Arsen-Brunnen in Bangladesch

Aus Hilfe wird Massenvergiftung

22:21 Minuten
Das sichtbarste Zeichen einer Arsen-Vergiftung sind rissige und wunde Hände. Viele Dorfbewohner in Bangladesch leiden durch ihr Brunnenwasser darunter und halten ihre Hände hoch.
Das sichtbarste Zeichen einer Arsen-Vergiftung sind rissige und wunde Hände. Viele Dorfbewohner in Bangladesch leiden durch ihr Brunnenwasser darunter. © Thomas Kruchem
Von Thomas Kruchem · 24.09.2019
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Wer die Welt verbessern will, kann scheitern. Diese Erfahrung machten auch die Brunnenbauer in Bangladesch, die angetreten waren, Millionen Menschen endlich sauberes Trinkwasser zu geben. Andere Weltverbesserer in Schottland sind erfolgreicher.

Alle Kapitel unserer Reihe "Die Weltverbesserer" hören Sie im Podcast der Weltzeit - z. B. mit der deutschen Nonne Ruth Pfau, die in Pakistan zur Nationalheldin wurde.

Absichten, die Welt zu verbessern, können auch in die Hölle führen. Das habe ich in Bangladesch erlebt: In den 1970er-Jahren lancierte dort das UN-Kinderhilfswerk UNICEF eine großangelegte Kampagne für sauberes Wasser. Die von Durchfallerkrankungen geplagten Menschen sollten nicht mehr aus Tümpeln und Teichen trinken, sondern bakterienfreies Grundwasser aus Bohrbrunnen.

Kapitel 3 – Die Brunnenbauer in Bangladesch

Mehr als zehn Millionen Brunnen wurden gebohrt, und die Zahl der Kinder, die an Durchfallerkrankungen starben, sank drastisch. Zugleich jedoch begann in Bangladesch, still und unbemerkt, eine Katastrophe, die bis heute anhält.
Zum Beispiel im Dorf Batíkura, gelegen im Nordosten des Landes. Dort strecken mir im Februar 2014 ein Dutzend Frauen und Männer hilflos anklagend ihre Handflächen entgegen. Verwüstet sehen sie aus, voll wuchernder Hornhaut und wunder Risse. Er verfaule bei lebendigem Leib, sagt Abu Jafar, ein schmaler, vorzeitig gealterter Mann, dem die Verzweiflung aus den Augen schreit.
"Meine drei Brüder und ich bekommen seit Langem immer mehr schwarze Flecken auf der Brust. In meiner Lunge brennt es oft wie Feuer. Und gerade gestern habe ich wieder Blut gehustet. Bei einem Arzt war ich nur einmal – vor sieben oder acht Jahren. Der sagte, meine Probleme kämen von zu viel giftigem Arsen in unseren Trinkwasserbrunnen. Eine Medizin dagegen gebe es nicht. Ich solle aber viel Gemüse essen und Milch trinken. Das würde vielleicht helfen."

