Archäologin der Seele

Rezensensiert von Carsten Hueck |
Mit "Liebesleben" und "Mann und Frau" wurde die israelische Autorin Zeruya Shalev berühmt. Nach der Trennung ihrer Hauptfigur von ihrem Ehemann in "Späte Familie" weichen die Selbstzweifel am Ende der Zuversicht zum Neuanfang. Shalev sensibilisiert: für sämtliche Erfahrungen ihrer Figuren - auch für die eigenen, innersten Regungen.
Mit "Liebesleben" wurde sie berühmt, "Mann und Frau" festigte ihren Ruf als leidenschaftliche Archäologin der menschlichen Seele. Alle Geschichten der israelischen Autorin Zeruya Shalev drehen sich um die innere Welt ihrer Figuren: Neurosen und Leidenschaften, die intimen Beziehungen zwischen Eltern, Kindern, Lebensgefährten.

Auch in ihrem neuen Roman "Späte Familie" gestaltet die 46-Jährige universelle menschliche Konflikte. Die Handlung könnte genauso gut wie in Jerusalem auch in New York oder Berlin stattfinden. Der Plot ist banal: Mann und Frau lieben sich, gründen eine Familie, Jahre später reichen sie die Scheidung ein. Aus einem Elternpaar werden zwei Einzelwesen, für das Kind bricht eine Welt zusammen.

Zeruya Shalev erzählt von der Zerstörung, vom Untergang eines Gemeinwesens. Von den Mühen des Alleinseins, der Hilflosigkeit der Menschen, wenn sie auf sich selbst zurückgeworfen werden. Ihre Figuren erfahren, wie wenig das Leben planbar, wie trügerisch alle festen Vorstellungen von Glück und Liebe sind. Doch Shalev erzählt auch vom "day after": von Trümmerbeseitigung und beschwerlichem Wiederaufbau einer neuen Familie.

Die weibliche Ich-Erzählerin Ella benötigt 580 Seiten, um vom Herbst in den Frühling, vom Leid zum Licht zu gelangen. Die Heldin braucht die Katastrophe, um zu wachsen. Sie geht durch ein Wechselbad der Gefühle, erlebt Enttäuschungen und Erniedrigungen. Am Ende weichen Scham, Wut und Selbstzweifel. Ella findet Kraft und Zuversicht zum Neuanfang jenseits alter Liebes- und Leidensmuster.

Im Original heißt Shalevs Roman "Thera". Thera ist der antike Name der Kykladeninsel Santorini. Vor Kreta gelegen, im Altertum auch die "allerschönste" genannt, war Thera wichtiges Handelszentrum in der Ägäis, von Wohlstand gesegnet, ein blühendes Zeugnis minoischer Kultur. Eine Idylle, ein kleines Paradies.

Ella und ihr Mann Amnon sind Archäologen. Ihre Hochzeitsreise führt sie nach Thera, ihre Beziehung ist von Beginn an mit dem Mythos der Insel verbunden. Durch einen gewaltigen Vulkanausbruch wurde Thera Mitte des 2. Jahrtausends vor Christus auseinander gesprengt. Das gesamte östliche Mittelmeer war von der Katastrophe betroffen. Flutwellen entstanden, ein Ascheregen bedeckte benachbarte Inseln bis zu einer Höhe von 40 Metern. Jegliches Leben erstarb binnen kürzester Zeit.

Shalev verknüpft Mythos und Historie der Insel mit Ellas Trennungsgeschichte. Sie erhält einen Resonanzraum, eine archetypische Dimension. Vernichtend wie die Naturkatastrophe auf Thera erleben alle Beteiligten die Trennung. Ella ist der explodierende Vulkan, der den gewohnten Alltag zerreißt, gewaltige Erschütterungen hervorruft, die heile Welt ihres sechsjährigen Sohnes zerstört.

Zeruya Shalev wählt einen hohen Stil. Sie schreibt in der Sprache der Propheten: wortgewaltig, metaphorisch, mit langen Perioden. Mancher Satz erstreckt sich über eine ganze Buchseite. Das bewusste wie unbewusste Handeln der Figuren wird detailliert geschildert, der Leser nicht verführt, sondern sensibilisiert: für sämtliche Erfahrungen der Romanfiguren und auch für die eigenen, innersten Regungen.

Zeruya Shalev, Späte Familie. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag. Berlin 2005. 580 S., 22.- €