Arm aber stolz

Von Alexander Göbel und Marc Dugge · 04.01.2012
Vor einem Jahr hätte wohl niemand geahnt, dass Tunesien Ende 2011 eine Demokratie sein würde. Tunesien war zwar einer der härtesten Polizeistaaten der Region, gleichzeitig galt das Land aber als sicher und stabil. Und dann setzte die Selbstverbrennung eines Obstverkäufers einen Umbruch in Gang, der die gesamte arabische Welt erfasst hat.
"Ich stehe hier auf der Avenue Bourguiba, das ist direkt im Stadtzentrum von Tunis. Hier ziehen im Moment Tausende Demonstranten Richtung Innenministerium ... Da schreit gerade jemand "Ben Ali Mörder" mir ins Mikrofon. So aufgeheizt ist die Stimmung hier schon ... Sie halten die tunesische Flagge in die Luft, strecken ihre Fäuste ... "

14. Januar. Ein sonniger, kühler Wintertag, 13 Uhr.

Keiner ahnt, dass an jenem Tag eine neue Epoche beginnt. Jeder ahnt, dass die Polizei bald durchgreifen wird.

Um 15 Uhr fallen die ersten Schüsse. Die Journalisten flüchten sich in ihre Hotels, die Augen rot vom Tränengas. Und beobachten durchs Fenster, wie Polizisten Jagd auf Demonstranten machen.

Die Häscher verfolgen die Demonstranten durch die engen Gassen der Altstadt, verprügeln sie in den Seitenstraßen. Dem ARD-Kameramann zerstören sie die Kamera. Verängstigte Menschen finden Unterschlupf bei Unbekannten, verstecken sich in Hauseingängen und Hotels.

Dann herrscht Ausgangssperre. Eine gespenstische Stille liegt über die Stadt. Aus mehreren Vierteln steigen Rauchsäulen auf.

Was kaum einer weiß: Ben Ali ist längst weg. Geflohen nach Saudi-Arabien, mit seiner Frau. Und mit riesigen Mengen an Bargeld, Gold und Schmuck. In den engen Gassen der Innenstadt wird noch tagelang geschossen. Anhänger des alten Regimes verschanzen sich, liefern sich Kämpfe mit Armee und Polizei. Der Informatiker Khaled Nanaa erinnert sich:

"Die Tage danach waren für mich ein Albtraum. Man war sprachlos, wusste nicht, wo es hingeht. Kommt er zurück? Kann er uns irgendwas antun? Ich bin gar nicht mehr rausgegangen, ich war zu Hause. Tagsüber habe ich gerade mal ein paar Einkäufe gemacht. Zu Hause habe ich die News und Tweets verfolgt. Ich habe nur gehofft, dass sich die Lage schnell beruhigt. Es hat ein paar Wochen in Anspruch genommen."

Er liefert den Soundtrack zur Revolution: der tunesische Rapper El Général. "Rais Le Bled" heißt sein Song, der schon Ende 2010 im Internet kursiert. El General rechnet schonungslos ab mit Ben Ali und seinem Polizeistaat.

"Hey, Präsident, Dein Volk stirbt!", schreit El Géneral heraus. "Die Menschen essen aus Mülltonnen, und Du lässt Deine Polizei auf sie los."

17. Dezember 2010: Im bitterarmen Sidi Bouzid im Süden Tunesiens übergießt sich der Obst- und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin - und zündet sich an. Er macht Schluss mit einem trostlosen Leben, das für ihn keines mehr war. Brennend geht er noch ein paar Schritte: "Schluss mit der Arbeitslosigkeit!", schreit er dabei, "Schluss mit der Verzweiflung!" In den damals noch regimetreuen Medien lässt Ben Ali den Selbstmord herunterspielen - als Einzeltat eines Verwirrten. Doch in Wahrheit ist sie das Fanal der Jasmin-Revolution.

Wenige Tage später, am 4. Januar 2011, ist Mohamed Bouazizi tot - er wird nur 26 Jahre alt. Über Handyvideos erreichen die Bilder des Trauerzuges die großen Städte - die Wut der Unterdrückten erfasst das ganze Land. Überall kommt es zu Demonstrationen. Ein Student sagt, es sei, als fliege ein Dampfkochtopf in die Luft, der viel zu lange unter großem Druck stand.

"Bouazizis Tod war der Beginn eines Volksaufstands. Er hat uns Mut gegeben, damit wir endlich Nein sagen konnten zu diesem Regime."

