Armut in Nordafrika

"Tunesien braucht kurzfristige Hilfe"

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Der Schriftsteller Amor Ben Hamida © Foto: privat
Amor Ben Hamida im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 14.02.2017
Von der Armutsentwicklung her sei Tunesien auf dem Weg zurück in die 60er-Jahre, warnt der tunesisch-schweizerische Schriftsteller Amor Ben Hamida. Wegen Perspektivlosigkeit wolle die Jugend das Land verlassen, sagte Ben Hamida vor dem Besuch des tunesischen Ministerpräsidenten Chahed in Berlin.
Gut fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage in Tunesien weiter verschlechtert. "Es tut wirklich weh, muss ich ehrlich sagen, zu sehen, dass wir in Tunesien wieder in diese Richtung der 60er-Jahre, wo meine Mutter Hunger hatte, wo wir Kinder Hunger hatten, wieder zurückgehen", sagt der tunesisch-schweizerische Schriftsteller Amor Ben Hamida.
"Das ist wirklich bedauerlich, weil eine Zeitlang ging es Tunesien besser. Jetzt nach der Revolution gerade... wir haben Bilder gesehen von Wintergebieten in Nordwesttunesien, also wirklich grassierende Armut." So gebe es Menschen, die wirklich hungerten und die trotz Schnee barfuß laufen müssten, weil sie keine Schuhe hätten.

Das akute Problem muss gelöst werden, sonst ist die Jugend weg

Es gebe zwar internationale Hilfe für Tunesien, aber das seien oft langfristige Projekte. "Tunesien braucht und brauchte eigentlich seit 2011 kurzfristige Hilfen", so der Autor, der seit seinem elften Lebensjahr in der Schweiz lebt und unter anderem das Buch "Tunesier sucht Europäerin - zwecks Heirat" veröffentlicht hat.
"Wenn man jetzt ein Projekt startet, das in sechs bis zwölf Monaten einige hundert Arbeitsplätze schafft, das ist super für die Zukunft, aber im Moment löst es das akute Problem nicht."
Wegen dieser Perspektivlosigkeit wolle die Jugend das Land verlassen, warnt Ben Hamida. "Und weil es legal ja nirgendwohin gehen kann, wird diese Jugend über Lampedusa teilweise nach Europa kommen. Das ist die große Problematik heute." (uko)

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Tunesien galt lange als das Vorzeigeland unter den nordafrikanischen Staaten. Deutschland hat dort viel Unterstützung geleistet, damit die Ergebnisse des Arabischen Frühlings nicht wieder rückgängig gemacht werden. Doch die Lage ist alles andere als gut. Sicheres Herkunftsland? Wohl kaum. Zudem gibt es immer wieder Berichte, wie jetzt von Amnesty, dass Sicherheitskräfte in Gefängnissen übergriffig werden, schlagen, foltern, vergewaltigen, doch am schlimmsten ist die Chancenlosigkeit für sehr, sehr viele Tunesier und Tunesierinnen. Kein Wunder, dass sich besonders die Jungen unter ihnen auf den Weg machen nach Europa und auch nach Deutschland.
Heute kommt Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed nach Deutschland, zur Kanzlerin, und hat schon vorab via Interview erklärt, dass seine Behörden nichts falsch gemacht hätten im Umgang mit potenziellen sogenannten Gefährdern wie zum Beispiel dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz.
Anlass für uns, dieser Besuch, über die Lage in Tunesien zu sprechen, und zwar mit einem Mann der Sprache, Amor Ben Hamida. Er ist tunesisch-schweizerischer Schriftsteller, das werden Sie auch gleich am Dialekt hören, er schreibt, seit er 14 ist, kam als Kind in die Schweiz in ein Pestalozzi-Kinderheim, und sein erstes Buch als Erwachsener trug den schönen Titel: "Tunesier sucht Europäerin zwecks Heirat". Jetzt ist Amor Ben Hamida am Telefon, schönen guten Morgen!
Amor Ben Hamida: Einen schönen Valentinsmorgen!

