Argentinisch-jüdische Autorin Tamara Tenenbaum

"Meine Millenial-Freunde wirken irgendwie verloren"

15:09 Minuten
Eine junge Frau legt ihren Kopf auf die Schulter des Partners und schaut ins Leere
Tamara Tenenbaum hat ein Buch geschrieben und recht provokant "Das Ende der Liebe" genannt. © Eyeem / Nacho Caiafa
Von Victoria Eglau |
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Ein Schulwechsel als Migrationserfahrung: Tamara Tenenbaum wechselte mit zwölf Jahren aus dem orthodoxen Viertel Once in Buenos Aires auf ein staatliches Gymnasium. Schnell stürzte sie sich ins neue Leben - und hat nun ein Buch darüber geschrieben.
Gegensätze prägen ihr Leben. Auf ihrem Buchcover steht das Wort "vögeln", aber Tamara Tenenbaum kommt aus einer religiösen Welt, in der Sittsamkeit groß geschrieben wurde. In der sich Jungen und Mädchen nicht einmal die Hand gaben.
Die Argentinierin aus der Millennial-Generation war zwölf, als sie emigrierte: Aus dem jüdisch-orthodoxen Viertel Once in ein weltliches argentinisches Leben. Damals erlaubte ihre Mutter ihr, aus der jüdischen Schule auf ein staatliches Gymnasium zu wechseln.
"Es war so schwierig – wie eine wirkliche Migration, aus einem Leben in ein anderes", erinnert sich Tamara Tenenbaum. Aufgewachsen war sie in einer Familie der modernen Orthodoxie. Sie und ihre Schwestern trugen Turnschuhe, und ihre Röcke bedeckten zwar die Knie, waren aber immerhin aus Jeansstoff.
Zuhause gab es Fernsehen und Bücher, die ein Fenster zum Leben außerhalb des Viertels waren und Tamaras Neugier und Wissensdrang weckten.

Jugend ohne Vater – eine Chance?

Ihre Familie bestand aus starken, gebildeten Frauen: Die Großmutter hatte den Tanach, die jüdische Bibel, unterrichtet, die Mutter war Ärztin. Als ihr Mann 1994 bei dem Attentat auf das jüdische Gemeinschaftszentrum AMIA in Buenos Aires ums Leben kam, nahm sie einen Vollzeitjob an und brachte ihre Töchter alleine durch.
Tamara Tenenbaum war damals fünf Jahre alt und hat kaum Erinnerungen an den Vater. Aber seine Abwesenheit hat ihrem Leben eine andere Wendung gegeben – davon ist sie überzeugt:
"Außer mir gab es noch ein anderes Mädchen, das das orthodoxe Viertel verlassen hat, und wie ich war es ohne Vater aufgewachsen. Sicher war das kein Zufall. In einem Frauen-Haushalt sind die Beziehungen flexibler. Es herrscht kein Gesetz des Vaters, und das ermöglicht mehr Gespräche, mehr Vertrautheit mit der Mutter. Ich glaube schon, dass der Tod meines Vaters dazu beigetragen hat, dass ich ein anderes Leben führen konnte."

Neue Schule, neue Sitten

In der ersten Station, dem staatlichen Gymnasium, war es nicht der Lehrplan, der Tamara Tenenbaum Schwierigkeiten bereitete, sondern das ihr unbekannte Terrain der zwischenmenschlichen Beziehungen in einem nichtreligiösen Umfeld.
"Was mir besonders auffiel war, wie unkompliziert die Schülerinnen und Schüler miteinander umgingen. Wo ich herkam, sind Berührungen nicht üblich. Bei orthodoxen Juden gibt es keine Freundschaften und keinen kumpelhaften Umgang zwischen Mädchen und Jungen. Der Übergang aus der Orthodoxie in ein weltliches Leben ist hier in Argentinien, glaube ich, besonders schwer, weil dies eine Gesellschaft mit viel Körperkontakt ist."
Tamara Tenenbaum beobachtete – und lernte schnell. Sie vermied es, Fragen zu stellen, weil sie nicht auffallen wollte, und stürzte sich mit Leib und Seele in das Leben eines Teenagers und dann einer jungen Frau in der Metropole Buenos Aires. Sie schloss neue Freundschaften, schlief mit Jungen, lebte in Beziehungen und als Single. Sie studierte Philosophie, wurde Dozentin und Journalistin.