"Als Bouazizi starb, hat Ben Ali eigentlich uns alle getötet , wir sind alle Opfer!"

Der Präsident wendet er sich über das Staatsfernsehen an sein Volk, das ihm nicht mehr gehorchen will. Ben Ali kündigt an, die Staatsmacht werde hart durchgreifen.

"Wir bedauern die Schäden, die durch die Ereignisse der letzten Wochen entstanden sind. Schuld daran sind feindliche Kräfte - Menschen, die gegen ihr eigenes Land hetzen. Sie werden die Härte unserer Gesetze mit aller Macht zu spüren bekommen!"

Das Volk hat die Nase voll - das Regime schlägt zurück. Mit Gummiknüppeln, Tränengas - und scharfer Munition - auf Befehl von ganz oben.

Inmitten der blutigen Unruhen wendet sich Ben Ali noch einmal an sein Volk - ein letztes Mal. Machtzugeständnisse, will bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten, die Pressezensur aufheben, die Gewalt beenden. Doch es ist zu spät. Die Tunesier glauben ihm nicht mehr. Noch am selben Tag verlässt Ben Ali Tunesien - nach 23 Jahren. Die Proteste dauern an, zehntausende Tunesier gehen auf die Straße. Es ist Tunesiens "Stunde Null".

"Wir sind frei! Wir sind frei! Tunesien wird frei sein. Wir haben keine Angst mehr. Nicht vor dem Terror, nicht vor dem Diktator."

Die Tunesier eint der Hass auf Ben Ali. Jenem Mann, der von jeder Plakatwand sanft herunter lächelt - und doch von den Sorgen und Nöten des Volkes so weit entfernt ist. Ben Ali hat Tunesien in 23 Jahren zu einem totalen Überwachungsstaat gemacht. Morddrohungen, Verhaftungen und Folter von Journalisten und Oppositionellen sind im Tunesien Ben Alis gängige Praxis. Seine mächtige Partei RCD beherrscht das Land - andere Parteien spielen allenfalls eine Nebenrolle. Die Zeitungen sind verpflichtet, jeden Tag ein Ben-Ali-Foto auf der Titelseite zu haben. Die Fernsehnachrichten bestehen meist aus Berichten, in denen Menschen Ben Ali die Hand schütteln, ihn bejubeln oder beklatschen. Darunter auch Staatschefs aus Europa. Frankreichs Präsident Sarkozy bei einem Besuch in Tunis im Mai 2008:

"Der Grad der persönlichen Freiheiten nimmt zu in Tunesien. Das ist ein ermutigendes Zeichen, das ich begrüße. Ich bin hier Gast unter Freunden. Ich werde es mir nicht erlauben, unter Freunden als Lehrmeister aufzutreten."

Der "Freund" Frankreich versucht anfangs noch, Ben Ali zu Hilfe zu kommen. Während in Tunesien die Menschen in Massen auf die Straße gehen, bietet die französische Verteidigungsministerin Ben Ali ihre Hilfe an. Französische Sicherheitskräfte hätten Erfahrung, um, wie sie sagt, "diese Art von Sicherheitslage zu bewältigen." Das sorgt für einen Skandal - und dann wendet sich Sarkozy schnell von Ben Ali ab. Frankreich verweigert ihm die Einreise, als er und seine Familie nach Frankreich fliehen wollen.

Dem Image von Europa im Allgemeinen und Frankreich im besonderen hilft das nicht mehr. Bei vielen Tunesiern sind die europäischen Regierungschefs längst unten durch. Schließlich haben sie Tunesiens Präsidenten Ben Ali über Jahre gestützt - ebenso wie Ägyptens Mubarak oder Libyens Gaddafi. Diese Regime galten als verlässliche Partner im Kampf gegen Terrorismus und illegale Einwanderung. Nun, im Arabischen Frühling wird klar, wie korrupt diese Regime waren, wie hemmungslos sie sich bereichert haben. Auch das hat die Menschen auf die Straße gebracht, so Noureddine Naifar, Universitätsprofessor aus Tunis:

"Da ging ein tiefer Riss durch die Gesellschaft. In vielen Provinzen, in denen die Rebellion getobt hat, sind die Menschen bettelarm. Während der Palast von Ben Ali im Luxus geschwelgt hat, dank illegalem Devisenhandel und Konten im Ausland. Der Neffe von Ben Ali hatte zum Beispiel einen Panther, den er jeden Tag mit vier gebratenen Hühnern gefüttert hat. Da war er stolz drauf! Dieser Mann hatte überhaupt kein Niveau!"

