polizisten. Einer Ihrer Gesprächspartner – das fand ich sehr interessant – führt dieses rassistische Verhalten der Polizei in Frankreich auf die Erfahrungen der französischen Polizisten oder die Geschichte der französischen Polizei im Algerienkrieg zurück. Wie sieht da die Verbindung aus?
Bellwinkel: Es ist so, dass im Algerienkrieg Einsatzkader, Führungskader aus Frankreich, Aufstände mit größter Brutalität niedergeschlagen haben. Sie haben die Menschen unter Druck gesetzt, Razzien durchgeführt und sind wirklich sehr "robust" gegen die Menschen vorgegangen. Diese Einsatzkader – das sagen mir die französischen Wissenschaftler und Soziologen – sind dann im Laufe ihrer Karriere in Frankreich eingesetzt worden.
In Frankreich wird man als erstes im Großraum Paris eingesetz. Dort haben sie diese Methoden weiter etabliert, und das ist Standard. Wenn man sich in den französischen Vorstädten umhört, da funktioniert das ganz genauso. Die Jugendlichen dort, mit denen wir gesprochen haben, die kennen das. Für mich ist das ein frappierendes Erlebnis gewesen.
Ich habe mich mit einem Protagonisten getroffen, das ist der jetzt 20-jährige Marmaduke Camara. Er ist ein junger Mann, dessen Vorfahren aus Mali stammen. Er hat mir erzählt, dass er etwa seit seinem zwölften Lebensjahr von der Polizei kontrolliert wird. Dann frage ich ihn, wie oft das denn passiert ist seitdem. Er antwortet, so zwei, drei Mal. Dann habe ich zu ihm gesagt: Das geht doch? Dann sagt er mir, in der Woche. Das muss man sich mal vorstellen.

Unabhängige Behörden wichtig

Wellinski: Wenn es jetzt um Auswege geht, zeigen Sie einige Möglichkeiten in Ihrem Dokumentarfilm. Unter anderem arbeiten Sie heraus, wie wichtig eine Art unabhängige zivilgesellschaftliche Kontrolle wäre, und schauen dabei nach Großbritannien.
Bellwinkel: Dort hat es in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche rassistisch motivierte Vorfälle von Seiten der Behörden gegeben, insbesondere von Seiten der Polizei. Dort gibt es eine unabhängige Behörde, das "Independent Office for Police Conduct", die nicht irgendeinem Innenminister untersteht, sondern dem Parlament verantwortlich ist. Dort gibt es abgestufte Verfahren, um in Zusammenarbeit mit der Polizei klären zu können, ob bestimmte Fälle an einem Polizeikommissariat selber gelöst werden können. Bei groben Verstößen von Polizisten führen sie selber die Ermittlungen.
Sie haben dort eigene Ermittler und können ihre eigene Beweisführung durchführen und diese am Ende der Staatsanwaltschaft vorlegen, damit die das Ganze im weiteren gerichtlichen Verfahren nutzen kann. Somit gibt es dort eine unabhängige Aufsicht über die Arbeit der Polizei. Das soll den Effekt haben, das Vertrauen in die Polizei zu fördern, damit man sagt, hier guckt jemand unabhängig drauf. Wenn es ein paar faule Äpfel gibt, werden die aussortiert. Damit wird aber nicht der ganze Laden beschädigt.
In Frankreich und in Deutschland gibt es eine solche unabhängige Aufklärung nicht. Viele Menschen gehen deshalb zu einer Demonstration schon mit dem Gedanken im Kopf, dass diese ganzen Polizisten Schweine sind. Nein, das sind sie nicht. Da sind ein paar dabei, die machen Mist. Der Großteil der Polizisten macht eine gute Arbeit. Aber auf diesem Niveau bewegt sich dann die Debatte bei uns in Deutschland und auch in Frankreich, weil wir über dieses Schwarzweißdenken nicht hinauskommen.
Wellinski: Es gibt jetzt eine Art Berliner Antidiskriminierungsgesetz, das genau dort ansetzen möchte. Wie sinnvoll sind solche Aktionen? In Minneapolis wird gleich darüber nachgedacht, die Polizei ganz aufzulösen.
Bellwinkel: In Minneapolis wollen sie die Polizei sozusagen neu aufstellen. Das sind natürlich Beispiele, die man schlecht miteinander vergleichen kann. Natürlich geht der Ansatz, der jetzt in Berlin gewählt wird, in die richtige Richtung. Dabei sagen selbst Kritiker, das ist noch zu optimieren. Auf der anderen Seite zeigt sich auch die Gegenwehr, die jetzt aus der Politik und auch von den konservativen Polizeigewerkschaften kommt. Die alte Frontbildung funktioniert immer noch. Noch ist das in Berlin nicht durch. Man darf gespannt sein, welche Befugnisse dort tatsächlich gegeben werden und wie unabhängig das tatsächlich sein kann, aber es geht auf alle Fälle in die richtige Richtung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Die Arte-Dokumentation "Feindbild Polizei: Gewalt und Gegengewalt ohne Ende?" ist vom 16. Juni bis zum 13. September 2020 in der Mediathek des deutsch-französischen Senders zu sehen.

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