Brunnenwasser enthält geruchloses Halbmetall Arsen

Wie Abu Jafar leiden Millionen Menschen in Bangladesch. Sie wurden und werden chronisch vergiftet durch Trinkwasser aus Brunnen, die UNICEF und andere Hilfsorganisationen gebohrt haben. Diese Brunnen enthalten Arsen. Ein geruch- und geschmackloses Halbmetall, das in unterschiedlichsten chemischen Formen auftritt. Am gefährlichsten sei wasserlösliches Arsenit, erklärt mir in Dhaka der Medizinprofessor Mohammed Yunus.
"Arsenit ist ein Zellgift. Es reagiert mit bestimmten Proteinen im Körper und bringt so den Zellstoffwechsel durcheinander. In der Folge steigt das Risiko für Infektionen, Kreislauferkrankungen und vor allem Krebs. Außerdem kommt es zu Schädigungen der Haut und Hautkrebs."
Spätestens 1993, 20 Jahre nach Beginn der UNICEF-Bohrbrunnenkampagne, war klar: Ein Drittel der Brunnen waren stark belastet mit Arsen. 30 Millionen Bangladeschis tranken Wasser, das den Arsen-Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation WHO um mehr als das Zehnfache überschritt. Hunderttausende litten bereits an den Folgen: Hautveränderungen, Lungen-, Leber- und Blasenkrebs. Von der größten Massenvergiftung der Menschheitsgeschichte spricht die Weltgesundheitsorganisation. Aber woher kommt das viele Arsen im Grundwasser von Bangladesch, frage ich den Dhakaer Hydrogeologen Professor Kazi Matin.
"Das Arsen in unserem Wasser ist natürlichen Ursprungs. Es ist in Sedimenten enthalten, die zahlreiche Flüsse aus dem Himalaya zu uns getragen haben. Im Holozän, in den jüngsten 10.000 Jahren der Erdgeschichte, haben sich Billionen Tonnen arsenhaltiger Sedimente in Bangladesch abgelagert. Hier haben sich die Sedimente mit abgestorbenen Pflanzen vermischt. Die haben den Sauerstoff im Untergrund verbraucht. Und in einem solchen Milieu verwandelt sich wasserunlösliches Arsen regelmäßig in wasserlösliches Arsenit."

UNICEF: Arsenpräsenz im Grundwasser war 1993 nicht bekannt

Warum hat das UN-Kinderhilfswerk Millionen Brunnen in Bangladesch gebohrt, ohne sie auf das Gift Arsen zu testen? Am Telefon erreiche ich Dara Johnston, der Leiter des UNICEF-Wasserprogramms in Bangladesch.
Seine Organisation habe das Wasser von Bohrbrunnen stets so getestet, wie es weltweit üblich gewesen sei, sagt Johnston. Arsen sei zwar ein häufig vorkommendes Element, aber "Arsenpräsenz im Grundwasser in einem Ausmaß, dass es die Gesundheit schädigen kann, war vor 1993 unbekannt. Weder UNICEF noch andere Hilfsorganisationen sind deshalb verantwortlich für das Arsenproblem im Grundwasser von Bangladesch."
Tatsächlich ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt, dass viele Länder ein Arsenproblem im Grundwasser haben: In Argentinien überschritten die Messungen bei Bohrbrunnen schon 1917 die heute gültigen Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation um das 200fache. In Neuseeland fand man 1939 noch höhere Werte. Ebenso in Chile und Mexiko in den 60er-Jahren. Warum gab es dann in den 70er-Jahren keine Messungen in Bangladesch, wo doch jeder Geologe weiß, dass das Grundwasser aus dem Himalaja kommt und dieses Gebirge Arsen in rauen Mengen aufweist? Hat UNICEF geschlampt und sich nur auf schnelle Erfolge beim Kampf gegen Durchfallerkrankungen konzentriert?
Erst Ende der 90er-Jahre reagierte UNICEF. 1999 gab die damalige Chefin Carol Bellamy in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS zu:
"Wir haben wahrscheinlich zu langsam reagiert. Die Situation ist schlimm und wir müssen handeln. Wir müssen Teil der Lösung werden, so, wie wir Teil des Problems sind. Ich bedauere all dies zutiefst. So viele Menschen leiden."

