Argentinien

Glück mit Schattenseiten

Blick über die Dächer von Buenos Aires, Argentinien, aufgenommen bei wolkigem Himmel am Montag
Blick über die Dächer der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Insgesamt leben etwa 350.000 Bolivianer in Argentinien. © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Francisco Olaso  · 24.09.2014
In der Hoffnung auf ein besseres Leben und ein gutes Einkommen wandern viele Bolivianer ins Nachbarland Argentinien aus. Manche sind dabei erfolgreich, viele werden als billige Arbeitskraft benutzt.
Geschäftiges Treiben im Großmarkt der bolivianischen Gemeinde in Escobar, fünfzig Kilometer entfernt von Buenos Aires. Ein Areal so groß wie acht Fußballfelder. Nachdem in vier modernen Markthallen früh morgens die Lastwagen der Obst- und Gemüseproduzenten entladen wurden, fahren jetzt am Vormittag die voll beladenen Lieferwagen der Gemüsehändler los. Von hier bezieht die argentinische Hauptstadt achtzig Prozent ihres Gemüses. Durch die Latten der zu hohen Türmen gestapelten Holzkisten leuchten Tomaten. Der Geruch von frisch geerntetem Obst mischt sich mit dem Duft der bolivianischen Gerichte des überfüllten Restaurants neben der Haupthalle.
Carlos Huallpa strahlt Zufriedenheit und Stolz aus. Der 52-jährige Bolivianer kam mit 16 nach Escobar, ist heute stellvertretender Marktleiter und führt die Geschäfte dieses aus dem Nichts gewachsenen Großunternehmens.
"Die Betriebe hier gehörten Gemüsebauern portugiesischer und italienischer Herkunft. Damals mussten wir unsere Ware noch selbst zum Großmarkt nach Buenos Aires fahren, dort abladen und zurückfahren. Die Händler zogen uns über den Tisch. Für eine Kiste Salat, die 70 Pesos wert war, boten sie 30 … Dann kamen wir auf die Idee, dass wir auch hier an der Straße verkaufen könnten. Nebenan war ein Feld voller Unkraut. Das haben wir gemäht und unser Gemüse dort hingebracht. Es wurde uns aus den Händen gerissen.Wir verkauften und verkauften."
Arbeit in Gemüseanbau und Textilbranche
Heute schaut Carlos Huallpa an gleicher Stelle vom Panoramafenster seines Büros im oberen Stockwerk auf das Treiben der Händler und Kunden hinunter. Um den Konferenztisch herum sind Stühle gruppiert. In der Ecke steht ein Gestell mit drei Stangen für die bolivianische, die argentinische und die Flagge der bolivianischen Gemeinde von Escobar. An der Wand gegenüber hängt ein gerahmtes Foto des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, der den Großmarkt vor drei Jahren besucht hatte. Rund 350.000 Bolivianer leben offiziell in Argentinien. Die Botschaft schätzt ihre Zahl auf mindestens anderthalb Millionen. Die größte bolivianische Community in Argentinien ist die von Escobar.
"Wir sind über alle Provinzen verstreut, von Buenos Aires über La Quiaca, La Rioja und Mendoza bis hinunter nach Feuerland. Argentinien ist ein fruchtbares Land. Was du säst, trägt Früchte. Die Bolivianer sind fleißig und wollen voran kommen. Also, was passiert? Wenn sie jemanden sehen, der aus Argentinien nach Bolivien kommt, schick gekleidet, mit Geld, dann greift das wie eine ansteckende Krankheit um sich: "Auf nach Argentinien!" Wir haben dort auch Land, aber das reicht gerade zum Überleben. Man kommt nicht voran. Auch hier in Argentinien haben wir Bolivianer immer hart gearbeitet. Den Markt hier haben wir aus eigener Kraft aufgebaut. Es gab keine staatlichen Subvention, gar nichts."
Die meisten bolivianischen Einwanderer arbeiten im Gemüseanbau oder in Textilmanufakturen. Tayta Ullpu ist einer der wenigen Einwanderer, der eine akademische Laufbahn eingeschlagen hat. Er unterrichtet an der Universität von La Matanza Quechua, die Sprache der Inka, die im Einflussbereich ihres alten Reiches, das sich von Nordwestargentinien bis Kolumbien erstreckte, immer noch präsent ist.
Der 65-Jährige kam mit 15 nach Argentinien, bezeichnet sich aber nicht als bolivianischen Einwanderer, er fühlt sich schlicht und einfach als "Indigena". Seiner Meinung nach setzt sich in der bolivianischen und der argentinischen Gesellschaft die Diskriminierung der "Indigenas" fort, die mit der Eroberung des Inkareiches durch die Spanier begann.