"Youssef Chahed ist ein Hoffnungsträger"

von Billerbeck: Ah, sehr schöner Gruß, ich danke Ihnen! Angela Merkels heutiger Gast, der tunesische Ministerpräsident, ist kein Mann, den man aus der alten politischen Klasse kennt, aus früheren Zeiten. Was ist das für eine Figur, der da sagt, sie haben nichts falsch gemacht in Tunesien? Ein Hoffnungsträger?
Ben Hamida: Ich glaube, er ist ein Hoffnungsträger. Also, wenn in der arabischen Welt generell ein Mann um die 40 – er ist ja 41 – an die Macht kommt beziehungsweise an diese Position kommt, dann ist das ein Hoffnungsschimmer sowieso. Aber selbstverständlich kommt er an eine sehr, sehr große Baustelle und die Zeit wird weisen, ob er das jetzt wirklich schafft, hier Ordnung zu schaffen, neue Ordnung zu schaffen.
von Billerbeck: Was sind denn die größten Probleme, die Sie als Schweizerisch-Tunesier in Ihrem Geburtsland im Moment beobachten?
Ben Hamida: Sie haben vorhin kurz angesprochen die Gewalt der Behörden beziehungsweise Polizei, Gefängnisse und so weiter. Also, diese alten Methoden, die unter Bourguiba schon waren, unter Ben Ali noch akzentuiert wurden und jetzt wiederkommen, das zeigt einfach, dass die Revolution natürlich gewisse Charakterzüge einer Gesellschaft nicht wegwischt. Da ist die Korruption immer noch ein Riesenproblem, die Wirtschaftslage ist wirklich … man spricht von gefährlich, von sehr schlecht, die Jugendarbeitslosigkeit, die damit verbunden ist wiederum, die betrifft dann die Sicherheit. Das sind eigentlich so die drei Punkte, mit denen sich jede Regierung jetzt schlagen muss in Tunesien. Korruption, Arbeitslosigkeit, Sicherheit.
Tunesiens neuer Ministerpräsident Youssef Chahed hält während einer Parlamentssitzung in Tunis eines Rede.
Tunesiens neuer Ministerpräsident Youssef Chahed© AFP / Stringer
von Billerbeck: Ich habe in einer kurzen Biografie, die Sie über sich selbst geschrieben haben, auch gelesen, dass Ihre Mutter selbst gehungert hat, damit Sie zu Essen hatten. Wie ist denn die Lage in tunesischen Familien? Sie waren ja im Herbst dort, beschreiben Sie uns das doch mal. Sie haben eben diese drei Punkte geschildert, aber wenn man sich das konkret vorstellt, was bedeutet das?
von Billerbeck: Ja, es tut wirklich weh, muss ich ehrlich sagen, zu sehen, dass wir in Tunesien wieder in diese Richtung der 60er-Jahre, wo meine Mutter Hunger hatte, wo wir auch Kinder Hunger hatten, wieder zurückgeht. Das ist wirklich bedauerlich, weil, eine Zeit lang ging es Tunesien besser. Jetzt, nach der Revolution gerade, wir haben Bilder gesehen von Wintergebieten in Nordwesttunesien, also wirklich grassierende Armut. Ganz einfach weil die sozialen Netzwerke nicht mehr funktionieren, auch die sozialen … die Behörden, die lokalen Behörden sich teilweise wirklich – man muss es leider so sagen – keinen Deut scheren um die ärmsten Leute. Glücklicherweise gibt es die Solidarität aber aus der Bevölkerung, man hat den Leuten, die wirklich Hunger hatten, keine Schuhe, bei Schnee barfuß laufen mussten, Unterstützung gebracht aus der Gesellschaft.

