Arroganz der Eliten

Warum die Überheblichkeit mancher Intellektueller nervt

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Illustration eines menschlichen Gehirns als Labyrinth, aus der ein Mensch heraus läuft.
Einige Denkwillige leben in der irrigen Annahme, dass der Großteil der Bevölkerung ständig reflektiert, meint Kerstin Hensel. © imago images / Science Photo Library
Überlegungen von Kerstin Hensel · 26.01.2021
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Menschen mit akademischer Bildung glauben oft, dass andere genauso gern nachdenken wie sie selbst. Diese Annahme ist lebensfremd und ein bisschen anmaßend, meint die Schriftstellerin Kerstin Hensel.
Vor über 200 Jahren sagte Casanova: "Ich glaube, die meisten Menschen sterben, ohne ein einziges Mal nachgedacht zu haben." Zwar vermute ich, dass der venezianische Haudegen auch nicht in jeder Lebenslage seinen Verstand eingesetzt hat, gleichwohl trifft seine Feststellung ins Schwarze.
Nachdenken im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich: Einer Sache oder Begebenheit "nach"denken, sich mit ihr auseinanderzusetzen, um sie beurteilen und daraus Schlüsse ziehen zu können, ist tatsächlich kein Massenvergnügen.
Nein, die Bevölkerung reflektiert nicht ständig ihr Tun!

Nein, die Bevölkerung reflektiert nicht ständig ihr Tun

Journalisten, Schriftsteller, Politiker, Geisteswissenschaftler und andere Denkwillige leben möglicherweise in der Annahme, dass der Großteil der Bevölkerung ständig reflektiert. Über sich selbst, über Gesellschaft, Kunst, Geschichte, ergo über die Menschheit im Großen und Ganzen. Die Wahrheit ist: Berufsdenker – ich schließe mich ein – haben kein Publikum außer ihresgleichen. Nur weil sie sich mit komplexen Fragen beschäftigen, heißt das nicht, dass alle anderen es auch tun.

Das wurde mir das erste Mal als von Wissbegier befallener Oberschülerin klar. Damals versuchte ich, in Gesprächen mit meinen noch existierenden Altvorderen deren früheres Leben zu erkunden. So hatte ich beispielsweise meine Oma gefragt, was sie als Kriegswitwe mit drei kleinen Kindern, arm und ausgebombt, über Krieg, Not und Hitler gedacht hat. Ich hatte keine philosophische Analyse erwartet, aber wenigstens eine schlüssige Antwort.
Oma sagte nur: "Das hat mich alles nie interessiert. Ich musste sehen, wie ich die Kinder durchkriege. Es war halt die schlechte Zeit, und nun halt deine Gusch." In meiner Herkunftswelt waren über die Oberfläche Hinausdenkende verpönt und wurden als Eierköppe, Klugscheißer, Spinner, Politische oder Intelligenzbestien verspottet.

Nachdenkliche Menschen genießen keinen Bonus

Es dauerte, bis ich begriffen habe, dass Reflexionsverweigerung keine Einzelerscheinung darstellte. Vielleicht war es aber gar keine Verweigerung, sondern Schutzverhalten. Warum sollten sich Leute auf Fragen einlassen, die an ihrer Substanz kratzen? Das würde Gefahr bedeuten. Außerdem setzt Reflexion ein Mindestmaß an Wissen, Vernunft, Ausdrucksfähigkeit, Erkenntnisbereitschaft, Ausdauer und nicht zuletzt Zeit voraus.
Wieso glauben Menschen, die akademisch ziseliert und bedeutungsvoll auf Welt und Nachwelt blicken, ihre Leidenschaft würden auch diejenigen pflegen, die nichts anderes wollen und können, als ihr Leben auf die Reihe zu kriegen? Die weder geistvolle Abhandlungen, noch Bildungsfernsehen, Diskurse oder Hochkultur wahrnehmen? Denen auch nichts dergleichen fehlt, die sich stolz "einfache, normale Leute" nennen und gegen Komplexität gern ihren "gesunden Menschenverstand" einsetzen.

Eine Abwehrhaltung hilft bei der Alltagsbewältigung

Die meisten sind gezwungen, ihre Daseinskraft in Arbeit und Alltag zu stecken. Sie denken und handeln, wie es ihren Bedürfnissen entspricht: geerdet, intuitiv, im besten Fall lebenspraktisch. Das Verdrängen von Problemen, die nicht das eigene Lebensumfeld betreffen, ist für sie ein notwendiger Abwehrmechanismus, um die Realität zu bewältigen. Energiesparende Strategiemuster wie Denkschubladen oder Ignoranz werden oft über Generationen vererbt.
Man kann bedauern, dass so vielen das Abenteuer des Über-sich-Hinaus-Wachsens im Nachdenken versagt bleibt. Man kann auch versuchen, dies zu verstehen. Die Grundannahme, dass wir eine Gemeinschaft von lauter klugen, souverän reflektierenden Menschen sind, ist ein Ideal. Von Idealen, wie von Vorurteilen, lässt man sich gern beeinflussen. Oft verzerrt dies unbewusst die eigene Wahrnehmung, und man betrügt sich in seinen Ansichten und Urteilen selbst.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Als Autorin hat sie zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre jüngste Novelle "Regenbeins Farben".

Kerstin Hensel
© privat
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