WHO: Jährlich 43.000 Tote durch Arsenvergiftung

Um die Jahrtausendwende stellte die Weltbank 35 Millionen Dollar bereit – mit dem erklärten Ziel, das Arsenproblem bis 2005 zu lösen. Hunderte Organisationen hätten damals mit Weltbank-Geld fünf Millionen Brunnen getestet, erzählt mir Medizinprofessor Mohammed Yunus. Arsenfreie Brunnen hätten sie mit grüner Farbe markiert, arsenbelastete mit roter Farbe – als Warnung.
Millionen mit Arsen kontaminierte Brunnen wurden in Bangladesch mit roter Farbe gekennzeichnet, werden aber trotzdem benutzt. Ein Kind läuft gerade zur Pumpe.
Millionen mit Arsen kontaminierte Brunnen wurden in Bangladesch mit roter Farbe gekennzeichnet, werden aber trotzdem benutzt.© Thomas Kruchem
Die Farbe aber habe höchstens sechs Monate gehalten. Und Alternativen hätten die Dorfbewohner nicht angenommen, berichtet Yunus.
"Wir haben den Menschen zahlreiche Optionen angeboten: Das Auffangen von Regenwasser, Sandfilter, Haushaltsfilter, alles Mögliche. Aber nichts funktionierte wirklich. Solche Anlagen sind mit Arbeit verbunden. Sie müssen regelmäßig gereinigt werden – was die Leute einfach nicht tun."
2004 war das Arsen-Budget der Weltbank verbraucht und die Kampagne wurde eingestellt. Seitdem berichten kaum noch Medien in Bangladesch – obwohl weiter bis zu 40 Millionen Bangladeschis arsenbelastetem Trinkwasser ausgesetzt sind. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich 43.000 Dorfbewohner an Arsenvergiftungen. Die New Yorker Columbia Universität schätzt die Zahl auf 50.000 Arsen-Tote pro Jahr in Bangladesch.
Regierung Bangladeschs und UNICEF und nennen weit geringere Zahlen. Großen Hilfsbedarf sieht Dara Johnston von UNICEF trotzdem: Das Kinderhilfswerk testet weiter Brunnen, bringt rote und grüne Plaketten an, bohrt Tiefbrunnen, die arsenfreies Wasser liefern und versucht die Menschen aufzuklären:
"Zu den größten Herausforderungen zählt es bis heute, das Verhalten der Menschen zu ändern. Ihr arsenhaltiges Wasser ist ja völlig klar. Sie bekommen davon weder Durchfall noch Bauchschmerzen. Und deshalb gehen sie leider den bequemen Weg zu einem unsicheren Brunnen als den etwas weiteren Weg zu einem sicheren Brunnen. An der Änderung dieses Verhaltens müssen wir weiter arbeiten."
Darüber, wie man die Katastrophe in Bangladesch beenden kann, wird 45 Jahre nach deren Beginn weiter diskutiert. Etliche Experten fordern eine riesige Kraftanstrengung: Betroffene Regionen bräuchten flächendeckend Hunderte Meter tief reichende Brunnen. Man müsse Wasserleitungen legen und belastete Brunnen zerstören. Das aber kostet, nach Schätzungen, sechs Milliarden Dollar.

Kapitel 4 – Ein Student will das erdbebensichere Haus

Es ist der 25. April 2015. Die Tagesschau berichtet über ein Erdbeben in Nepal, bei dem fast 10.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Eine Meldung, die ihn tief erschüttert habe, erzählt mir viereinhalb Jahre später Jan Warsawa – heute Architekt, damals Student an der Hochschule Dessau in Sachsen-Anhalt.
"Ich war, zusammen mit meiner Hochschule, die sich schon seit vielen Jahren in sozialen Projekten engagiert, 2014 in Nepal. Und dort habe ich mit Kommilitonen von mir eine Schule gebaut. Und gerade als wir wiedergekommen sind nach Deutschland, kam das große Erdbeben in Nepal und da dachte ich, da müsste man was tun."
Viele Dorfbewohner seien von ihren eigenen Häusern erschlagen worden, berichtet Warsawa. So kam ihm die Idee, ein sichereres, an Erdbeben angepasstes und sehr kostengünstiges Haus zu konzipieren – etwas, was man bis heute in erdbebengefährdeten Ländern kaum findet.
Am Anfang stand viel physikalische und mechanische Theorie: Sehr wichtig sei, dass die Wände eines solchen Hauses stabil im Boden verankert seien, erklärt der junge Architekt, am besten mit einem Streifenfundament. Auch sollte das Haus einen abgerundeten Grundriss haben.
"Wenn ich meine Wände immer im 90-Grad-Winkel zueinanderstehen habe, schieben die sich aus ihren eigenen Achsen und die Wände fallen zusammen. Was besser funktioniert, ist, wenn man die Ecken abschrägt. Und mit diesen abgerundeten Ecken werden die Kräfte zum Teil in die nächste Wand geschoben und so wirken die Kräfte im Kreis und können sich besser auffangen."

