Arktische Fabelwesen

11.12.2009
Das Albinomädchen Light begibt sich auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater in die Arktis. Dort trifft sie seltsame Wesen und stellt sich Frost, dem Herrscher über das Königreich der Kälte. Geschickt flicht Nick Lake die Fabelwelt der Inuit in seinen Fantasyroman ein.
Die jugendliche Romanheldin Light lebt mit ihrem Vormund auf einem Herrensitz in Nordirland. Ihren ungewöhnlichen Namen trägt sie, weil sie ein Albino ist. Lights verstorbene Mutter war Inuit, und jetzt wird ihr Vater, ein Polarforscher, seit mehreren Monaten auf einer Polarexpedition vermisst. Obwohl Light fest davon überzeugt ist, dass ihr Vater noch lebt, muss sie ihn schließlich für tot erklären lassen.

Genau am Tag der Trauerfeier sieht sie seltsame Wesen und wird kurz darauf von ihnen überfallen. Die Wesen behaupten, der Vater sei ein Gefangener von Frost, dem Herrscher über das Königreich der Kälte. Andere seltsame Wesen wiederum, die teils menschlich sind, sonst jedoch an Bären und Haie erinnern, eilen Light zu Hilfe.

Das tapfere Mädchen hat nur noch einen Gedanken: Sie muss ihren Vater retten. Es beginnt eine spannende Rettungsexpedition, die in die ewige Dunkelheit der Arktis führt und mitten hinein in die Götter- und Sagenwelt der Inuit.

Light trifft die Meeresgöttin Setna, den Rabengott Tugulaq oder die böse Romanfigur Frost, dargestellt als Kälte in Menschengestalt.

Der Roman lebt von den Schilderungen der Fabelwelt der Inuit und der Tatsache, dass Nick Lake die alten Fabelwesen in einer modernen Welt auftreten lässt. Damit erreicht er zweierlei: Er belegt, dass alte Sagen auch heute noch eine Bedeutung haben können, und er macht seine Leser mit einem Kulturkreis bekannt, über den man zumindest hierzulande nur sehr wenig weiß.

Noch etwas macht "Im Königreich der Kälte" zu einem sehr lesenswerten Buch: Nick Lake schildert das Leben in einer Klimazone, in der das Überleben alles andere als einfach ist. Die arktische Kälte und die lange Winternacht können zu tödlichen Feinden werden. Überleben heißt unter solchen Bedingungen oft, töten müssen.

Auch die Romanfigur des Mädchens Light ist sorgsam gewählt. Als Albino muss sie die Sonne fast noch mehr fürchten als eisige Kälte, ihre roten Augen kommen mit der Dunkelheit besser zurecht als mit dem grellem Sonnenlicht im Sommer. Was auf den ersten Blick wie ein Handicap scheint, entpuppt sich in der Abenteuergeschichte somit als Vorteil.

Das Buch nimmt seine Leser in eine Welt mit, die es tatsächlich gibt. Erst die Fabelwesen, die der Mythologie der Inuit entnommen sind, machen daraus einen Fantasyroman. Das fügt diesem Genre eine neue faszinierende Dimension hinzu. Endlich sind es mal keine Zauberschulen, an denen ein jugendlicher Held seine Entschlusskraft unter Beweis stellen muss.

Die zugrunde liegende Idee - die Vertreibung aus dem Paradies - findet man auch in den Büchern des britischen Autors Philip Pullman, der sich wiederum von John Miltons "Paradise Lost" inspirieren ließ. Die Heldin gerät immer wieder mit den letzten Überlebenden einer nicht-menschlichen Zivilisation aneinander, was wiederum an Eoin Colfers Romanserie "Artemis Fowl" erinnert. Verglichen mit den Büchern dieser beiden Autoren jedoch ist "Im Königreich der Kälte" viel konkreter. Wenn es Nick Lake in zukünftigen Romanen noch etwas besser gelingt, den Spannungsbogen der eigentlichen Abenteuergeschichte zu halten und ein paar Ungereimtheiten aus dem Weg zu räumen, dann kann man sich auf eine Fortsetzung freuen!

Besprochen von Roland Krüger

Nick Lake: Im Königreich der Kälte
Roman. Aus dem Englischen von Sabine Reinhardus
Pan-Verlag, München, November 2009
382 Seiten, 14,95 Euro