Arbeitsunfälle

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner

Von Frank Kempe · 29.11.2013
Heute vor 125 Jahren luden sechs Berliner Zimmerleute zu einem "Lehrkursus für Arbeiter für die erste Hilfe bei Unglücksfällen" – sie legten damit den Grundstein für den Arbeiter-Samariter-Bund, eine der größten Hilfsorganisationen Deutschlands.
"Herangehen, die Person ansprechen, ich muss ja erst mal herausfinden, ist sie wirklich bewusstlos."
Ein Erste-Hilfe-Kurs des Arbeiter-Samariter-Bundes in Köln. Die Ausbilderin Claudia Wagner zeigt zwölf Führerschein-Anwärtern an einer Kunststoffpuppe, wie man einen Verunglückten wiederbelebt:
"Dann kommt die Atemkontrolle. Jetzt haben Sie festgestellt, keine Atmung, dann fangen Sie bitte sofort an zu reanimieren."
Erste-Hilfe-Kurse gehören zu den wichtigsten Aufgaben des Arbeiter-Samariter-Bundes, kurz ASB – und mit ihnen beginnt auch die Geschichte der Organisation.
Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts: Millionen Arbeiter schuften für Hungerlöhne in Fabriken, in Bergwerken und auf Baustellen. Maschinen geben den Takt vor. Es gibt zahllose Unfälle, und viele enden tödlich, weil niemand helfen kann. Wenn überhaupt ein Arzt kommt, dann oft zu spät. Sechs Berliner Zimmerleute beschließen, nicht länger tatenlos zuzusehen. Einer von ihnen, Gustav Dietrich, veröffentlicht im November 1888 einen Aufruf im "Berliner Volksblatt":
"Einladung zum Lehrkursus über die Erste Hilfe bei Unglücksfällen. Unterzeichnete beabsichtigen, in den Wintermonaten einen Lehrkursus über die Erste-Hilfe bei Unglücksfällen von einem Arzt zu veranstalten. Zur Teilnahme werden insbesondere die Zimmerleute, Maurer und Bauarbeiter sowie alle Arbeiter, welche sich für die Sache interessieren, ergebenst eingeladen. Zur Deckung der Unkosten ist ein einmaliger Betrag von 25 Pfennigen zu bezahlen.“
100 Männer erscheinen am 29. November 1888 zum Kurs in "Feuersteins Tunnel", einem Arbeiterlokal. Es ist praktisch die Geburtsstunde des Arbeiter-Samariter-Bundes. "Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner" – unter diesem Motto bringt der Arzt Alfred Bernstein den Teilnehmern bei, wie man Verbände anlegt, Blutungen stillt und Verunglückte richtig transportiert.
Keine Sanitäter, sondern Samariter
Der schnell wachsende ASB sieht sich als Teil der Arbeiterbewegung, sympathisiert mit der noch jungen Sozialdemokratie. Das macht seine Mitglieder für die Obrigkeit höchst verdächtig, zumal sie sich "Samariter" nennen, um sich abzugrenzen von den Sanitätern, die im Krieg eingesetzt werden. Der heutige ASB-Vorsitzende und SPD-Politiker Franz Müntefering über die schwierige Zeit im Kaiserreich:
"Da waren kein Staat und keine Stiftungen, die dem ASB geholfen hätten. Der Aufbau, der uns heute so logisch und zwingend erscheint, verlief zäh. Nach 25 Jahren, 1913, gab es 6.000 Mitglieder, aber immerhin doch 108 Kolonnen vor Ort."
Die Samariter-Kolonnen – seit 1909 in einem Bundesverband vereint – helfen bei Unglücken und stehen bei Großveranstaltungen für Notfälle bereit. Eine Neuorientierung erzwingt der Erste Weltkrieg mit seinen einschneidenden Folgen: Der ASB konzentriert sich auf die Sozialarbeit, baut eine Hauskrankenhilfe auf und versorgt notleidende Familien – bis zur Zerschlagung 1933 durch die Nationalsozialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehnt die DDR eine Wiederzulassung des ASB ab. Man schätzt dessen Verdienste, will aber neben dem Roten Kreuz keine weitere Hilfsorganisation. Im Westen kommen die Arbeiter-Samariter dagegen wieder schnell auf die Beine.
Werbespruch des ASB Bremen: (Gong) "Ob zu Haus, auf der Straße, im Büro – lernen auch Sie helfen! Kostenlose Kurse in Erster Hilfe führt durch: der Arbeiter-Samariter-Bund Bremen, Juiststraße 11." (Gong)
Ab den 1960er-Jahren kommen neue Aufgabengebiete hinzu: Altenpflege, Behindertentransporte, mobile soziale Dienste wie "Essen auf Rädern". Später hilft der ASB auch bei Auslandseinsätzen in Katastrophen- und Kriegsgebieten. Nach dem Mauerfall kann sich die Hilfsorganisation auch im Osten Deutschlands etablieren. Doch der Wegfall des Zivildienstes vor drei Jahren erschwert die Arbeit – zudem sorgen Berichte über angebliche Spendensammlungen durch Drückerkolonnen für Aufregung. Der Vorsitzende Franz Müntefering sieht das Kernproblem im steigenden Wettbewerb zwischen den Hilfsorganisationen:
"Wirtschaftlichkeit in Ehren, aber sie kann keinen größeren Stellenwert haben als der Wert des Lebens jedes Einzelnen, der sich rund um die Uhr in ganz Deutschland auf das Blaulicht der Hilfsorganisationen und ihre erstklassige Versorgung verlassen können muss."
Rettungsdienste, Krankentransporte, soziale Einrichtungen ‒ aus dem kleinen Verein der sechs Berliner Zimmerleute ist mit 1,1 Millionen Mitgliedern eine der größten Wohlfahrtsorganisationen Deutschlands geworden.