Nur Materialien und Werkzeuge wie in Nepal

Ein absolutes No-Go ist für Jan Warsawa ein Dachstuhl aus schweren Balken. Die würden im Ernstfall sämtliche Hausbewohner unter sich begraben. Weit besser seien leichte Bretterkonstruktionen. Warsawas Professoren zeigten sich beeindruckt von ihrem bescheiden, aber entschlossen auftretenden Studenten. Sie akzeptierten sein Projekt als Examensarbeit und finanzierten den Bau eines Prototyps, den er 2016 in seinem niedersächsischen Heimatdorf errichtete. "Mit Kreissäge, Bohrmaschine und Betonmischer?", frage ich provokativ. "Nein", lächelt Warsawa.
Jan Warsawa entwarf 2016 als Architekturstudent ein erdbebensicheres Haus für Dörfer in Nepal. Im Hintergrund ist das Stein- und Holzhaus zu sehen bei der Errichtung.
Jan Warsawa entwarf als Architekturstudent ein erdbebensicheres Haus für Dörfer in Nepal.© Jan Warsawa
"Ich habe wirklich darauf geachtet, dass ich nur Materialien und Werkzeuge benutze, die ich da in Nepal auch eins zu eins gesehen habe, und wo ich weiß: Die gibt es. Das ist einerseits Lehm, kann dort überall im Boden gefunden werden oder eben auch in Lehmsteinen. Dazu kommen normale, kleine Steine, Findlinge, die kleingeschlagen werden. Dann ist es Holz als Platten, als Balken, als Bretter. Und das letzte dazu ist noch Wellblech, was dort zuhauf auf den Dächern liegt. Und aus den Materialien wollte ich das bauen. Natürlich wäre es einfach gewesen, jetzt zu sagen: Ich nehme meine Handkreissäge und meinen Akku-Schrauber und baue das zusammen, damit es wirklich richtig dolle hält. Ich habe aber bewusst mich einfach nur für eine Schaufel, eine Säge, einen Hammer und eine Maurerkelle entschieden und es geschafft, damit das komplette Haus zu bauen und auch nachzuweisen, dass es damit funktioniert."

Hilfsorganisationen wollen das Haus nicht

Als sein kleines, an Erdbeben angepasstes Haus fertig war, stellte der Student detaillierte Filmaufnahmen von allen Bauphasen ins Internet – als frei verfügbare Bauanleitung. Warsawa bekam eine sehr gute Note und einige Medien berichteten. Sein Ziel jedoch, das gegebenenfalls lebensrettende Haus auch vor Ort in Nepal zu bauen, hat er noch nicht erreicht. Vergeblich hat der junge Architekt seine Idee großen Hilfsorganisationen vorgestellt.
"Die Hilfsorganisationen sind, in 99 Prozent der Fälle, für die primäre Hilfe, also wirklich die Stunden, Tage, Wochen, Monate nach dem Erdbeben. Wobei mein Modul eher was für die sekundäre Hilfe ist. Also, wenn die Leute aus den Zelten rauskommen, wenn langsam aufgeräumt wird, dann fangen die Leute an, das aufzubauen."
Auch Baubehörden in Nepal, die Warsawa angeschrieben hat, beißen bis heute nicht an.
"Man muss vor Ort sein. Die Leute müssen einem vertrauen. Es ist immer ein bisschen schwierig, wenn da jemand von außerhalb kommt und denen erzählen möchte, wie sie was anders machen können. Auch wenn man da mit noch so viel Feingefühl versucht, das rüberzubringen, dass man das gemeinsam machen möchte, ist es doch immer ziemlich schwierig."
Jan Warsawa, der heute als Architekt in Leipzig arbeitet, will trotzdem nicht aufgeben. Sollte jemand interessiert sein an seinem erdbebensicheren Haus, ist er bereit vor Ort zu helfen und dafür sogar seinen Urlaub zu opfern, sagt er mir.

