Arbeitslust ohne Arbeitslast

Von Peter Frei |
Die Nachrichtenagentur hatte das Ergebnis der Umfrage zu folgender Schlagzeile verdichtet: „Fast jeder zweite Deutsche im Job nicht ausgelastet.“ Beim Lesen könnten sich so manche Krankenschwester und mancher Krankenhausarzt die Augen gerieben haben, diesmal allerdings nicht vor Müdigkeit.
Und auch die flinken Kassiererinnen in den Discount-Supermärkten oder die noch verbliebenen Frauen und Männer hinter den Schaltern der Gelben Post mit immer längeren Kundenschlangen davor, sie alle und andere werden nicht schlecht gestaunt haben.

Liest man weiter, dann gibt es Aufklärung. Nach der Umfrage hielten nur 24 Prozent der befragten Deutschen ihre Arbeitsauslastung für in Ordnung. Im Vergleich dazu war die Zufriedenheit bei Niederländern, Franzosen und Norwegern wesentlich höher. Den Deutschen, die sich nicht ausgelastet sahen und durchaus mehr Lust auf Arbeit verspürten, standen laut Umfrage 30 Prozent gegenüber, die sich an ihrem Arbeitsplatz deutlich überlastet sahen. In dieser Gruppe haben sich dann wohl auch unsere Krankenschwester und der Krankenhausarzt wiedergefunden.

Von der Professionalität und Genauigkeit der Umfrage, die von einer der bedeutendsten Online-Jobbörsen, der mit dem Axel Springer Verlag verbandelten Stepstone veranstaltet wurde, kann man ausgehen. In sieben europäischen Ländern wurden rund 8700 Menschen befragt.

Bevor nun einer jener global operierenden Gewinn-Maximierer die Umfrage wie ein Fähnchen schwenkt, und es als begründet sieht, trotz zweistelliger Gewinnprozente vor Steuern noch mal eben 1500 Arbeitsplätze zu streichen oder gar 32000 wie die Telekom plant, sollte die Frage nach den Ursachen gestellt werden.

Kann es vielleicht sein, dass bei der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland Leute sich an Arbeitsplätzen wiederfinden, die sie nur um der Arbeit willen halten, obwohl sie sich von Anspruch und Ausbildung unterfordert fühlen?

Es hat auch etwas mit der Würde zu tun, sich selbst und der Familie gegenüber sowie gegenüber Freunden und Nachbarn, Arbeit, also einen Job zu haben. Das wird gelegentlich übersehen. In diese Kategorie der Nichtausgelasteten fallen auch jene jungen Akademiker, meistens Geisteswissenschaftler, die nach der Uni keine Anstellung finden und sich jetzt von Praktikum zu Praktikum hangeln, mal in einem Schlosserbetrieb, mal im Kaufhaus als Hilfsdienstleister. Und der, der sie beschäftigt, spart am Salär.

Es kann aber auch sein, dass Menschen, die sich nicht ausgelastet fühlen, die mehr arbeiten möchten, dass sie von ihrem Betrieb oder ihrer Behörde nicht an den richtigen Platz gesteuert werden. Es ist obendrein eine belegte Erfahrung von Arbeitspsychologen, dass Menschen an ihrem Arbeitsplatz oft im Stich gelassen werden, keine Motivation durch den Chef erfahren, nicht informiert sind über die Ziele des Unternehmens. Auch dann entsteht schnell der Eindruck der Unterforderung aus dem Gefühl des Alleingelassenseins.

Die Grenzen zwischen ungenügender Arbeitsauslastung und Frust am Arbeitsplatz sind fließend. In Coaching-Seminaren für das mittlere Management wird geradezu eingetrichtert, wie wichtig die Motivation, das regelmäßige Gespräch, die Information über die Ziele des Unternehmens sind. Der Chef, der die Stärken seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mindestens so gut kennt wie deren oder seine eigenen Schwächen wird Chancen haben, Kreativität zu stimulieren und Arbeit aus eigenem Antrieb zu fördern.

Es ist bekannt, dass bei grundsätzlich angemessener und gerechter Bezahlung persönliche Motivation, Einbeziehung in die Planungen der Firma, das Abfragen von Ideen, kurz das Ernstgenommenwerden bei Arbeitnehmern mehr fruchtet als der Aufschlag beim Gehalt, so sehr ein Bonus auch geschätzt werden mag.

Und noch etwas kommt heute hinzu. Mehr und mehr Unternehmen machen Gebrauch von Firmen, die Teilzeitarbeit vermitteln, die neue Generation der Wanderarbeiter. Eine Identifizierung mit dem Betrieb, in dem man gerade arbeitet, ist kaum zu erwarten. Hier geht es allein um die Beschäftigung als solche und den Lohn. Am Abend ist man vielleicht erschöpft, aber nicht ausgelastet im Sinne der Berufung, auf die man sich in der Ausbildungszeit vorbereitete, sofern man eine Ausbildung hatte.


Peter Frei, Jahrgang 1934, war zunächst Redakteur bei der NRZ. 1962 ging er zum Deutschlandfunk und 1967 nach Baden-Baden zum SWF. Er war zehn Jahre lang Korrespondent in London, danach in Bonn, von 1991 an Chefredakteur des SWF und von 1993 bis 1998 sein Hörfunkdirektor.