Fällt Teilen in schweren Zeiten schwerer?
Im Verteilungswettbewerb um kostenlose Lebensmittel stehen mittlerweile neben Einheimischen auch 250.000 Flüchtlinge in der Schlange. Wegen der Konflikte zwischen den Gruppen von Bedürftigen plädiert der Soziologe Frank Tillmann für die Unterstützung der Ärmsten der Gesellschaft.
Der Soziologe Frank Tillmann plädiert auch angesichts von Konflikten zwischen Bedürftigen für die Unterstützung der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.
"Das ist schon so, dass es Leuten leichter fällt, etwas von ihrem Eigentum abzugeben, wenn sie erkennen, dass sich andere vor allen Dingen unverschuldet in einer Notlage befinden, wie beispielsweise die Flüchtlinge, die jetzt ins Land kommen", sagte Tillmann im Deutschlandradio Kultur angesichts von Konflikten zwischen einheimischen Bedürftigen und Flüchtlingen bei der Nachfrage nach gespendeten Lebensmitteln, von denen der Vorsitzenden des Tafel-Bundesverbands Jochen Brühl berichtet hatte.
Welche Prinzipien gelten für erfolgreiches Teilen?
Menschen falle es leichter zu teilen, wenn sie annähmen, ein anderer würde das Selbe tun. Als weitere Faktoren, Andere zu unterstützen, nannte Philipp soziale Nähe, beispielsweise zu Verwandten und Bekannten, die in Notlagen gerieten. Auch wenn Landsleute im eigenen Land von Katastrophen betroffen seien, steige die Bereitschaft etwas abzugeben, angesichts einer gemeinsamen Identität. Aber auch wenn das Leid anderer Menschen unmittelbar erlebt werde, "wenn das sehr präsent ist im eigenen Bewusstsein", werde "Sensibilität für das Teilen" geweckt, sagte der Diplom-Soziologe und Referent der Außenstelle Halle des Deutschen Jugendinstituts (DJI).
Welche Kriterien kommen zum Tragen, wenn das Teilen schwerer fällt?
Teilen werde erst dann problematisch definiert, wenn die eigenen Menschenrechte betroffen seien, erklärte der Soziologe unter Bezug auf den Philosophen Thomas Pogge. Dieser sehe eine moralische Verpflichtung, die Menschenrechte anderer auch durch Teilen so lange abzusichern, bis die eigenen Menschenrechte angetastet würden. "Und da ist es ja noch ein weiter Weg dahin. Was wir hier heute haben in Deutschland, das sind alles noch Phänomene von, ich sage mal, Besitzstandswahrung, wo also man Angst hat, von seinem Reichtum oder seinem Wohlstand etwas abzugeben, was sich natürlich auf einem sehr hohen Niveau bewegt", betonte Philipp.
Mit John Rawls den Blick auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft richten
"Eine Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied", zitierte Tillmann die 1971 veröffentlichte "Theorie der Gerechtigkeit (A Theory of Justice)" des Harvard-Professors John Rawls: "Und eine Gesellschaft ist nur so gerecht, wie es die Situation derjenigen ist, denen es am schlechtesten geht. Und das verpflichtet uns auch darauf, gerade marginalisierte Gruppen und sehr benachteiligte Gruppen in unserer Gesellschaft in den Blickpunkt zu nehmen und darauf zu achten, dass deren Position und deren Lebenswirklichkeit immer noch annehmbar ist", sagte der Autor des 2012 erschienenen Buches "Teilen statt Zuteilen. John Rawls und die Begründung eines relativen Grundeinkommens."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Vor genau einer Woche habe ich hier mit Jochen Brühl gesprochen, und der Bundesvorsitzende der Tafeln in Deutschland hat sehr eindrücklich geschildert, wie sich die Situation verändert hat, durch die 250.000 Flüchtlinge, die inzwischen die Tafeln aufsuchen. Und das führt zu Konflikten, sagt Jochen Brühl.