"Sie wollen uns das Gefühl vermitteln, wir wären Ausländer in unserem eigenen Land. Ich kann mir die Haare färben, mich tätowieren lassen, mir einen Ohrring einsetzen, aber, was ich nicht kann, ist, wie ein Europäer aussehen. Wir hingegen sind mit der Weisheit eines alten Volkes aufgewachsen, und wollen sie weitergeben. Die Menschen sollen erfahren, dass es neben ihrer noch eine andere Lebensphilosophie gibt, eine andere Idee: die Gedanken und die Weisheit der Quechua."
Einwanderung seit 1900
Vorder- und Rückseite des modernen Universitätsgebäudes sind verglast. Auf vier Etagen sind jeweils drei Seminarräume verteilt. Wenn sie vom Textbuch aufschauen, sehen die Studenten ihre Kommilitonen in Richtung Cafeteria oder Bibliothek schlendern.
Osvaldo Riva nimmt seit drei Semestern Quechua-Unterricht. Er ist Lektor bei einem Verlag, mag die Andenregion und interessiert sich für deren Sprache und Kultur. Die indigenen Wurzeln bolivianischer Einwanderer sind der Grund für die Diskrminierung, die sie erleben, meint er.
"Einwanderern aus Ländern, die größer und mächtiger sind als Argentinien, begegnet man mit Respekt, den man Menschen aus anderen lateinamerikanischen Ländern nicht zollt, noch dazu wenn man diese für schwächer hält als Argentinien."
Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kommen Bolvianer in das südliche Nachbarland Argentinen. Zunächst als Wanderarbeiter, während der Zuckerrohr- und Tabakernte. Viele von ihnen blieben, mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung, denn das Leben in Argentinen ist für Bolvianer attraktiv. Anders als in ihrem Heimatland sind Gesundheitsversorgung und Bildungswesen kostenlos. Heute verfügt die bolivianische Community über ein ausgedehntes Netz von Kulturzentren und Medien in argentinischen Großstädten. Der Sitz von Radio Latina befindet sich in einem unscheinbaren Reihenhaus in einer Gasse in Mataderos, einem Arbeiterviertel von Buenos Aires. Hinter der dicken Metalltür öffnet sich ein kleiner Flur, in den Licht vom einzigen Zimmer mit Fenster fällt.
Radioprogramm für Bolivianer
Hier wird seit vierzig Jahren das erste Radioprogramm für die bolivianische Community in Argentinien produziert und ausgestrahlt: "Sentir Boliviano". Gisela Pacheco ist gerade dabei, in die Fußstapfen ihres kürzlich verstorbenen Vaters zu treten, der hier der Moderator war.
"Seine Hörer und Kollegen haben mich geradezu bedrängt, sein Programm fortzusetzen. Mir war alles, was mit dem Medium Radio zu tun hatte, fremd, aber ich habe mich jetzt rein gefunden. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Es ist schön, mich an den Sachen erfreuen zu können, die ihm so viel bedeutet haben. Ich bin richtig stolz darauf, das Programm meines Vaters am Leben zu halten.Und abgesehen davon: Ich werde sogar in den Vereinigten Staaten gehört, in Spanien und in Chile."
Die 33-Jährige zieht den Regler des Mischpults auf und beugt sich zum Mikrofon vor. An den Wänden hängen Poster bolivianischer Musikgruppen, zwei ausgestopfte Vögel und ein gerahmtes Foto von Evo Morales. Gisela Pacheco wirkt mit ihren kurzen schwarzen Haare jünger, als sie ist. Sie trägt schwarze Strumpfhosen, ein eng anliegendes schwarzes Kostüm, ein schwarzes Halstuch mit weißen Punkten und hat ein Nasenpiercing. Täglich fährt sie anderthalb Stunden vom Stadtrand zu ihrem Radio. Die Werbung der Sponsoren erlaubt ihr mit ihrer kleinen Tochter ein Leben ohne Luxus. Sie will so wie ihr Vater eine Ausbildung in Tontechnik machen. Er stammte wie ihre Mutter aus Bolivien. Giselas Herz schlägt für Argentinien UND für Bolivien.
"Manchmal mehr für Bolivien, denn ich bin mit dieser Kultur und Musik aufgewachsen. Als ich das erste Mal in Bolivien war, war ich total hingerissen: vom Essen und von diesen großzügigen, netten Menschen vor allem auf dem Land. Sie sind so bescheiden und halten untereinander fest zusammen. Und, natürlich schlägt mein Herz auch für Argentinien. Denn hier bin ich geboren."