Das Buch zum Ende der Liebe

In diesem Jahr, achtzehn Jahre, nachdem sie der Orthodoxie den Rücken kehrte, hat Tamara Tenenbaum in Argentinien mit einem Buch für Aufsehen gesorgt, das den provokanten Titel "El Fin del Amor" trägt: Das Ende der Liebe.
Der Untertitel stellt klar, dass es in dem Essay um Liebe und Sex im 21. Jahrhundert geht. Weil darin das Verb coger vorkommt, das man mit "vögeln" übersetzen könnte, wollte eine bekannte konservative Zeitung das Buch nicht rezensieren.
"Mir war wichtig, dass das Wort im Untertitel vorkommt, denn alle Argentinier benutzen es, wenn sie von Sex sprechen", sagt Tamara Tenenbaum bestimmt. Auch ohne die erwähnte Rezension ist ihr Buch in Argentinien zum Bestseller geworden, in wenigen Monaten wurden vier Auflagen gedruckt. Vor allem junge Frauen – aber nicht nur – lesen El Fin del Amor.
Die Autorin Tamara Tenenbaum, aufgenommen auf der Straße.
Die Autorin Tamara Tenenbaum kennt beide Welten: die orthodox-jüdische und die säkulare.© Victoria Eglau / Deutschlandradio

Kritischer Blick auf altbekannte Rollenmuster

In ihrem Essay analysiert Tenenbaum die vielfältigen Beziehungsformen und -probleme ihrer Generation aus einer feministischen Perspektive. Monogamie, offene Beziehungen, Affären, unverbindlicher Sex, das Leben von Singles, Partnersuche im Internet oder sexuelle Gewalt sind Themen, die die Autorin freimütig und ohne Rücksicht auf Tabus angeht. Und immer wieder stellt sie Rollen und Verhaltensmuster ihrer Geschlechtsgenossinnen in Frage:
"Von einem Mann geliebt zu werden, oder zumindest diesen Eindruck zu erwecken, bestimmt immer noch den sozialen Status einer Frau. Vielen Frauen fällt es schwer, das Single-Dasein nicht als beklemmenden Zustand der Abwesenheit von Zuneigung zu sehen, dem man so schnell wie möglich entfliehen muss. Selbst wenn wir unsere glücklichsten Momente ohne Partner erlebt haben, selbst wenn unsere großen Säulen unsere Freundinnen, Freunde oder Mütter sind. Eine Frau ohne Partner, denken wir automatisch und unter dem Einfluss einer heteropatriarchalischen und konservativen Macho-Kultur, ist allein – und nur Zweisamkeit macht glücklich", schreibt Tamara Tenenbaum in ihrem Essay, in dem sie viele eigene Erfahrungen verarbeitet und immer wieder auf ihre Herkunft, die Kindheit in einer jüdisch-orthodoxen Enklave, zu sprechen kommt.
"Ich musste die Beziehungen zwischen den Menschen von klein auf studieren, um mich im Leben zurechtzufinden. Ich glaube, weil ich aus einer anderen Welt stamme, bin ich in der Lage, bestimmte Dinge zu erkennen, die andere selbstverständlich finden und nicht in Frage stellen."

Alles eine Frage der Perspektive

Ihren Status als Grenzgängerin zwischen zwei Welten sieht Tamara Tenenbaum nicht nur als Vorteil bei der Analyse gesellschaftlicher und menschlicher Phänomene, sondern auch als Gewinn für ihr eigenes Leben.
"Der Weg, den ich zurückgelegt habe, gibt mir eine gewisse Sicherheit – besonders im Vergleich zu meinen Altersgenossen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich meine Millennial-Freunde immer nur beklagen und irgendwie verloren wirken. Mal klagen sie über ihre Arbeit, mal darüber, dass sie zu wenig verdienen. Ich selbst dagegen hatte nur geringe Erwartungen an mein Leben. Dass ich unabhängig bin, allein leben kann und eine Arbeit habe, die mir Spaß macht, bedeutet mir sooo viel."

Ausbruch aus der orthodoxen Welt

Tamara Tenenbaum wirkt nicht arrogant, aber sie wendet das Wort gern auf sich selbst an. Arrogant in dem Sinne, dass sie sich alles zutraue, sagt die Dreißigjährige. Wer ihren hellsichtigen Essay liest, hat den Eindruck, dass sie in ihrer Biografie den Fast-Forward-Modus eingeschaltet hat, dass sie, seit sie das orthodoxe Viertel verlassen hat, besonders schnell und intensiv lebt. Aber sie weiß: Ohne die Aufgeschlossenheit ihrer Mutter wäre das nicht möglich gewesen:
"Selbst aus der modernen jüdischen Orthodoxie kenne ich Leute, die ausbrechen wollten und nicht konnten. Es ist sehr schwer. Wenn meine Mutter mich nicht unterstützt hätte, hätte ich es auf keinen Fall geschafft. Ich kenne keinen, dem es gelungen wäre, die Welt der Orthodoxie gegen den Willen seiner Familie zu verlassen."
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