Jochen Brühl: Wenn ich wenig habe und wenn ich auf Hilfe und Unterstützung angewiesen bin, wenn ich Kinder zu Hause habe oder wenn ich merke, ich verlasse mich auch auf die Unterstützung der Tafel – das möchte ich auch noch mal betonen, wir versorgen nicht, sondern wir unterstützen mit dieser freiwilligen Hilfe –, dann führt das einfach zu Konflikten, und dann kann es dazu sein, dass die, die neu kommen, dann halt von denen, die schon länger da sind, eben halt auch diskreditiert werden. Aber wir achten bei diesen Konflikten immer sehr darauf, dass nicht eine bestimmte Gruppe den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt, sondern wir achten darauf, dass alle, die zu uns kommen, auch unterstützt werden, aber eben mit den Möglichkeiten, die wir haben.
Welty: In schweren Zeiten fällt also auch das Teilen schwerer, denn mehr Lebensmittelspenden bekommen die Tafeln nicht unbedingt. Wie also damit umgehen? Welche Prinzipien gelten für erfolgreiches Teilen, nachdem dann alle zufrieden sind, und wie kann man das Teilen in einer Gesellschaft verankern? Darüber spreche ich jetzt mit Frank Tillmann. Der Soziologe beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. Guten Morgen, Herr Tillmann!
Frank Tillmann: Guten Morgen!
Welty: Ist es so, wie ich eben sagte, dass in schweren Zeiten es schwerer fällt zu teilen, und dass sich dann doch jeder selbst der Nächste ist?
Menschen fällt es leichter zu teilen, wenn andere sich unverschuldet in einer Notlage befinden
Tillmann: Das ist schon so, dass es Leuten leichter fällt, etwas von ihrem Eigentum abzugeben, wenn sie erkennen, dass sich andere vor allen Dingen unverschuldet in einer Notlage befinden, wie beispielsweise die Flüchtlinge, die jetzt ins Land kommen. Ich denke mal, dass viele schon so eine Art Reziprozitätsannahme auch verfolgen sozusagen, also dass sie schon eher dann teilen, wenn sie annehmen, ein anderer würde es ebenfalls so tun, also getreu nach dem Motto "Wie du mir, so ich dir" ist dann die Bereitschaft zu Teilen höher. Und ein anderer Faktor, der da natürlich eine Rolle spielt: Im sozialen Nahraum sind wir natürlich eher bereit, auch zu teilen, wenn Bekannte und Verwandte von solchen Notlagen betroffen sind. Das spielt hier natürlich auch eine Rolle.
Welty: Es gilt ja als Errungenschaft der Zivilisation, dass man eben in Notsituationen enger zusammenrückt, um eben diese besser zu überwinden. Wie sehr oder wie wenig ist diese Errungenschaft tatsächlich ausgeprägt?
Tillmann: Es ist schon so, wenn es im eigenen Land Landsleute sozusagen betrifft, die von Katastrophen heimgesucht werden, dann ist die Spendenbereitschaft deutlich höher, als wenn es sich um einen Krisenherd handelt, der viele Tausend Kilometer entfernt ist. Diese eigene Identität, die man mit den Landsleuten verbindet, diese gemeinsame Identität, die unterstützt natürlich die Bereitschaft, etwas vom eigenen Eigentum abzugeben.
Welty: Jetzt haben wir Kriterien aufgezeigt, unter denen das Teilen leichter fällt. Welche Kriterien kommen denn zum Tragen, wenn das Teilen schwerer fällt? Ist das eine Frage des Überlebens, des eigenen Lebens vor allen Dingen?
