Armen Avanessian: "Geteilte Zeit – Briefe an meinen Sohn"

Philosophische Zeitkapsel

06:21 Minuten
Ein Kind legt seine Hand in die Hand seines Vaters.
In welcher Welt wird mein Sohn einmal leben? Und wie verändert seine Geburt mein Leben? Diesen Fragen geht Armen Avanessian in den Briefen an seinen Sohn nach. © Unsplash / Liane Metzler
Von Constantin Hühn · 11.04.2021
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Wie verändert uns die Geburt eines Kindes? Und wie wird es selbst einmal auf unsere krisengeplagte Gegenwart zurückschauen? In den Briefen an seinen Sohn verbindet Armen Avanessian intime Selbstbeobachtung und kritische Gesellschaftsdiagnose.
"Es gibt etwas, das alle diese Zunächst-Texte, Einträge, Berichte, die dann irgendwann rückblickend oder rückwirkend zu Briefen geworden sind, miteinander teilen. Sie alle verbindet der Versuch, deine Geburt einzuholen. Der unmöglich ganz zu fassende Einbruch, den deine Existenz für mich bedeutet, hat sich als fortdauernder und wohl unendlicher Prozess erwiesen."
Dem Wunder der Geburt nachspüren – und dem neuen Leben, das nicht nur für das Kind, sondern auch für die Eltern damit beginnt: In diesem Zeichen steht der "Brief", den der Philosoph Armen Avanessian an seinen neugeborenen Sohn verfasst hat – und der zugleich eine "Flaschenpost" an dessen zukünftiges, erwachsenes Ich sein soll:
"Ich halte dich fest und versuche Erfahrungen, die als solche nie zu haben sind und die auch dir fehlen werden, festzuhalten mit meinen kurzen Absätzen hier, von denen ich alle paar Stunden einen schreibe, mit müden Armen, weil du unter Tag und wunderbar lange Stunden lang am liebsten herumgetragen wirst."

Mit dem Sohn die Philosophie neu entdeckt

Vom Tag der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres seines Sohnes reichen Avanessians Aufzeichnungen. Der Autor berichtet über das Glück dieser "geteilten Zeit", die Sorgen und Wünsche für die Zukunft des Sohnes und nicht zuletzt auch über sich selbst: seine Suche nach der richtigen Vaterrolle, die belastete Familiengeschichte und das Bemühen, es selber besser zu machen. Hochsensibel ergründet Avanessian vor allem das Wesen der ganz besonderen "Intimität", die er im Umgang mit seinem Sohn empfindet:
"Von unserer Intimität lerne ich, dass es uns nur mehr gemeinsam gibt. Ganz unscheinbar, ohne große Dramatik, löst sich das Phantasma auf, dass jeder von uns sein eigener Ursprung ist. Du öffnest im Schlaf deine Faust und saugst dich mit allen fünf Fingern an meinen Oberarm. Mehr braucht es nicht, damit ich verstehe, dass jeder von uns mehr und anderes ist als er selbst."
Der 1973 in Wien geborene Philosoph, Literatur- und Politikwissenschaftler Armen Avanessian, aufgenommen 2016
Der 1973 in Wien geborene Philosoph, Literatur- und Politikwissenschaftler Armen Avanessian© imago/Agentur Baganz
Die Erfahrungen mit seinem Sohn lassen Avanessian, wie er staunend beschreibt, auch neu über Fragen der Philosophie nachdenken – über Liebe und Freundschaft, Identität und Zugehörigkeit, Leben und Sterben: "Durch deine Geburt wurde ich von Neuem und ganz anders philosophisch darauf gestoßen, was das denn überhaupt sein soll, eine selbstständige Person oder ein eigenständiges Subjekt, oder wie ich das Sterben und den Tod für dich in Zukunft anders denken muss."

