Archäologe verschollener Bildwelten

Von Volkhard App |
Sie sind wie Kriminalfilme in Schwarzweiß: die düsteren Bilder des niederländischen Zeichners und Malers Marcel van Eeden. In seinem neuen Zyklus führt er literarische Figuren verschiedener Autoren zusammen - und entfremdet sie zugleich. Als Vorlage für seine Bilder nutzt er Abbildungen aus alten Zeitungen und Illustrierten.
Was nur haben diese dunklen Zeichnungen, die Marcel van Eeden gleich in ganzen Zyklen zeigt, miteinander zu tun? Wovon erzählen sie? Hier eine geheimnisvolle Landschaft, dort unbekannte Figuren in düsteren Interieurs, ein Revolver und ein Paar Schuhe sind zu sehen, Pilze und vieles mehr. Und in welchem Zusammenhang mit den einzelnen Bildern stehen die Textzeilen, die van Eeden mit Schablone unten auf jedes Blatt gesetzt hat? Aber diese Rätsel stoßen den Betrachter nicht wirklich ab, vielmehr setzen sie in seinem Kopf Fantasie frei und verstärken die Sogwirkung der Präsentation. Man lässt sich durch diese magische Bilderwelt treiben - von Blatt zu Blatt.

1993, nach seiner Ausbildung zum Maler, hat sich van Eeden aufs Zeichnen konzentriert und bringt nun möglichst jeden Tag unter Verwendung von Vorlagen aus Büchern, Katalogen, Zeitungen und Illustrierten mit dem Negrostift seine Motive aufs Papier. In tiefem Schwarz eben und mit vielerlei Grautönen. Marcel van Eeden, ein geradezu manischer Zeichner:

"Ja, ich zeichne soviel wie möglich. Wenn ich einen Tag nicht gezeichnet habe, fühle ich mich wirklich nicht wohl. Dann fühle ich mich nicht mehr als Künstler. Ich muss jeden Tag bestätigen, dass ich es noch bin. Ich muss üben - so wie ein Pianospieler jeden Tag sein Instrument berühren muss, um das Gefühl zu haben, dass er noch spielen kann."

Seine Zeitungs- und Illustrierten-Vorlagen stammen alle aus der Zeit vor 1965, aus den Jahren und Jahrzehnten vor seiner Geburt. Er stellt sich also die Zeit vor, als es ihn noch nicht gab. Man könnte ihn als Archäologen einer alten, fast verschollenen Bilderwelt bezeichnen. Aber von welchen Motiven er sich Tag für Tag zu seiner Produktion anregen lässt, ist denn doch zu beliebig:

"Es ist total willkürlich, glaube ich. Wenn ich ein Motiv für eine neue Zeichnung suche, geschieht das völlig intuitiv."

In seinem neuen Zyklus "Witness for the Prosecution" ("Zeugin der Anklage") spielt er im Titel zwar auf den berühmten Billy Wilder-Film an, die Textzeilen unter den Zeichnungen aber sind einem längst vergessenen Kriminalroman entnommen. Erstmals ist dieser Text unter den Motiven auch durchgängig zu lesen: Man erhält also, wenn man von Bild zu Bild geht, eine Art Erzählung. Aber eine wirkliche Hilfe ist diese Neuerung nicht: Der Zusammenhang zwischen der Schrift und dem jeweiligen Motiv bleibt in der Regel mysteriös.

Man liest da von Celia Coplestone, die mit ihren Erinnerungen einen Mörder überführen soll. Diese Frauenfigur tauchte auch früher schon bei van Eeden auf und ist T.S. Eliots Stück "Die Cocktailparty" entlehnt. Aber bei van Eeden entfaltet diese Frau genauso ein Eigenleben wie der Botaniker Karl McKay Wiegand, der uns ebenfalls aus einem früheren Zyklus bekannt ist. Dort befehligte er eine Armee, boxte um den Weltmeistertitel und heiratete Liz Taylor.

So führt der Zeichner, unter Verwendung des alten vergessenen Kolportagekrimis, in seinem neuen Zyklus seine früheren Figuren zusammen, auch der Archäologe und Kosmopolit Oswald Sollmann ist wieder mit von der Partie. In der Hamburger "Galerie der Gegenwart" erleben wir somit einen "van Eeden für Fortgeschrittene". Das große Publikum aber wird sich darum nicht kümmern, dem Zeichner vielleicht erstmals begegnen und sich von dessen nachtgeprägtem Bilder-Kosmos unmittelbar faszinieren lassen.

Dabei fällt auf, dass van Eeden hier und da auch farbige Blätter in sein sonst so dunkles Imperium gesetzt hat. Grüne Erbsen sind zu sehen, eine Postkarte mit roter Briefmarke, rohes Fleisch, eine Schachtel mit Konfekt und sogar einige abstrakte Aquarelle hängen an den Wänden. Die Abweichung von dem Gesamtcharakter des Zyklus ist derart groß, dass der gelegentliche Einsatz von Farbe einen tieferen Sinn haben könnte. Aber auch hier sollte man nicht zuviel interpretieren:

"Es wird langweilig. Die Arbeit in Schwarzweiß langweilt mich nach einiger Zeit. Und dann brauche ich etwas Farbe zum Aufhellen. Nach zwei, drei Tagen in Farbe reicht es mir, dann zeichne ich wieder für Monate in Schwarzweiß."

Vorhandene, medial vermittelte Bilderwelten haben sich auch andere Künstler in obsessiver Weise angeeignet, Robert Longo zum Beispiel mit einer Flut von Zeichnungen. Bei van Eeden aber oszillieren diese Arbeiten in einem wunderbaren Spannungsfeld zwischen comichafter Erzählung und "Film noir" und fordern mit ihren narrativen Lücken den Betrachter heraus. Petra Roettig, die Kuratorin:

"Ich habe mich gefragt, was diese Faszination ausmacht. Das hat mit dem Schwarzen zu tun, dieser 'suspense': Es ist immer so eine Spannung da. Man taucht in einen ganz eigenen Kosmos ein und entwickelt unabhängig vom Text Ideen von einer Szene. Und hat immer das Gefühl, es schon mal gesehen zu haben. Kann man aber eigentlich nicht. Und es gibt immer wieder stille, melancholische Momente - wie aus einer alten Zeit, schon ein bisschen abgeblättert und trotzdem ganz präsent."

Ein düsteres Weltgefühl geht von seinen Zyklen aus, sie enthalten mit ihren Brüchen und der Nähe zur populären Medienwelt aber auch genügend Ironie. Van Eeden:

"Die Ironie brauche ich immer, um alles zu relativieren. Sonst wird es zu schwer, zu schwarz. Es muss immer noch ein bisschen Spaß dabei sein."

Sorgen, dass sich der Produktivitätsdrang abschwächen könnte, kennt van Eeden offenbar nicht. Neue Zyklen sind bereits in Arbeit. Vielleicht begegnen wir dann wieder Celia Copplestone oder Karl McKay Wiegand, diesem Hans Dampf in allen kohledunklen Gassen. Und werden wieder rätselnd vor den Blättern stehen und uns nicht von ihnen lösen können.