Armut in Deutschland

15 Prozent Arme? - "Reiner Unfug!"

Flaschensammeln - für viele Menschen eine Art Einkommen
Flaschensammeln - für viele Menschen eine Art Einkommen © imago stock&people
Walter Krämer im Gespräch mit Nana Brink · 20.02.2015
Dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zufolge ist die Armut in Deutschland so groß wie noch nie. Der Statistiker Walter Krämer hält das für "Unfug": Die Armen hätten heute erheblich mehr als früher.
15,5 Prozent der Bevölkerung seien von Armut betroffen, heißt es im Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der am Donnerstag vorgestellt wurde. Damit sei die Armut so groß wie noch nie im vereinten Deutschland.
Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund, kritisiert den Bericht scharf: Die Annahme eines Anteils von 15 Prozent Armen an der deutschen Bevölkerung sei "reiner Unfug".
Armut bemisst sich nicht daran, wie viel die Reichen haben
Der Statistiker greift insbesondere die dem Bericht zugrundeliegende Armutsdefinition an, wonach derjenige arm ist, der über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt. Diesem Indikator zufolge bliebe der Anteil von Armen gleichbleibend hoch, wenn alle auf einmal das Doppelte verdienten, so Krämer. "Das kann man nicht als Armutsindikator nehmen. Das ist totaler Mist."
Wenn man über Armut rede, solle man schauen, wie es den Armen gehe und nicht, wie den Reichen, sagt Krämer. "Um über Armut zu reden, muss man die Reichen außen vor lassen und nur gucken: wie kommen die Leute über die Runden, die am unteren Ende der Einkommenspyramide leben? Und wenn es denen besser geht, nimmt die Armut ab. Punkt." So habe sich die Kluft zwischen Arm und Reich zwar leicht vergrößert. Dennoch hätten die Armen heute erheblich mehr als vor zehn oder zwanzig Jahren, betonte Krämer.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Was stellen Sie sich denn unter dem Welttag der Gerechtigkeit vor? Vielleicht erwarten Sie ja Zahlen zur Verteilung von Armut und Reichtum, also zum Beispiel, was man Mitte Januar lesen konnte über eine Armutsstudie von Oxfam, das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als alle anderen zusammen? Oder was der Paritätische Wohlfahrtsverband gestern veröffentlichte, nach seinem jährlichen Armutsbericht gelten in der Bundesrepublik über 12,5 Millionen Menschen als arm, es sei laut Verband der höchste Stand der höchste Stand seit der Wiedervereinigung.
Als Hörer solcher Nachrichten ist man dann ja erst mal bestürzt und fragt sich aber dann irgendwie auch beim zweiten Nachdenken: Wie setzen sich denn solche Zahlen eigentlich zusammen? Geht es da gerecht zu? Eine berechtigte Frage am Welttag der Gerechtigkeit. Und da fragen wir doch gerne den Fachmann! Walter Krämer ist Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Uni Dortmund, guten Morgen, Herr Krämer!
Walter Krämer: Guten Morgen!
Brink: Halten Sie es da auch mit dem Spruch: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast? Ist ja interessant, irgendwie ... Wissen Sie eigentlich, woher der Spruch kommt? Eigentlich schreibt man den immer Churchill zu!
Krämer: Stimmt, der wurde aber im Zweiten Weltkrieg von Joseph Goebbels erfunden und Churchill in den Mund gelegt, um ihn bei den Deutschen zu diskreditieren. Insofern ist er selbst auch schon eine Fälschung!
Gängiger Armutsindikator "totaler Mist"
Brink: Also stammt er dann eigentlich von ganz jemand anders, nämlich von Joseph Goebbels!
Krämer: Genau. Churchill war übrigens ein großer Liebhaber der Statistik ...
Brink: Ah ja?
Krämer: Sein Lieblingsspruch war: You must look the facts in the eyes before the facts look at you! Ein schöner Spruch, der gefällt mir viel besser!
Brink: Also: Guck den Statistiken lieber ins Gesicht!
Krämer: Ja, genau.
Brink: Machen Sie das denn? Also, trauen Sie denn keiner Statistik, die Sie nicht selbst gefälscht haben?
Krämer: Oh nein. Erst mal, Statistiken sind durchaus ein Lösemittel, um die Welt zu beschreiben und zu erkennen. Man kann sie natürlich missbrauchen wie alle anderen Werkzeuge auch, das ist nichts Außergewöhnliches. Sie helfen uns in der Regel schon, bloß die aktuelle Statistik des Wohlfahrtsverbandes, die hilft uns leider nicht. Denn die bis 15 Prozent Armen bei uns ist reiner Unfug. Das sind die Menschen bei uns, die weniger verdienen als 60 Prozent des Durchschnitts. Und dieser Prozentsatz bliebe ja gleich, wenn alle auf einmal das Doppelte verdienen würden. Also, das kann man nicht als Armutsindikator nehmen, das ist totaler Mist, Unfug.
Soziale Ungleichheit wird mit Armut verwechselt
Brink: Wie kann man denn dann Armut in Zahlen fassen oder wie kann man das definieren?
Krämer: Es gibt durchaus seriöse Methoden, die Armut zu messen. Erst mal indem man guckt, wie viele Leute keine warme Wohnung haben, kein Dach über dem Kopf, hungern müssen zum Beispiel, richtig physisch am Existenzminimum leben. Das kann man durchaus ermitteln und wird auch in anderen Ländern getan, nur bei uns nicht.
Brink: Welche Fehler machen wir denn dann, wenn wir von sozialer Gerechtigkeit sprechen in Statistiken?