Intime Selbstbeobachtung und politischer Essay

Neben diesen intimen – und manchmal fast poetischen – Passagen ist Avanessians "Brief" aber auch ein hochpolitischer Essay über den krisenhaften Zustand der Welt, in die sein Sohn hineingeboren wird, und darüber, warum sie so beschaffen ist. Dabei streift er eine ganze Reihe an Großthemen, die uns heute und in Zukunft beschäftigen werden, wobei er immer wieder Persönliches und Politisches in Beziehung setzt: mangelnde Gleichberechtigung, die Gefahr eines reaktionären Backlash, die Krise des Kapitalismus – und vor allem die Klimakrise.
"Die gegenwärtigen, aus der Vergangenheit stammenden politischen Strukturen können unsere zukünftige Gegenwart längst nicht mehr meistern. Mit ihren nicht mehr zeitgemäßen Mitteln können sie allenfalls eine vorübergehende Anpassung an den Klimawandel erreichen, aber weder seine Gründe (Wachstumszwang, Naturbeherrschung, Primat der Ökonomie) beheben, noch die Konsequenzen einer zunehmend planetaren Krise eindämmen."
Der Reiz des Textes besteht dabei nicht zuletzt im Spiel mit den Zeitebenen: Wie Avanessian aus unserer Gegenwart in die Zukunft seines Sohnes schaut und mit ihm zurück in unsere Gegenwart, die seine Vergangenheit gewesen sein wird – eine Perspektivverschiebung, die nicht nur die Absurdität klimapolitischer Verzögerungstaktiken entlarvt, sondern klarmacht: So wie es ist, kann und wird es nicht bleiben. Aber, auch wenn Avanessian wieder und wieder die Offenheit der Zukunft betont, fallen seine Prognosen eher düster aus:
"Für dich werden das ganz konkrete Aspekte eines neuen Leben- und vor allem Sterbenlernens sein. Ich denke dabei an die durch den Klimawandel erschwerte Nahrungsversorgung oder neue Krankheiten ebenso wie an die Rückkehr vergessen geglaubter oder immer neuer Epidemien, die der ungehemmten Vermehrung der Gattung ein ›natürliches‹ Ende bereiten werden."

Zeitreise in unsere mögliche Zukunft

Hier stellt man sich (und dem Autor) dann aber doch die Frage: Warum überhaupt Kinder in diese apokalyptische Welt setzen? Eine indirekte Antwort darauf findet sich in Avanessians Beschwörung eines "neuen politischen Subjekts", in der "Jugend" mit ihrem politischen Enthusiasmus, "den ich hoffentlich nicht nur auf dich projiziere und der so ziemlich das Einzige ist, was mich, während ich dir hier schreibe, optimistisch stimmt."
Die eigentliche Antwort auf die Frage nach dem "Warum Kinder?" versteckt sich allerdings am Ende des Buches: Immer weniger könne er anfangen, so Avanessian, mit philosophischen "hochabstrakten ... Debatten darüber, ob man nun Kinder bekommen sollte oder nicht. Ich bin einfach glücklich mit dir, das genügt und ist so evident wie ein von Jahrhunderttausenden verbürgtes darwinistisches Wohlbefinden nur sein kann."
Kinderlosen Hörerinnen und Hörern könnte die seitenlange Begeisterung, mit der Avanessian jede Geste seines Sohnes feiert, stellenweise etwas zu viel werden. Wer darüber hinwegsehen kann, findet in der Lesung eine spannende Auseinandersetzung, die nicht nur vom Elternwerden berichtet – sondern auch einen wilden Ritt durch die komplexen Debattenlagen unserer Gegenwart und eine Zeitreise in unsere mögliche Zukunft unternimmt.

Veröffentlicht werden soll das Buch voraussichtlich erst 2035. Eine Lesung findet allerdings jetzt bereits statt: als Online-Veranstaltung an der Berliner Volksbühne in Zusammenarbeit mit dem Cabaret Voltaire in Zürich.

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