Kapitel 5 – Eine Bäumeflüsterin in Schottland

Die Straßen sind eng und kurvig auf meinem Weg durch die schottischen Highlands. Ich bin unterwegs zum früheren Jagdgut Mar Lodge Estate. Es gehört heute dem National Trust for Scotland, einer in Edinburgh ansässigen Stiftung, die sich für den Erhalt von Kultur- und Naturdenkmälern einsetzt.
Mich begrüßen zahllose Vögel und Shaila Rao. Die Ökologin des Guts – blaue Augen, forschender Blick – führt mich auf einen Hügel. Wir blicken aufs Tal, durch den sich der Fluss Dee schlängelt. Um uns herum stehen einige uralte Kiefern.
"Als ich zum ersten Mal durch diesen Wald lief, hatte ich das Gefühl, durch ein Altersheim für Bäume zu wandeln, durch einen allmählich sterbenden Wald. Es tat mir förmlich weh, ganze Gruppen von Bäumen zu sehen, die starben – ohne dass irgendetwas nachkam."
Ökologin Schaila Rao arbeitet für den National Trust for Scotland an der Aufforstung der Highlands. Sie trägt ein blaues Tuch auf dem Kopf. Im Hintergrund sind alte Bäume.
Ökologin Schaila Rao arbeitet für den National Trust for Scotland an der Aufforstung der Highlands.© Thomas Kruchem
Shaila Rao spricht von jahrhundertelang vergewaltigter Landschaft. Die industrielle Revolution raubte Schottland den Großteil seiner Wälder, die Jagdleidenschaft reicher Adliger den Rest. Heide statt Wald für Moorhühner wollten die Jäger. Das viele Rotwild, das sie heranzogen, verbiss nachwachsende Bäume. Gerade vier Prozent Schottlands waren nach dem Ersten Weltkrieg noch bewaldet.

Rotwild erschießen, um jungen Bäume zu schützen

Dann begann eine in Europa beispiellose und bis heute anhaltende Wiederaufforstung, zu der auch Shaila Rao beitragen will: Auf dem ehemaligen Jagdgut Mar Lodge sollen wieder Kiefern wachsen. Um das zu ermöglichen, aber musste der National Trust for Scotland Tausende Rehe und Hirsche erschießen lassen, erklärt mir in Edinburgh Raos Chef Dominic Driver. Eine waghalsige Maßnahme, die viel Krach mit den Nachbarn auslöste:
"In den ersten Jahren geschah gar nichts mit dem Wald. Wir schossen Hirsch um Hirsch, inspizierten das Land regelmäßig und fanden keinerlei Veränderung der Vegetation. So wuchs die Kritik unserer Nachbarn, die von der Jagd lebten. Dann aber, an einem Tag im Frühjahr, rief mich Shaila an. Sie habe eine junge Eberesche entdeckt, dann noch eine – und mehrere schottische Kiefern. Da merkten wir, dass der Wald erst mit einer gewissen Verzögerung angefangen hatte, sich zu regenerieren."
Von der Hügelkuppe deutet Shaila Rao hinunter in ein Seitental des River Dee. Etliche Granny Pines, Großmutter-Kiefern, sehe ich auf der einen Seite: Gegenüber ragen aus der Heide Hunderte junge, bis zu sechs Meter hohe Kiefern, die den Hügel allmählich zu erobern scheinen.
"Dies ist eines der großen Glens, der Täler des Gutes. Hier hatten wir früher ausschließlich uralten Kiefernwald, aber keinerlei junge Bäume. Jetzt sehen Sie große Gruppen von Kiefern, die die Heide längst überragen. Ganz allmählich entsteht an den Talhängen wieder ein Wald. Der wird die Heide im Laufe der Zeit immer stärker beschatten. Und weil Heide keinen Schatten mag, wird sie verschwinden, während die Bäume wachsen."
Die Landschaft der schottischen Highlands werde allmählich wieder zu dem, was sie einst war, sagt Ökologin Shaila Rao. Und es gebe immer noch Rothirsche hier, die auch Teil des Ökosystems bleiben sollten – nur im Gleichgewicht mit all dem anderen Leben im Wald.