Mangels Alternativen vor Ort will die Jugend nach Europa

von Billerbeck: Wie ist es denn um die Hilfe aus dem Ausland bestellt? Ich habe es ja auch am Anfang gesagt, dass Deutschland gerade an Tunesien Hilfe geleistet hat seit dem Arabischen Frühling, damit eben genau das nicht passiert, dass man wieder zurückfällt in die alten Verhältnisse, von denen Sie ja auch vorhin gesprochen haben, die da noch vorhanden sind, in bestimmten Behörden. Ist diese Hilfe richtig, kommt die an den richtigen Punkten an oder was läuft da falsch?
Ben Hamida: Also, da kann man wirklich verschiedener Meinung sein. Selbstverständlich ist von deutscher oder von der EU-Seite … Jawohl, wir haben mit Deutschland Verträge gemacht, wir haben das Geld sogar überwiesen, und jetzt ist das Geld irgendwo in Tunis, in diesen Mühlen, und die Administration läuft noch schlechter wahrscheinlich als jetzt eben zu Zeiten Ben Alis oder Bourguibas, schon damals gab es eben vor allem die Korruption, die einiges weggefressen hatte. Und diese Projekte sind ja langfristig.
Tunesien brauchte eigentlich seit 2011 kurzfristige Hilfen. Wenn man jetzt ein Projekt startet, das in sechs bis zwölf Monaten einige Hundert Arbeitsplätze schafft, das ist super für die Zukunft, aber im Moment löst es das akute Problem nicht. Und das Problem, das akute, ist, dass die Jugend aus diesem Land raus will mangels Alternativen. Und wohin? Weil es legal ja nirgendwohin gehen kann, wird diese Jugend über Lampedusa teilweise nach Europa kommen. Das ist die große Problematik heute.

Die Menschen wollen die IS-Rückkehrer nicht im Land haben

von Billerbeck: Einige Bilder, die man aus Tunesien auch in der letzten Zeit immer zu sehen bekommen hat, waren die Bilder von Demonstrationen. Die Tunesier wollen die geschätzt etwa 5.000 bis 8.000 einstigen IS-Kämpfer, also aus dem Syrien-Irak-Krieg, nicht zu sich nach Hause zurücknehmen. Was heißt denn das, was soll mit diesen jungen Leuten passieren?
Ben Hamida: Das ist im Moment ein Riesenproblem und Riesendiskussion in Tunesien, zeigt aber eigentlich, dass da irgendwie in der demokratischen, neuen Situation diskutiert wird. Also, die tunesische Verfassung wie die schweizerische auch erlaubt jedem, der einen tunesischen Pass, eine tunesische Nationalität hat, egal, was er im Ausland gemacht hat, nach Hause zu kommen. Aber die Menschen, die Gesellschaft will das nicht mehr, die Gesellschaft hat selber Angst vor diesen Leuten, die ja seit teilweise vier, fünf Jahren in Syrien, Libyen, teilweise Irak, Afghanistan sind und so weiter, und das sind erprobte Kämpfer. Die haben einiges mitgemacht und gelernt.
Polizisten stehen in einer Straße und bewachen die Umgebung.
Wegen Anschlagsgefahr herrscht in Tunis hohe Polizeipräsenz.© Mohamed Messara, picture alliance / dpa
Und die tunesische Gesellschaft, mehrheitlich denke ich zumindest, glaubt nicht, dass diese jungen Leute sich wieder integrieren, einen Job suchen, wenn es überhaupt einen Job gibt für sie, sondern die werden sich wieder irgendwo im Terrorismus, in der Kriminalität befinden. Und da haben die Leute Angst, gehen auf die Straße, sagen, wir wollen sie nicht. Es gab auch schon Stimmen, gut, dann müssen wir die Verfassung ändern, wir geben diesen Leuten keine Rückkehr mehr. Und das ist ein großes Problem. Es sind nur zwischen 3.000 und 5.000, aber trotzdem, egal, auch wenn es nur 500 sind, die können ein Land gefährden, das ist ganz klar.
von Billerbeck: Der tunesisch-schweizerische Schriftsteller Amor Ben Hamida über die Lage in seinem Heimatland Tunesien. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Ben Hamida: Ganz herzlich Ihnen danke ich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hören Sie dazu auch: Tunesien und seine Extremisten: Warum exportiert das Land so viele Radikale nach Syrien, Irak oder Libyen? Warum kommen Gefährder nach Europa? - Beitrag von Jens Borchers: Audio Player
Die tunesische Flagge auf dem Justizpaoast in Tunis.
Die tunesische Flagge auf dem Justizpalast in Tunis. © picture alliance / dpa / Thierry Monasse
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