Schwarzarbeit und unbezahlte Löhne
Drei von vier Bolivianern in Buenos Aires arbeiten in illegalen von bolivianischen Landsleuten betriebenen Textifmanufakturen. In vielen Fällen haben sie keine Arbeitserlaubnis und werden übers Ohr gehauen. Dann suchen sie Rat beim bolivianischen Hilfsvereins ACIFEBOL. Alfredo Ayala, der Präsident ist 45 und lebt seit 22 Jahren in Argentinien.
"Häufig bekommen die Leute kein Festgehalt, sondern einen Akkordlohn. Sie arbeiten nicht nur acht Stunden, sondern zwölf und manchmal noch mehr, und bekommen überhaupt keinen Urlaub. Und dazu kommt noch, dass sie nicht monatlich bezahlt werden, sondern einmal im Jahr auf einem Schlag. Am Jahresende gibt es dann aber nur einen Teil des Lohns. 'Den Rest kriegt ihr in Bolivien.' Und da heißt es dann plötzlich: 'Ich schulde dir in Argentinien Geld, aber in Bolivien schulde dir gar nichts.' Auf diese Art haben sich schon viele bereichert."
Der Organisation La Alameda, die gegen Menschenhandel kämpft, wirft Alfredo Ayala vor, die Schließung solcher illegaler Nähereien verhindert zu haben. Ayala gibt zu, dass in den Nähereien schwarz gearbeitet wird, aber er wehrt sich gegen den Generalverdacht der Unterstützung von Sklavenarbeit. Der Hilfsverein ist auch Ansprechpartner bei Klagen wegen rassistischer Diskriminierung, der viele Bolivianer in Argentinien ausgesetzt sind, und hilft bei Problemen mit der argentinischen Bürokratie.
"Wir machen hier im Grunde die Arbeit einer Botschaft oder eines Konsulats. Wir unterstützen die Menschen, wenn sie plötzlich ins Krankenhaus kommen, operiert werden sollen und hier keine Familieangehörigen haben, oder wenn sie verhaftet worden sind. Das wäre eigentlich Aufgabe der Botschaft. Aber die kümmert sich nicht darum."
Zwangsarbeit mit 13 Jahren
Die 19 Jahre alte Rocío ist heute Nachmittag zum zweiten Mal beim bolivianischen Hilfsverein, um Rat zu suchen. Ihr Unglück begann vor sechs Jahren in Bolivien.
"Ich war 13, als eine Frau meiner Mutter 600 argentinische Pesos für mich bot, 150 Dollars. Meine Mutter konnte sich das gar nicht vorstellen: so viel Geld für nur einen Monat. Sie willigte ein, auch um mich loszuwerden, weil sie uns Geschwister nicht alle aufziehen konnte. Als ich hierher kam, musste ich von vier Uhr morgens bis Mitternacht im Haus eines Gemüsehändlers arbeiten. Im ersten Monat bekam ich nichts. Mir wurde gesagt, das wäre für die Reise, die sie bezahlt hätten, und das Essen und so weiter."
Rocío trägt ein buntes Kleid. Sie hat ein gewinnendes Lächeln, trotz allem, was sie durchgemacht hat. Ihr wurden die Papiere abgenommen. Die Tochter der Frau, die sie aus Bolivien geholt hatte, zwang sie, im Gemüsebetrieb zu arbeiten, sperrte sie nach der Arbeit ein und schlug sie. Nach einem Jahr konnte sie fliehen und lebte vier Monate auf der Straße. Jetzt arbeitet sie in einer Textilfabrik und lebt mit einem Jungen zusammen, der auch aus Bolivien stammt. Ihr Schicksal steht stellvertretend für das vieler Bolivianer in Buenos Aires: Anzeigen und Festnahmen wegen Menschenhandel und Sklaverei sind die häufige Konsequenz.
"Sie kommen und malen uns alles in rosaroten Farben aus. 'Du brauchst nur vier Stunden zu arbeiten und bekommst dafür eintausend Pesos oder zweitausend Pesos.' Und die Leute in Bolivien sagen: 'Prima, dann kann ich arbeiten und auch noch studieren.' Sie kommen an, steigen aus dem Bus, werden entführt, zur Prostitution gezwungen, müssen in irgendwelchen Werkstätten nähen, ohne Bezahlung oder etwas zu essen zu bekommen. Ich musste ohne Pause schuften. Monate vergingen, sie haben nie was gezahlt. Die 1200 Pesos habe ich nie bekommen."
Mehr zum Thema