"Mafiaähnlich" nannte auch die US-Botschaft in Tunis die Verhältnisse in Tunesien. In einem auf Wikileaks veröffentlichten Bericht ist nachzulesen, wie der Ben Ali-Clan die komplette Wirtschaft des Landes beherrscht - und wie Schlüsselpositionen mit getreuen Gefolgsleuten besetzt werden - oder gleich mit direkten Familienangehörigen. Das Vermögen des Ben-Ali-Clans wurde nach der Revolution auf mehrere Milliarden Euro geschätzt.

Nach Ben Alis Flucht ins saudi-arabische Exil übernimmt Premierminister Mohamed Ghannouchi die Amtsgeschäfte. Er verspricht einen Neuanfang, bildet eine Übergangsregierung. Doch am Kabinettstisch sitzen noch viele Vertreter der verhassten Ben Ali-Partei RCD. Die Demonstrationen gehen weiter - die Tunesier wollen sich ihre Revolution nicht stehlen lassen.

Und so schlagen sie ihre Zelte auf. Belagern die Kasbah, den Sitz von Premier Ghannouchi - trotz der nächtlichen Ausgangssperre. "Dégage" - "Weg mit Euch!" - das ist das Fanal der Demonstranten. Sie wollen den vollständigen Bruch mit der Vergangenheit.

In Ghannouchis Übergangsregierung lichten sich die Reihen: Ein RCD-Minister nach dem anderen muss zurücktreten, schließlich macht der Premier selbst den Weg frei - für den 84-jährigen Beji Caid Essebsi, einen erfahrenen Politiker, der schon unter Ben Alis Vorgänger Bourguiba gedient hatte.

Essebsi räumt auf, bildet eine neue Übergangsregierung, die frei ist von alten Kräften. Der letzte Innenminister der Ben Ali-Zeit wird festgenommen, die Partei RCD wird aufgelöst, ebenso die gefürchtete Geheimpolizei, die Staatssicherheit Tunesiens. Ben Ali selbst wird in Abwesenheit der Prozess gemacht. Tunesien schlägt ein neues Kapitel auf. Doch die Herausforderungen sind gewaltig.

Vor allem liegt die Wirtschaft am Boden. Die Regierung schätzt, dass dem Land durch die Revolution ein Schaden von über zweieinhalb Milliarden Euro entstanden ist. Ganz besonders betroffen ist der Tourismus. Wegen der Unruhen und der Reisewarnungen haben viele Urlauber storniert. Viele Menschen, die vom Tourismus leben, verlieren ihren Job.

Tunesien durchlebt die Mühen der Ebene. Doch die Menschen glauben wieder an ihr Land. Die Regierung bereitet Wahlen vor. Vorsichtiger, wachsamer Optimismus auch im Netz - bei den Bloggern und in den sozialen Netzwerken. Dort begleitet auch die 28-jährige Salma die Jasmin-Revolution:

"Früher wollte ich um jeden Preis das Land verlassen, ins Ausland gehen um zu studieren oder zu arbeiten. Jetzt möchte ich bleiben, um das Land wiederaufzubauen. Das ist ein großartiges Land, die Menschen sind einfach super. Ich bin so dermaßen stolz, dass ich es gar nicht beschreiben kann - so ein Gefühl hatte ich noch nie."

Es gibt Ereignisse, die treiben auch den Reportern die Tränen in die Augen. Ein solcher Tag ist der 23. Oktober 2011. Neun Monate nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes ist es so weit: Die Tunesier wählen eine Verfassungsgebende Versammlung - ein neues Übergangsparlament. Echte Volksvertreter, die das Ende von 23 Jahren Ben Ali besiegeln und das Land in demokratische Bahnen lenken sollen.

Mourad ist aufgeregt. Es ist 6:50 Uhr, das Wahlbüro macht erst in zehn Minuten auf. Und doch steht er schon seit einer halben Stunde hier in der Schlange. Mit kleinen Augen und großen Hoffnungen.

"Ich habe es kaum erwarten können, zu wählen. Es ist die erste Wahl meines Lebens. Man hat mich niemals nach meiner Meinung gefragt - und wenn ich sie geäußert habe, wurde sie nicht beachtet. Die Urne ist für mich nicht nur eine Wahlurne - es ist auch die Graburne des alten Regimes."

Mourad hat eine Morgenzeitung dabei. "Alle an die Urnen - eine Hymne an die Demokratie!", titelt sie. Und: "Ich wähle, also bin ich".