Reiche Jäger brauchen Heide für Moorhuhn-Jagd

In der Altstadt von Perth, der einstigen Residenz schottischer Könige, spielt eine Dudelsackkapelle. Hier hat auch die Scottish Gamekeepers Association ihren Sitz. Der Verband der Wildhüter kämpfe dagegen, dass die Heide der Highlands dem Wald weicht, sagt ihr Sprecher Bob Connelly.
Er zeigt ein Video, auf dem teure Geländewagen über Highland-Pfade preschen. Jäger in eleganten Anzügen schießen auf schwarze Moorhühner mit rotem Kamm, die über die Heide flattern. Unsichtbare Helfer scheuchen immer neue Moorhühner auf. Sichtbare Helfer reichen den Jägern eine geladene Flinte nach der anderen. Derlei Jagd auf Moorhühner mache wirtschaftlich nur dann Sinn, wenn man zeitgleich Hunderte Vögel auf die Gewehre der zahlenden Kundschaft zu treiben könne. Und um so viele Vögel zu produzieren, müsse man die Heidelandschaft entsprechend gestalten.
"Moorhühner brauchen Heideflecken mit ganz jungem Kraut, von dem sie sich ernähren. Und sie brauchen höher gewachsenes Kraut, wo sie sich verstecken und Nester bauen können. Deshalb brennen wir immer wieder Teile der Heide ab. Das ergibt dann dieses Patchwork-Muster, das Sie an den Hängen sehen, und eine wunderbare Quelle guten Futters für unsere Moorhühner."
Einen Tag Moorhuhnjagd kostet eine Gesellschaft 3000 Pfund. In Schottland zu jagen ist ein Sport für Schwerreiche. – Jeder Hektar mehr Wald in den Highlands sei ein Hektar weniger Heide, sagt Bob Connelly. Es sei schon zu viel Heide verschwunden. Die Existenz etlicher Jagdgüter und zahlreiche Arbeitsplätze seien bedroht.

Dank Aufforstung wieder 19 Prozent Schottlands bewaldet

Inmitten leuchtend grüner Kiefern auf Mar Lodge Estate sagt Ökologin Shaila Rao leise, sie habe schon Verständnis für die Sorgen des Wildhüters Connelly. Letztlich aber sei mehr natürlicher Wald wichtiger für Schottland als die Interessen der Jäger; wichtiger auch als die grandiosen Ausblicke für Touristen über lila blühende Heide. Und fast trotzig blickt Rao auf einen schneebedeckten Berg im Norden des Gutes Mar Lodge.
"Kiefern wachsen bei uns inzwischen weit die Hügel hinauf – zumindest bis auf 700 Meter Meereshöhe. Einzelne Bäume finden wir sogar in Höhen bis zu 900 Metern, und in deren Gesellschaft Sträucher wie Wacholder. Das ist schon fast wie in Skandinavien, wo in den Höhenlagen Krüppelkiefern mit Wacholder, Zwergbirken und Kriechweiden ein Gebüsch bilden. So entsteht ein neuer Lebensraum, der nach oben hin immer lichter wird."
Neuer Lebensraum, wie er früher einmal in Schottland existierte. Heute sind immerhin wieder 19 Prozent der Landfläche bewaldet. Tendenz steigend, dank Menschen wie Shaila Rao.
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