Verpflichtung zu teilen, bis unsere Menschenrechte angetastet werden
Tillmann: Es gibt zum Beispiel den Philosophen Thomas Pogge, der ja unterstreicht, an sich sind wir moralisch letztlich dazu verpflichtet, in der Endkonsequenz so lange die Menschenrechte anderer zum Beispiel auch durch Teilen sozusagen abzusichern, so lange, bis unsere eigenen Menschenrechte angetastet werden. Und da ist es ja noch ein weiter Weg dahin. Was wir hier heute haben in Deutschland, das sind alles noch Phänomene von, ich sage mal, Besitzstandswahrung, wo also man Angst hat, von seinem Reichtum oder seinem Wohlstand etwas abzugeben, was sich natürlich auf einem sehr hohen Niveau bewegt.
Welty: Wann entwickeln Menschen überhaupt ein Bewusstsein fürs Teilen? Das geht ja auch immer so in Wellen. Wenn man sich Bewegungen wie attac oder Occupy anschaut, da kann man das ja sehr gut beobachten, dass Teilen manchmal sehr en vogue ist und manchmal weniger.
Tillmann: Ich würde einfach da davon sprechen, dass, gerade wenn eine Unmittelbarkeit da ist, für das Leid anderer Menschen, wenn das sozusagen sehr präsent ist im eigenen Bewusstsein, dass dann die Sensibilität für das Teilen auch geweckt wird.
Welty: Der Vater des Gerechtigkeitsgedanken, der schwebt ja sozusagen über jedem Gespräch, das man über das Teilen führt, das ist der amerikanische Philosoph John Rawls, der 2002 gestorben ist. Welchen Stellenwert hat Rawls heute? Was trägt er nach wie vor zur Diskussion bei?
Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied
Tillmann: Ganz bemerkenswert finde ich den Ansatz von Rawls, eben zu schauen: Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und eine Gesellschaft ist nur so gerecht, wie es die Situation derjenigen ist, denen es am schlechtesten geht. Und das verpflichtet uns auch darauf, gerade marginalisierte Gruppen und sehr benachteiligte Gruppen in unserer Gesellschaft in den Blickpunkt zu nehmen und darauf zu achten, dass deren Position und deren Lebenswirklichkeit immer noch annehmbar ist.
Welty: Welche Gruppen haben Sie da im Sinn?
Tillmann: In meinen Forschungen beschäftige ich mich beispielsweise mit Straßenjugendlichen.
Welty: Mit Ihren Forschungen am Deutschen Jugendinstitut in Halle.
Tillmann: In der Tat. Also mit Entkoppelungsprozessen, wo Jugendliche aus dem System herausfallen, wo sie also weder in Bildungseinrichtungen noch in Erwerbsarbeit oder nicht mal im Bezug von Transferleistungen sind. Wir haben in Deutschland auch einen hohen Anteil, der so auf ungefähr 30 Prozent geschätzt wird, von Leuten, die einer Art Schicht mit verdeckter Armut angehören, wo wir davon ausgehen müssen, dass sie entweder aus Scham oder aus Unkenntnis Sozialleistungen, die ihnen tatsächlich zustehen würden, nicht in Anspruch nehmen. Und die leben dann tatsächlich unterhalb des Existenzminimums, und das müssten eigentlich Gruppen sein, die besonders in den Blickpunkt geraten.
Welty: Und mit denen auch was geteilt wird?
Es müsste ein bedingungsloses Grundeinkommen geben
Tillmann: An sich müsste es sozusagen ein aus meiner Sicht bedingungsloses Grundeinkommen geben, was sicherstellt, dass allen ohne Ansehen der Person ein gewisser Teil vom Reichtum der Gesellschaft zugute kommt, sodass keiner durch das Raster fällt. Und dann würden solche Phänomene von verdeckter Armut auch nicht mehr auftreten.
Welty: Wir haben über das Teilen an sich gesprochen, und zwar mit dem Soziologen Frank Tillmann vom Deutschen Jugendinstitut in Halle. Und ich danke ihm, dass er seine Zeit mit Deutschlandradio Kultur geteilt hat. Danke, Herr Tillmann!
Tillmann: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.