Krämer: Es wird einfach verwechselt das Phänomen der Ungleichheit – was übrigens auch sehr ärgerlich ist – mit dem der Armut. Wenn etwa Boris Becker mit seiner Yacht in Monte Carlo anlegt und neben ihm legt Bill Gates an, der hat eine dreimal so große Yacht, dann ist er unglücklich, besäuft sich. Er ist aber jetzt noch nicht arm, er ist nur nicht so reich wie sein Nachbar. Und das kriegen unsere Journalisten einfach seit Jahrzehnten nicht gebacken, diesen Unterschied zu kapieren zwischen Ungleichheit, die auch übrigens nicht schön ist und auch zu bekämpfen wäre, und dem Phänomen der Armut. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Brink: Also, haben Sie sich jemals mit Armutsstatistiken beschäftigt?
Krämer: Oh ja, das ist eins meiner seriösen – in Anführungszeichen – Arbeitsgebiete, ich habe auch darüber viele Bücher geschrieben, auch ein großes Vorbild, das ist der Inder Amartya K. Sen, der dafür 1998 sogar den Nobelpreis bekommen hat für seine Arbeit, wie man seriös und sinnvoll weltweit Armut misst und bekämpft.
Auch ohne Internetanschluss ist soziale Teilhabe möglich
Brink: Und wie?
Krämer: Nun, man kann durchaus sich darauf einigen, was für eine Teilhabe am sozialen Leben nötig ist, was ein Mensch heute braucht, um als vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu funktionieren. Etwa: braucht er einen Fernsehen, ein Radio, ein Auto, Internetanschluss und so weiter, das kann man... Im Moment halte ich es noch nicht für nötig, dass jemand Internetanschluss hat, um als vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu funktioniert. Das könnte in einigen Jahren anders sein. Und dann braucht man, um nicht mehr arm zu sein, einen Internetanschluss. Aber das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Und so kann man den Problemen sich auf seriöse Weise nähern.
Brink: Wenn Sie jetzt noch mal die Studie oder die Aussage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nehmen, die gestern veröffentlicht worden ist, wie würden Sie das sozusagen in Ihrer Statistik interpretieren?
Krämer: Nun, was der Wohlfahrtsverband durchaus beklagt, und das beklage ich auch, das ist eine Zunahme der Ungleichheit. Das heißt, die Kluft zwischen arm und reich hat sich leicht vergrößert. Aber die Armen haben trotzdem heute mehr, und zwar erheblich mehr als vor zehn oder 20 Jahren. Das heißt, wenn man über Armut redet, muss man erst mal gucken: Geht es den Armen besser? Nicht, geht es den Reichen besser. Um über Armut zu reden, muss man die Reichen außen vor lassen und nur gucken: Wie kommen die Leute über die Runden, die am unteren Ende der Einkommenspyramide leben? Und wenn es denen besser geht, nimmt die Armut ab, Punkt. Ohne Wenn und Aber.
Brink: Das heißt, dann sind aber Statistiken doch immer auch Interpretationssache, was ich jetzt lerne?
Krämer: Ja, ist schon richtig. Wer diese 15 Prozent der Menschen, die weniger haben als 60 Prozent Durchschnitt, als arm interpretiert, ist jedem freigestellt. Das ist halt eine falsche Interpretation, das ist Unfug, ganz grober Unfug.
Brink: Welcher Unsinn Ihrer Meinung nach wird denn sonst noch mit Statistiken veranstaltet?
Krämer: Sie meinen, was sonst noch alles so an Falschmeldungen die Runde macht? Ja, wir haben ja nicht umsonst seit einigen Jahren die Aktion "Unstatistik des Monats", wo wir immer jeden Monat eine dieser Falschmeldungen aufspießen und ...
"Unstatistiken" des Monats: Rasende Saarländer und kriminelle Frankfurter
Brink: Die nennen Sie die Unstatistik?
Krämer: Ja, das nennen wir die Unstatistik des Monats, seit ein paar Jahren betreiben wir dieses Geschäft.
Brink: Und was ist Ihr Favorit?
Krämer: Nun, wir haben inzwischen mehr als ??? gefunden. Ein paarmal kam auch schon die Armut vor. Mein Favorit letztes Jahr war zum Beispiel die Statistik der übelsten Autofahrer. Die Leute, die am meisten die Geschwindigkeit übertreten. Offiziell sind das die Saarländer zum Beispiel, die bei Verkehrskontrollen am meisten auffallen. Warum fallen sie am meisten auf? Da wird am meisten kontrolliert, ganz einfach. Das heißt, wo viel kontrolliert wird, fallen viele Leute auf. Und das heißt aber noch nicht, dass die viel rasen, sondern nur, dass die mehr auffallen. Oder nehmen Sie die Kriminalitätsstatistik: Da ist jedes Jahr in Deutschland die kriminellste Stadt – dreimal dürfen Sie raten, Sie kommen schon alleine drauf – Frankfurt. Pro Einwohner ??? Straftaten in der armen, unschuldigen Stadt Frankfurt. Ja, warum denn? Weil da auch noch 30 Millionen Fluggäste jährlich an- und abfliegen, alle am Hauptbahnhof – Millionen Leute – umsteigen, 600.000 Menschen jeden Tag einpendeln. Das sind alles Menschen, die können Opfer oder auch Täter von Vergehen werden, und die werden einfach vergessen.
Brink: Also Augen auf, wenn man Statistiken liest und auch verstehen möchte! Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund. Danke für das Gespräch!
Krämer: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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