Architektonische Avantgarde aus dem Reich der Mitte

Die chinesische Architektur erlebt einen Aufbruch. Der Band "Neue Architektur in China" präsentiert die Arbeiten von 40 Büros aus dem Reich der Mitte, die sich erfolgreich neben den großen ausländischen Firmen behaupten und einen ganz eigenen Beitrag zum Aufbau des modernen China leisten.
Viel ist vom Architekturboom in China die Rede, von den Hochhäusern, den Stadtvierteln für hunderttausende neuer Bewohner, die im altniederländischen, deutschen, italienischen Stil bei Schanghai entstehen, von den Vorstädten, die das Hamburger Großbüro GMP (Gerkan, Marg und Partner) plant, die auch das neue Nationalmuseum in Peking gestalten werden, von dem neuen Stadion selbstverständlich, dem "Vogelnest" in Peking. Der von den schweizerischen Architekten Herzog und DeMeuron entworfene Bau hat alle Chancen, für das frühe 21. Jahrhundert das zu werden, was Günter Behnischs Münchner Olympiastadion von 1972 war, nämlich Sinnbild, ja Ikone einer neuen Idee von Architektur, von Stadtplanung, von Sport vielleicht sogar – so künstlich wie diese Stahlkonstruktion gebogen ist sind schließlich auch viele der Sportrekorde geschaffen worden.

Doch ist all dies zwar Ausdruck des inzwischen erstaunlichen öffentlichen Reichtums Chinas und des unverholenen Anspruches, wieder wie bis ins 19. Jahrhundert Weltmacht zu sein, Amalgam unterschiedlicher Kulturen und Einflüsse. Und wie die bis dahin herrschende, klassische chinesische Architektur aussieht, wissen wir recht gut, Almut Bettels widmete sich vor gar nicht langer Zeit sogar der im westlichen Blick oft vernachlässigten ländlichen Architektur in "Traditionelle Baukunst in China" (Benteli-Verlag 2002). Selbst die klassische Stadtplanung Chinas ist dank gründlich aufgearbeiteten Prachtbänden wie dem von Alfred Schinz "The Magic Square. Cities in Ancient China" (Edition Menges 1996) zu erforschen.

Wie aber sieht eigentlich neuere, genuin chinesische, also von chinesischen Architekten für China geschaffene Architektur aus? Die Berliner Architekturgalerie Aedes hat in den vergangenen Jahren junge Architekten wie Al Wei Wei, Liu Jiakun oder Wang Shu vorgestellt. Und jetzt gibt der junge Berliner Architekt Christian Dubrau endlich auch einen breiteren Einblick in die Architekturszene des Landes. Denn längst haben sich im zunehmend kapitalistischeren China auch kleinere Büros etabliert, die für allem für die rapide wachsende Mittelklasse baut, Reihenhäuser im klassischen Stil in der Kanal- und Gartenstadt Suzhou, Apartmentblocks nach italienischem oder französischem Muster in Chongking, treudeutsche Fachwerkhäuser, aber auch elegant modernisierte klassische chinesische Interieurs oder japanisierend-strenge Foyers sowie Gewerbebauten nach neuesten niederländischen Vorbildern allerorten.

Beim Lesen dieses Buches wird einem klar, wie stark inzwischen die Globalisierung auch die Architekturformen ergriffen hat, und es wird deutlich, wie schwer es inzwischen ist, eine nationale Sprache zu finden. Genau um die aber geht es den jungen Architekten Chinas, meint Christian Dubrau. Wie diese im Detail aussehen wird, das kann man sich allerdings noch nicht ausmalen. So sehr etwa niederländische Architektur schnell als niederländisch zu erkennen ist – neue chinesische Architektur ist das bisher nicht. Sie sucht noch. Dubraus zwar begeisterter, aber auch erfreulich kritischer Text lässt keinen Zweifel daran, dass sich China in einer schweren kulturellen Krise befindet zwischen der verzweifelten Suche nach Anerkennung, dem Wunsch, 4000 Jahre Tradition als Kulturnation weiterzuführen und den Zwängen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung sowie der nicht mehr nur dräuenden, sondern ganz akuten ökologischen Bedrohung. Zu all diesen Problemen kommt noch jenes, dass auch schon so manches westliche Architekturbüro an den Rand der Verzweiflung brachte: Der Entwurf mag noch so avanciert und intellektuell durchdacht sein, noch so raffiniert in den Details und im Grundriss (leider sind viel zu wenige in dem Buch versammelt, man hätte schon gerne einmal gewusst, wie sich die Mittelklasse in China ihr Wohnen heute vorstellt) – ausgeführt wird er von einem Großkonzern, der vor allem einmal auf Wirtschaftlichkeit und Baueffizienz achtet. Deswegen ist es durchaus gerechtfertigt, dass in dem Buch viele Zeichnungen und Präsentationsabbildungen neben den durchweg gut aufgenommenen, wegen des groben Papiers allerdings oft etwas schwammig scheinenden Fotografien zu sehen sind: Sie zeigen das, was sich die Architekten dachten.

Etwas enervierend sind auch anglisierende Bezeichnungen für Städte, die alteingesessene deutsche Namen haben: Schanghai als Shanghai und Peking als Beijing zu schreiben ist einfach nur manieriert. Schließlich käme auch kein Amerikaner auf die Idee, Ciudad de Mexico zu schreiben statt des alt gewohnten Mexico City. Aber Dubraus Fazit der aktuellen Architektur in China, "Es ist eine Architektur der Nische" kann man aus einer architekturhistorischen Sicht durchaus eher als halbvolles denn als halbleeres Glas interpretieren. Schließlich beherrschte auch im Westen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein der Staat die Architektur und die einfachen Häuser wurden von oft miserabel qualifizierten Baumeistern errichtet. Erst um 1880 etwa entwickelten sich nach gut einem Jahrhundert Kampf frei für den Markt arbeitende Architekturfirmen zur Norm im Deutschland. China hat für eine vergleichbare Entwicklung gerade einmal zehn Jahre benötigt. Ein leider ziemlich teures Buch, das jeder, der nicht nur Angst haben will vor dem neuen China, wenigstens in der Bibliothek in die Hände nehmen sollte.

Rezensiert von Nikolaus Bernau

Christian Dubrau, Sinotecture: Neue Architektur in China
(engl./deutsch
Verlag DOM/ Berlin 2008
383 Seiten, 58 Euro