Arrangiert mit der Historie

16.06.2008
Entschiedene Kollaborateure, klammheimliche Vorteilssucher, flämische Nationalisten, vereinzelte Widerständler - sie alle spielen in Hugo Claus' Roman "Der Kummer von Belgien" ihre Rollen während der nationalsozialistischen Besatzung. Im Mittelpunkt steht ein Junge auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
"Der Kummer von Belgien" zählt zu den Hauptwerken der niederländisch-belgischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Louis Seynaeve, Sohn eines Buchdruckers und literarisch weitläufig verwandt mit rotzfrechen Überlebenskünstlern wie Oskar Matzerath und Till Eulenspiegel.

Das erste Drittel des Romans trägt den Titel "Der Kummer" und beschreibt noch ordentlich unterteilt in 27 Kapitel Louis’ Zöglingsjahre in einem katholischen Internat. Im Spannungsfeld von Gebet und Pubertät werden Jungenstreiche und Initiationsriten zelebriert. Mit seinen Mitschülern Dondeyne, Vlieghe und Byttebier hat Louis den Geheimbund "Die vier Apostel" gegründet - man frönt den Freuden verbotener Lektüre, erkundet unbekanntes Terrain der Erwachsenenwelt und fragt sich, was wohl unter den gestärkten Soutanen der heiligen Schwestern verborgen sei.

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht verändert sich auch die Form des Erzählens. Jetzt ist Schluss mit dem säuberlich gereihten Kapitelwesen; die Zeit ist aus den Fugen und mit ihr der Roman. Die 500 Seiten des zweiten Teils "Von Belgien" bestehen aus einem großen Mosaik einzelner Episoden und Szenen, die sich dennoch zu einem imponierenden Panorama der Besatzungszeit fügen. Entschiedene Kollaborateure, klammheimliche Vorteilssucher, flämische Nationalisten, vereinzelte Widerständler - alles gibt es in Walle; es geht hoch her in den Debatten an Küchen- und Kneipentischen.

Der Reiz des Romans besteht in seiner außerordentlichen Vergegenwärtigungskraft. Wie in den besten Büchern von Günter Grass durchdringen sich Geschichte und Kleinbürgeralltag im sinnlichen, ungemein konkreten Zugriff des Erzählers. Wie war das, als die Wehrmacht ein Land nach dem anderen blitzkriegmäßig überrannte und ganz Europa im Bann dieser kraftstrotzenden, skrupellosen faschistischen Maschine stand?

"Der Kummer von Belgien" zeigt, wie sich die Menschen mit den scheinbaren Zwangsläufigkeiten der Historie arrangierten und ihr Mäntelchen nach dem Wind hängten. Louis' Mutter, die Kleinstadt-Schönheit, hat ein Verhältnis mit einem deutschen Nazi-Offizier. Der Junge tritt aus Protest gegen den schwachen Vater der belgischen Hitlerjugend bei - das Geld für die Uniform hat er dem Vater gestohlen. Allerdings weicht seine anfängliche Faszination durch die Hitlerkolonnen bald einer gewissen Katerstimmung:

"Als Trupps deutscher Soldaten durch die Leiestraat und über den Grote Markt marschierten, fand Louis nur mühsam zu dem aufregenden Gefühl der Anfangszeit zurück, einem Gemisch aus Angst und Begeisterung, als sie, alle im gleichen Alter, alle mit dem gleichen bronzefarbenen Gesicht (Jungen eigentlich, etwas älter als er), in die Stadt Walle eingerückt waren... Jetzt wirkten sie wie dressierte Männer, der Sache halber in Uniform gesteckt. Der Anschlag und der Überfall auf Belgien lagen hinter ihnen. Weil ihnen kein Feind gegenüberstand, war ihre katzenhafte, wilde, sprungbereite Leidenschaft erloschen. Louis fühlte sich irgendwie betrogen von diesen gewöhnlichen Männern in Feldgrau."

Auch in Walle grassieren Denunziation und Verrat; Mitschüler verschwinden von einem Tag auf den anderen. Dem Religionslehrer mit Spitznamen "Eiko" (für Eierkopf) fehlen eines Tages die Schneidezähne. Bald darauf wird er deportiert.

Und der unter der Besatzung angeheizte Konflikt zwischen Flamen und Wallonen geht mitten durch die Familie Seynaeve hindurch. Vater Staf zählt sich zu den überzeugten Flamen. Dass er nicht Mitglied in einer nationalistischen Organisation wie dem VNV (Vlaams Nationaal Verbond) wird, verdankt sich einem profanen Grund: In diesem Fall würde sein mit den Franzosen sympathisierender Vater von ihm beträchtliche Schulden einfordern.

Der Roman entfaltet ein menschliches Bestiarium: schrullige Charaktere wie ein übelgelaunter Gärtner und eine geistesverwirrte Ordensschwester, vor allem aber die reichhaltige Verwandtschaft der Seynaeves und die Kleinstadt-Honoratiorenwirtschaft von Walle sorgen für ein facettenreiches Sittenbild der Epoche. Die menschlichen Verhältnisse basieren auf einem Universum der Lüge und der Heuchelei.

Louis, der am Ende zum Schriftsteller wird, lernt manche bittere Lektion über die Erwachsenenwelt - und versteht sich selbst doch schon gut auf die Unwahrheit und das Verheimlichen. Das klingt nach Entlarvungspsychologie. Claus ist jedoch ein lebensfreundlicher Erzähler, dessen Werk bei aller Lust an ungemütlichen Wahrheiten - der inzwischen kanonisierte Roman war anfangs durchaus ein kritischer "Kummer" für Belgien - von der Sympathie mit den "einfachen" Menschen aus der Provinz geprägt ist.

Die Übersetzerin Waltraud Hüsmert hat sich um niederländische Klassiker der Moderne verdient gemacht. Ihr verdanken die Leser vorzügliche deutsche Versionen von Romanen wie Willem Frederik Hermans "Die Dunkelkammer des Damokles". Auch "Der Kummer von Belgien" macht in Hüsmerts Sprachgewand nun deutlich bessere Figur. Claus’ Stil ist bestimmt von trockenem Humor und lakonischen Pointen, die jetzt angemessen zur Geltung kommen.

War in der alten Fassung etwa die Rede von einer Stimme, "nur mühsam verständlich, als entströmte sie einem üppigen weißen Bart", so heißt es nun gewitzter: eine "Stimme, nur mit Mühe verständlich, wie durch einen weißen Rauschebart gefiltert". Vor allem die Umgangsprache, die in den Dialogen eine wichtige Rolle spielt, findet bei Hüsmert eine überzeugendere Umsetzung.

"Staf, ich verklicker dir was, was ich eigentlich für mich behalten muss, wenn meine Vorgesetzten das wüssten, käme ich stante pede ins Kittchen...",

liest man in einem der Gespräche. Dagegen wirkt die alte Fassung ziemlich steifleinen:

"Staf, ich plaudere aus der Schule, und sollten meine Vorgesetzten das erfahren, lande ich mit meinen Siebensachen im Kittchen."

Kurz: Dank der Neuübersetzung hat man den Eindruck, ein frisches Original zu lesen. Das Hauptwerk von Hugo Claus ist erst jetzt wirklich im Deutschen angekommen. Wahrhaftig kein Grund zum Kummer.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Hugo Claus: Der Kummer von Belgien
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Klett-Cotta 2008
824 Seiten, 24,50 Euro