Die Schlangen vor den Wahlbüros werden immer länger. Männer und Frauen, Junge und Alte - alle stehen sie an, bis zum Abend. Ruhig, diszipliniert, viele von ihnen lächeln. Eine feierliche Stimmung liegt in der Luft.

Kamel Jendoubi, der Chef der Unabhängigen Wahlkommission kann das Ergebnis gar nicht mehr fertig verlesen. Die Menschen im Saal stehen auf, applaudieren, stimmen die Nationalhymne an. Wochenlang waren die Tunesier nervös, mussten bange auf das Resultat warten, nun endlich steht fest: Die erste freie Wahl in der Geschichte des Landes ist geschafft. Demokratische Feuertaufe: bestanden.

Besonders feiern die gemäßigten Islamisten der Partei Ennahda. "Ennahda" heißt auf Deutsch "Wiedergeburt" - und genau das ist geschehen. Die Partei, die über Jahrzehnte in Tunesien verboten war, deren Anhänger inhaftiert und gefoltert wurden, hat aus dem Stand die allermeisten Stimmen eingefahren. Über 40 Prozent: das bedeutet 89 von 217 Sitzen in der Verfassungsgebenden Versammlung. Ennahda gibt sich große Mühe, Befürchtungen zu zerstreuen, die Islamisten wollten eine religiöse Agenda durchsetzen und individuelle Freiheiten beschneiden. Ennahda muss koalieren - mit den linksliberalen Parteien CPR und Ettakatol. Sie waren bei den Wahlen auf dem zweiten und dritten Platz gelandet.

Am 22. November ist es soweit: Das Parlament tritt erstmals zusammen. 217 Abgeordnete müssen dem Land eine Verfassung geben, das politische Führungspersonal bestimmen - ein neues Tunesien schaffen. Ein Jahr haben sie dafür Zeit, dann wird neu gewählt.

Die Ära Ben Ali ist vorbei. Das zeigt sich schon am neuen Führungspersonal. Der Islamist Hamadi Jebali - neuer Regierungschef. Der Sozialdemokrat Mustapha Ben Jaafar - neuer Parlamentspräsident. Und der Bürgerrechtler Moncef Marzouki: Neuer Staatspräsident.

Marzouki saß für seine Überzeugungen in Tunesien im Gefängnis, in den letzten Jahren lebte er im Exil in Frankreich. Für den 66-Jährigen ist das Präsidentenamt die Krönung seines politischen Lebens. Auch wenn er weiß, dass das kommende Jahr kein Spaziergang wird.

"Die größte Herausforderung ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Was den Schutz der Freiheiten angeht, besonders den Schutz der Frauenrechte, da herrscht breiter Konsens unter allen Beteiligten, auch bei den Islamisten. Aber beim Thema Wirtschaft müssen wir dringend Konzepte erarbeiten. Denn die Menschen im Land sind verständlicherweise sehr ungeduldig. Da stehen uns noch schwierige Zeiten bevor."

Marzouki warnt davor, die gemäßigten Islamisten zu verteufeln. Deswegen hat sich seine Partei auch an der Regierung beteiligt, die von Islamisten geführt wird. Das hat ihm viel Kritik eingebracht. Doch er ist überzeugt: Wenn Tunesien zu einer dauerhaften Demokratie werden soll, dürfen politische Gruppen nicht ausgegrenzt werden.

"Es geht mir darum, den Tunesiern ihre Würde zurückzugeben, dem Staat seine Legitimität, dem Volk seine Souveränität. Tunesien war bisher eine als Republik getarnte Monarchie - und wir werden nun ein echtes demokratisches System aufbauen."

Tunesien macht sich an die Arbeit. Es ist ein holpriger Weg in Richtung Demokratie. Viele Tunesier sagen: Wir haben keine Erfahrung mit der Demokratie, mit Debattenkultur, einem echten Wettbewerb der Ideen. Die neue Freiheit verwirrt, sie macht Angst, auch misstrauisch. Aber am Ende überwiegt doch der Stolz.

Stolz auf das, was die Tunesier erreicht haben, was die Jugend erreicht hat. Menschenrechtlerin Souhair Belhassen:

"Die Jugendlichen, die sich niemals ausleben konnten, die voller Elan sind, voller Kreativität, voller Großzügigkeit und Lebendigkeit - sie waren es, die Tunesien vom Regime von Ben Ali befreit haben."